1955
Little Richard

Tutti Frutti

Auf der A-Seite seiner ersten Specialty-Single (1955) adressierte ‘Little’ Richard Penniman aus New Orleans seine Musik erstmals an ein ethnisch diverses Massenpublikum. TUTTI FRUTTI wurde zu einem seiner größten Hits und stürmte auch außerhalb der USA die Charts. Im selben Jahr wie der Film Blackboard Jungle erschienen, der Bill Haleys “Rock Around the Clock” weltweit bekannt machte, spielte er im Jahr vor Elvis Presleys “Heartbreak Hotel” noch eine Nebenrolle im anlaufenden Rock’n’Roll-Hype, entwickelte sich bald aber schon zu einem der einflussreichsten Rock’n’Roll-Songs überhaupt.

 

I. Entstehungsgeschichte

TUTTI FRUTTI ist das Resultat von Aufnahme-Sessions am Nachmittag des 14. September 1955 im J&M-Studio in New Orleans. Unter der Leitung von Produzent Robert ‘Bumps’ Blackwell waren neben Little Richard renommierte New Orleans-Musiker wie u.a. Earl Palmer, Alvin ‘Red’ Tyler und Lee Allen beteiligt, die zum Kern der Band von Fats Domino gehörten. Um die Entstehung eines der wichtigsten frühen Rock’n’Roll-Songs ranken sich viele Anekdoten, deren Wahrheitsgehalt schwer zu ermitteln ist. Demnach erfand Richard TUTTI FRUTTI während eines Gelegenheits-Jobs als Wärter einer Bus-Station, oder als Tellerwäscher irgendwo im Süden der USA. Laut Richards autorisierter Biografie gehörte der Song schon länger zum Live-Repertoire für Clubs mit überwiegend angloamerikanischem Publikum, bevor es zur Aufnahme kam (White 2003:49ff.). Von White stammt auch der Bericht, Richard habe mit dem berühmten Anfangs-Shout des Songs (“Wop-bop-a-loo-bop-a-lop-bam-boom!”) ursprünglich ein Schlagzeug-Pattern imitiert (ebd.). In dem später für die Single ausgewählten Take sei dieses dann zugunsten des unbegleiteten vokalen Auftakts weggelassen worden. Der Song war zunächst nicht für die geplanten Sessions vorgesehen, erst im Laufe des Tages fassten Blackwell und Richard den Entschluss, von der bisher dahin produzierten, auf das schwarze Publikum von Specialty zugeschnittenen Stilistik abzuweichen (Gulla 2008: 34; Palmer 2009: 138). Inspiriert von vokalen Spontan-Improvisationen Pennimans in einer Probenpause, wagten sie sich stattdessen an etwas Exaltierteres. Einer Aufnahme stimmte Blackwell allerdings erst zu, als eine zweite Songwriterin, die aus New Orleans stammende 21jährige Dorothy LaBostrie, als zu explizit eingeschätzte Textzeilen entschärfte. So hieß “aw rootie”, der Reim zu “tutti frutti”, in der unzensierten Version noch “good booty” (White 2003: 55; Medovoi 2005: 113). Eher unwahrscheinlich ist, dass LaBostrie für den ganzen Songtext verantwortlich ist, wie es manchmal zu lesen ist. Ob der Pianist Huey Smith an der Aufnahme mitwirkte, wie manche Quellen behaupten, erscheint ebenso zweifelhaft. Wahrscheinlich übernahm Little Richard vielmehr den Klavierpart selbst. Als gesichert darf gelten, dass TUTTI FRUTTI Anfang November 1955 in einer Fassung von 2:25 Minuten Länge mit der B-Seite “I’m Just a Lonely Guy (all Alone)” auf Specialty 561 veröffentlicht wurde.

 

