1957
Sam Cooke

You Send Me

YOU SEND ME (1957), getextet und komponiert von Sam Cooke, ist eines der erfolgreichsten Crossovers schwarzer Gospel-Stars der USA in die Pop Charts Mitte der 1950er Jahre. Im Sog des Rock’n’Roll debutierte damals auch der bis dahin ausschließlich als Gospelsänger bekannte Cooke mit weltlichen Songs für ein ethnisch diverses, junges Publikum. Als YOU SEND ME Song bei Keen Records erschien, begleitete ihn noch die Sorge, damit das Gospel-Stammpublikum zu verärgern. Doch YOU SEND ME wurde zu einem Nr.1-Hit sowohl in den R&B-Charts als auch in den Pop-Charts, der Cooke an die Spitze des Black Pop führte und in den darauffolgenden Jahren zum Wegbereiter der Soul Music machte.

 

I. Entstehungsgeschichte

Für Cooke – der sich bis zum Erscheinen von YOU SEND ME noch ohne e schreiben ließ – bedeutete die Entscheidung, nach erfolgreichen Jahren mit den Soul Stirrers auf weltliche Pop Music zu setzen, kein geringes Risiko. Als “Lovable” bei Specialty erschien, Cookes Debut in der Pop Music (unter dem Pseudonym Dale Cook), und sein Abschied aus der Gospelwelt bekannt wurde, rief das Enttäuschung hervor und sorgte dafür, dass er mehrfach bei Konzerten ausgepfiffen wurde. In der Folge verweigerte ihm Specialty-Inhaber Art Rupe die Produktion weiteren säkularen Materials. Robert Alexander ‘Bumps’ Blackwell, bei Specialty für ihn zuständig, war jedoch von Cookes Potential überzeugt und verhandelte stattdessen mit Keen Records, bis es im Dezember 1956 in New Orleans tatsächlich zu einer ersten Probe-Aufnahme von YOU SEND ME kam, einem Song, den Cooke selbst geschrieben hatte. Die spätere Single-Version entstand ein halbes Jahr später für Keen in Los Angeles, CA, bei Radio Recorders, Hollywood. Cookes Bruder L.C. firmierte dabei als Songwriter, dies aber wohl nur, um Tantiemen zu sichern, an der Entstehung von YOU SEND ME war er nicht beteiligt. Einfluss hatten dagegen Arrangeur René Hall und Blackwell, die u.a. eine angloamerikanische Gesangsgruppe für die Background-Vocals in das Arrangement integrierten, eine Entscheidung, die wesentlich zum ethnisch diversen Appeal der Aufnahme beitrug. Unter den Musikern war auch der namhafte Rock’n’Roll-Drummer Earl Palmer, der auf wichtigen Aufnahmen von u.a. Little Richard, Professor Longhair, Lloyd Price und Fats Domino spielte. Auf der A-Seite der Single war ursprünglich “Summertime” vorgesehen, aber YOU SEND ME erhielt nach der Veröffentlichung im September 1957 schnell mehr Airplay als der Gershwin-Song und erreichte im Dezember schließlich die Spitze der R&B- und der Pop-Charts.

 