II. Kontext

Mitte der 1950er Jahre löste eine an Jugendliche adressierte Welle von Crossover-Hits eine Diversifizierung und Demokratisierung des bis dahin ethnisch weitgehend segregierten US-amerikanischen Musikgeschäft aus. Ausgehend von neuen, kleinen Plattenfirmen und Radiosendern mit afroamerikanischen Musikprogrammen entstand eine ethnisch durchmischte, sich über die Subversion gesellschaftlich normierter Erwartungen definierende Jugendkultur. Die Tatsache, dass schwarze Sänger plötzlich zu Idolen nicht nur für Afroamerikaner*innen werden konnten, war kontrovers, aber nicht mehr aufzuhalten. Drei Jahre nach TUTTI FRUTTI schafften es bereits 90 % der Hits in den R&B-Charts auch in die Pop-Hitlisten. Umgekehrt wurden 37% der Nummer-eins-Hits in den R&B-Charts 1957–58 von weißen Sängern interpretiert (Bielefeldt 2017: 25–26). Dabei waren der rebellische Grundton und die sexuelle Provokation nicht zuletzt eine mediale Zuschreibung, ausgelöst durch Abwehrreflexe konservativer Institutionen und verstärkt durch euroamerikanische Jugendliche, die den Rock’n’Roll auf der Suche nach Abweichung auf eine hypersexuelle, instinkthafte Charakteristik reduzierten (Ward 1998: 111). Dennoch kam es im Kontext der Widerstände gegen afroamerikanische Bürgerrechtsaktivitäten im US-amerikanischen Süden zu gewaltsamen Aktionen gegen den Rock’n’Roll. Aufgestachelt wurden diese durch Anhänger ethnischer Segregation wie u.a. den Ku-Klux-Klan-Chef Asa Carter. Dieser kritisierte “this vulgar, animalistic Negro rock and roll bop” und nahm “the obscenity and vulgarity of the rock and roll music” (Asa Carter 1956, zit.in Bertrand 2005: 163) zum Anlass für seine Aufrufe zum ‘Rassenkampf’. Little Richard bot sich hier besonders als Feindbild an. Er praktizierte gleichermaßen fundamentalistische Religiosität und promiskuitive Sexualität, unterbrach zweimal längere Zeit seine Karriere, um Theologie zu studieren beziehungsweise sich evangelikalen Predigern anzuschließen und stand aufgrund seines Auftrittsstils, seiner vieldeutigen Texte und diverser, teilweise mit Haft­strafen geahndeter Skandale im Zusammenhang mit sexuellen Delikten dennoch im Fokus der Kritik an der moralischen Verworfenheit des Rock’n’Roll.

 

III. Analyse

TUTTI FRUTTI besteht aus drei Strophen, in denen in spielerisch-lautmalerischen Schlagworten von reizvollen Girls erzählt wird, und fünf Refrains, in denen sich der Text jeweils auf den Titel-Reim beschränkt (“Tutti frutti – aw rooty”). In einer weiteren Strophe erklingen instrumentale Soli. Harmonisch basiert der Song auf zwei Varianten der 12-taktigen Blues-Form, die sich nur am Schluss, genauer in den Takten 9-12, voneinander unterscheiden: Während der Refrain mit der charakteristischen, aus zahlreichen Blues- und Rhythm&Blues-Nummern bekannten V-IV-I-Akkordfolge schließt (C/Bb/F/F), folgen in der Strophe vier weitere Takten in F, also auf der I. Stufe. Von den vielen mit Shuffle-Begleitung versehenen Rhythm & Blues-Songs der 1950er Jahre hebt sich der Song durch eine weitgehend binäre Metrik ab, in die Stimme und Instrumente allerdings immer wieder einzelne ungleiche, annähernd ternäre Achtelfiguren mischen. Stimmlich dominieren ein lautes Shouting mit Übergängen zum Screaming, der Einsatz von Ornamenten und Falsetttönen sowie ein permanentes Wegbrechen und Sich-Überschlagen des Stimmklangs. Dynamik und stimmlicher Krafteinsatz bewegen sich dabei fast durchgängig auf demselben hohen Niveau. Die Stimmgebung ist gepresst und das Mitschwingen der Taschenfalten deutlich hörbar (z.B. am Anfang des Auftakt-Shouts). Abgesehen von den Falsett-Tönen, hat die Gesangsmelodie einen Tonumfang von nicht mehr als einer Quinte. Sie setzt sich aus einer Folge rhythmisch treibender Akzente zusammen, die von der Artikulation her zwischen Legato und Staccato angesiedelt sind. Diese Orientierung an einer zwischen Ruf und Schrei pendelnden Stimmgebung sowie einem rhythmisch perkussiven Einsatz der Stimme bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust des melodischen Ausdrucks ist eines der wichtigsten Merkmale von Richards Vokalstil. Dabei bilden die beiden exponiertesten Screams Intensitätshöhepunkte, die gleichzeitig Formteile markieren. Als neues Element in Little Richards Musik, das TUTTI FRUTTI einführt, darf das plötzliche, hohe Falsett-‘woo’ gelten, das später zum Markenzeichen seiner Songs geworden ist. Weitere Merkmale sind Töne mit stufenlos steigender (z. B. “wop-bop”; “know just”; “girl”; “almost drives”; “indeed”) oder sinkender Tonhöhe (“east”; “daisy”; letztes “boom”) und virtuose, abwärts von einem hohen Ton aus nach unten führende Melismen, die an den akzentuierten, auf den Schlag erscheinenden Spitzenton einer Melodiephrase angehängt sind. Diese Ornamente haben als verzierte Wiederholung eines zuvor gesungenen Wortes eine bekräftigende, ausdruckssteigernde Funktion. Damit ist die mikromelodische Variation, ein sowohl in der Gospel Music als auch im Rhythm & Blues-Gesang präsentes Stilmittel, ebenfalls den zentralen Merkmalen des Vokalstils von Penniman zuzurechnen (Bielefeldt 2015: 341–48).