II. Kontext

Sam Cooke steht Ende der 1950er Jahre für eine Pop-orientierte Variante afroamerikanischer populärer Musik, an die in den 1960er Jahren unter anderem Motown anknüpfen und sich zur überragenden Black Pop-Hitfabrik aufschwingen konnte. Dabei ist das öffentliche Bild von Sam Cooke (1931–1964) bis heute von Fragen geprägt, die sein nie befriedigend aufgeklärter, gewaltsamer Tod im Dezember 1964 hinsichtlich seines Lebenswandels aufwarf.  Zu Beginn seiner Karriere galt Cooke noch als Inbegriff des “clean-cut, well-mannered Christian” (Wolff 2011: 77). Erst einige Zeit, nachdem Cooke knapp 20-jährig Leadsänger der berühmten Soul Stirrers wurde, erhielt seine Starpersona eine zunehmend sinnliche Aura, die ihn Mitte der 1950er Jahre schließlich zum “first gospel sex symbol” (Cusic 2002: 215) werden ließ. Vor allem weibliche Teenager begannen sich für Cooke zu interessieren und machten einen kommerziell in neue Dimensionen vorstoßenden Erfolg der Stirrers möglich. Nach seinem Abschied von den Soul Stirrers griff Cooke mit YOU SEND ME den vom Rock’n’Roll geprägten Zeitgeist auf, bediente aber gleichzeitig mit diversen Alben auch den euroamerikanischen Erwachsenenmarkt. Deren Repertoire bestand aus Jazzstandards, Popular Songs und üppig arrangierten Spirituals, von denen man sich bei Keen nachhaltigen Erfolg jenseits des als kurzlebig eingeschätzten Teenagermarkts erhoffte. Der jugendliche Popstar verwandelte sich dafür in “the dream of tomorrow’s entertainer” (Philadelphia Tribune 1958, zit. in Wolff 2011: 147) und etablierte, wie die entsprechenden Plattencover illustrieren, eine mit lockerer Freizeitkleidung im Ivy-League-Look assoziierte “loverman-persona” (Borthwick 2004: 5), die auf Cookes erotische Ausstrahlung setzte. Der Erfolg dieser Strategie machte ihn in den Augen mancher Kritiker zum “fake white man” (Talty 2008: 306), der sich bis zur Selbstverleugnung anpasste – während man sich die afroamerikanische Musik immer noch rau, sinnlich und ungekünstelt vorstellen wollte. Dabei war schon Cookes Gospelgesang eine Tendenz zur sanften Crooner-Stimme eigen. Nicht minder als die Rauheit und gepresste Stimmgebung von “Last Mile of the Way”, einem von Cookes größten Gospel-Erfolgen, gehörte der weiche, mikrofonnahe Stimmklang des Stirrers-Hits “(He’s So) Wonderful” zu seinem Personalstil, der für YOU SEND ME dann kaum noch verändert werden musste. Als Cooke auf die anfänglichen Erfolge des Civil Rights Movement und die Veränderungen im afroamerikanischen Selbstverständnis um 1960 reagierte, indem er seine Wurzeln im Gospelgesang reaktivierte und zudem seine Musik über das Label SAR selbst zu vermarkten begann, verkörperte er für seine Fans wie kaum jemand anderes – und in unerreichter Coolness – die gelungene Selbstbehauptung des afroamerikanischen Mannes. Ein wichtiger Grund für solche Brüche liegt dabei zweifellos in Cookes Ringen um ökonomischen Erfolg unter den Bedingungen der 1950er und 1960er Jahre. Dass afroamerikanische Gospel-Ekstase in den Zeiten rassistisch motivierter Übergriffe und Karrieren wie die des späteren Redenschreibers des Gouverneurs von Alabama und zeitweisen Ku-Klux-Klan-Führers Asa Carter keinen Platz im Mainstream hatte, lässt sich gegen die US-Gesellschaft dieser Zeit wenden, kaum aber gegen den vielseitigen Sänger.

 

III. Analyse

YOU SEND ME basiert harmonisch in Strophe und Refrain auf (VI-)II-V-I-Verbindungen, die nur für kurze Momente am Schluss der 2. und 4. Strophe verlassen werden (I-IV-I-V-I). Die zweiteilige Form beruht auf einem Wechsel zwischen 8-taktiger Strophe und 8-taktiger Bridge. Gesanglich knüpft YOU SEND ME an den sanften, Crooning-artigen Vokalstil von Cookes Gospel-Hits “(He’s So) Wonderful” und “Any Way” an. Zu hören ist eine mikrofonnah aufgenommene Stimme in mittlerer Tenorlage (Tonumfang e–g1) mit moderater, gelegentlich auch sehr geringer Lautstärke (z.B. bei 2:09). Der Stimmklang ist wenig geräuschhaft und die Melismen sind entweder als kleine, unauffällige Wechselnoten oder nach dem Muster von Cookes Signature-Ornament gestaltet. Im Gegensatz zu mit Wechselnoten oder Bendings verzierten bzw. decrescendierend ans Phrasenende angehängten Ornamenten, wie sie in der Gospelmusik der 1950er Jahre stark verbreitet waren, handelt es sich dabei um ein voll ausgesungenes Melisma aus einfachen Notenwerten, das Cooke oft auf Silben wie “oh” oder “whoo” sang. Nach YOU SEND ME machte es Cooke zu seinem vokalen Erkennungszeichen und setzte es textunabhängig in vielen seiner Songs ein. Zu den gospeltypischen Elementen von Cookes Vokalstil gehören das Offbeat-orientierte Umspielen und kontrapunktische Variieren der Hauptmelodie, die Wiederholung einzelner Worte oder auch längerer Texteinheiten (“I know, I know, I know”) sowie der Einsatz von Ornamenten, Moans und Silbeninterpolationen. Der ebenfalls nah am Mikrofon aufgenommene Backgroundchor besteht aus mehreren stark verschmelzenden, leise croonenden Stimmen mit wenig Vibrato, hellem Kopfstimmenklang und exakter Intonation ohne hörbare Glissandi. Die Expressivität ist damit sozusagen ins Intime verschoben – das unterstreicht auch das Nähe vermittelnde, leise seufzende Atemgeräusch bei 2:32, das dort den ersten Tönen des Refrains folgt (“you- you-you-you”). Nach dem Ende der ersten Bridge übernimmt der Backgroundchor gemeinsam mit der Gitarre die Hauptmelodie. Cooke nutzt das für ein Call & Response mit dem Gruppengesang, das bis zum Beginn der zweiten Bridge dauert (1:59). Dabei entwickelt er jene kontrapunktische Melodievarianten, die Cookes Gitarrist Clifton White im Rückblick auf die YOU SEND ME-Aufnahmesession hervorhebt: “[He] had a great sense of timing […]. Singing melody and counterpoint at the same time. Carrying a couple of melodies at the same time!” (zit. in Wolff 2011: 127). In permanenter Annäherung und Ablösung vom Tempo der Begleitung setzt Cooke ganze Phrasen vor oder hinter die schweren Taktzeiten. Treffen sich Solo- und Backgroundgesang einmal, etwa zum gemeinsamen Phrasenbeginn, dann nur, um sogleich wieder auseinanderzudriften (Bielefeldt 2015: 408–412).

 

IV. Rezeption

YOU SEND ME, Cookes erster unter eigenem Namen veröffentlichter Song, erreichte als Nachfolger von Elvis Presleys “Jailhouse Rock” im Dezember 1957 die Nr. 1 der Rhythm & Blues- und der Popcharts und verkaufte sich über 1,5 Millionen Mal. Nach dem überraschenden Erfolg seiner Debütsingle wurde Cooke einige Zeit als smarter Teenagerschwarm und ‘You-Send-Me-Kid’ in den Lifestyleblättern diskutiert (Wolff 2011: 150). Dabei verschmolz sein Image als Christ und ehemaliger Gospelstar mit seiner attraktiven Erscheinung. Die Soul- und Jazzsängerin Etta James erinnerte sich später: “As far as sex appeal went, no one had more. He was the original loverboy. Every woman – me included – had the hots for Sam Cooke. He didn’t go hitting on girls; he didn’t have to – they swamped him” (James 2003: 89). Beginnend mit der Promotionstour für YOU SEND ME, entwarfen Cooke und Blackwell zudem ein ethnisch indifferentes ‘all-american image’, aus dem ein öffentliches Bild resultierte, das den gewohnten Vorstellungen von afroamerikanischer Männlichkeit in vielem – etwa hinsichtlich der entspannten Zurschaustellung von Selbstbewusstsein und Erfolg – widersprach (Bielefeldt 2015: 411). 1963 war YOU SEND ME Teil der später als Live-Mitschnitt veröffentlichten Show Cookes vor einem überwiegend euroamerikanischen Publikum im Copacabana, New York. YOU SEND ME ist vielfach gecovert worden, noch im Oktober 1957 entstand eine Version von Teresa Brewer, die sich auf R&B-Coverversionen spezialisiert hatte. Signal eines sich verändernden Musikmarkts, übertrumpfte Cookes Original jedoch Brewer insgesamt bei weitem. Mitte der 1950er Jahre waren angloamerikanische Cover-Versionen von R&B-Hits oft kommerziell erfolgreicher gewesen als ihre Vorlagen, ohne dass diese dafür entschädigt worden wären. Weitere Cover-Versionen haben u.a. folgende namhafte Acts produziert: Roy Ayers, Nat King Cole, The Drifters, The Everly Brothers, Dixie Chicks, Aretha Franklin, Whitney Houston, Steve Miller Band, Van Morrison, Otis Redding, Sam & Dave, Percy Sledge, Rod Stewart und The Supremes. YOU SEND ME ist als einer der 500 wichtigsten Rock’n’Roll-Aufnahmen sowohl Teil der vom Rolling Stone initiierten Liste der 500 Greatest Songs of All Time als auch der Rock’n’Roll Hall of Fame.

CHRISTIAN BIELEFELDT


Credits

Vocals: Sam Cooke
Guitars: Clifton White, René Hall
Bass: Ted Brinson
Drums: Earl Palmer
Backing Vocals: Lee Gotch, The Pied Pipers
Songwriting: Sam Cooke
Arrangement: René Hall
Producer: Robert ‘Bumps’ Blackwell
Sound engineer: Bob Kidder
Label: Keen Records
Recorded: 01.06.1957
Published: 07.09.1957
Length: 02:41

Recordings

  • Sam Cooke. “You Send Me”. 1957, Keen 34013, USA, 7” Single.
  • Sam Cooke / Bumps Blackwell Orchestra. “You Send Me”. On: Songs By Sam Cooke, 1958, Keen A-2001, USA, LP.
  • Sam Cooke. “You Send Me”. On: Sam Cooke At The Copa, 1964, RCA Victor LSP-2970, USA, LP.
  • Sam Cooke. “The Last Mile Of The Way / Must Jesus Bear The Cross Alone”. 1971, Specialty 921, USA, 7” Single.
  • Sam Cooke. “(He’s so) Wonderful”. On: Wonderful, 2007, Not Now Music NOT2CD2020, Europe, CD.
  • Sam Cooke & The Soul Stirrers. “Any Way2. On: Here’s Sam Cooke, 2008, SI 905658, CD.
  • Elvis Presley. “Jailhouse Rock”. On: Jailhouse Rock, 1957, RCA Victor EPA-4114, USA, 7” EP.

Covers

  • Roy Ayers. “You Send Me”. On: You Send Me. 1978, Polydor PD-1-6159, USA, LP.
  • Teresa Brewer. “You Send Me”, 1957, Coral 9-61898, USA, 7” Single.

References

  • Bielefeldt, Christian: ‘Bring It On Home to Me’. Anfänge des Soulgesangs. In: Stimme Kultur Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA, 1900-1960. Ed. by Martin Pfleiderer, Tilo Hähnel, Katrin Horn, Christian Bielefeldt. Bielefeld, 371–424.
  • Borthwick, Stuart/Ron Moy. Popular Music Genres. An Introduction. Edinburgh 2004.
  • Cusic, Don. The Sound of Light: A History of Gospel and Christian Music. Milwaukee 2002.
  • James, Etta/David Ritz. Rage to Survive. The Etta James Story. Philadelphia 2003.
  • Guralnick, Peter: Dream Boogie. The Triumph of Sam Cooke. New York 2005.
  • Talty, Stephan. ‘Lost and Looking’. In: First of the year. Ed. By Benj DeMott. New Brunswick 2008, 305–314.
  • Wolff, Daniel. The Life and Times of Sam Cooke (with S. R. Crain, Cliff White and G. David Tenenbaum). London 2011.

About the Author

Dr. Christian Bielefeldt works as a music teacher in Zurich.
All contributions by Christian Bielefeldt

Citation

Christian Bielefeldt: “You Send Me (Sam Cooke)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://songlexikon.de/song/you-send-me, 03/2023.

Print