 

IV. Rezeption

Gemeinsam mit Chuck Berrys “Maybellene” (1955) gehört TUTTI FRUTTI zu den ersten großen Crossover-Erfolgen schwarzer Acts in den US-Pop-Charts und nachfolgend auch in Europa. Dabei wurde der Song aufgrund des als anstößig empfundenen Texts zunächst von vielen US-Radio-Stationen kaum gespielt. Die Plattenverkäufe machten Little Richard dennoch zu einem der erfolgreichsten Rock’n’Roll-Musiker der 1950er Jahre. Im November 1955 veröffentlicht, erreichte der Song im Januar 1956 Platz 2 der Rhythm & Blues-Charts, schaffte den Crossover in die Popcharts (Nr. 17) und auch in die britischen Charts (Nr. 29). Wie Mitte der 1950er Jahre im US-Musikgeschäft üblich, wurde TUTTI FRUTTI schon bald nach seinem Erscheinen von mehreren angloamerikanischen Sängern gecovert, darunter auch vom White-Cover-Spezialisten Pat Boone. Dessen noch im Dezember 1955 publizierte Version ist ein Beispiel für eine ‘weiße’ Coverversion eines R&B-Stücks, die das afroamerikanische Original in den US-Hitparaden zunächst überflügelte (Pop-Charts Nr. 12) und in diesem Fall sogar weltweit vertrieben wurde, ohne dass dessen Urheber dafür finanziell entschädigte worden wäre (Releases 1955–56 u.a. in England, Deutschland, Australien, Neuseeland und Kanada). Allerdings überholte Richards Aufnahme Boones heute weitgehend vergessene Version bald wieder in der Publikumsgunst. Das gilt auch für Elvis Presleys 1956 aufgenommene, als B-Seite von “Blue Suede Shoes” (Pop Charts Nr. 20) nur mäßig erfolgreiche Version. Im Gegensatz zu Boone orientiert sich Presley trotz deutlicher Temposteigerung eng am Original. Das höhere Tempo führt bei ihm allerdings zu einer derartigen Beschleunigung der detailgetreu imitierten Gospel-Ornamente Richards, dass diese ein Stück weit (selbst-)parodistisch anmuten. Weitere Coverversionen stammen von Carl Perkins, Cliff Richard, Johnny Halliday, Queen, The Chipmunks u.a. TUTTI FRUTTI rangiert als Nr. 1 auf der vom Mojo Magazine erstellten Liste der “Top 100 Records That Changed the World”. Der Rolling Stone führt es als Nr. 43 seiner 2011 erstellten Liste der “500 Greatest Songs of All time”.

CHRISTIAN BIELEFELDT


Credits

Vocals, Klavier: Little Richard
Gitarre: Justin Adams
Tenor sax: Lee Allen
Baritone sax: Alvin Tyler
Double bass: Frank Fields
Drums: Earl Palmer
Songwriting: Richard Penniman, Dorothy La Bostrie
Producer: Robert Blackwell
Label: Specialty Records
Recorded: 14. September 1955
Published: November 1955
Length: 2:25

Recordings

  • Little Richard. “Tutti Frutti”, 1955, Specialty XSP-561, USA (7”, 45rpm Vinyl-Single, 10” Vinyl-Single, 10” Shellack Single), Re-edited 1957. On: Here’s Little Richard, 1957, Specialty SP-100. Re-edited 1961, 1962, 1963, 1964, 1968, 1970, 1963, 1979, 1985, 1986, 1987, 1989, 1993, 2005, 2008, 2009, 2011, 2012, 2014, 2015, 2017, 2020.
  • Chuck Berry and his Combo. “Maybellene / Wee Wee Hours”. 1955, CHESS 1604, USA, 7” Vinyl-Single (45rpm).
  • Bill Haley and his Comets. “Rock Around The Clock”. On: “Thirteen Women (And Only One Man In Town) / Rock Around the Clock”, Decca 9-29124, USA 1954.
  • Elvis Presley. “Heartbreak Hotel”. RCA Victor EPA 821, USA 1956, 7” EP.

Covers

  • Pat Boone. “Tutti Frutti”. 1955, Dot Records 15442, USA, 10” Shellac, 7” Vinyl-Single.
  • Carl Perkins. “Tutti Frutti”. On: Whole Lotta Shakin’, Columbia CL 1234, 1958, USA, LP.
  • Elvis Presley. “Tutti Frutti”. On: “Blue Suede Shoes / Tutti Frutti”, 1956, RCA Victor 47-6636, USA, 7” Vinyl-Single.
  • Johnny Halliday. “Tutti Frutti”. On: Tutti Frutti, Disques Vogue, Vogue Productions EPL 7 860, Frankreich, 1961, 72 EP.
  • Cliff Richard. “Tutti Frutti2. On: Rock’n’Roll Silver, USA, 1983, LP.
  • Queen. “Tutti Frutti”. On: At Wembley, Picture Music International MVP 9912593, Europe, 1990, Video VHS, PAL.
  • The Chipmunks. “Tutti Frutti”. On: Rockin’ Through The Decades, EMI CDP-7-95355-2, USA 1990, CD.

References

  • Bertrand, Michael: ‘I Don’t Think Hank Done It That Way’. Elvis, Country Music, and Southern Masculinity. In: A Boy Named Sue. Gender and Country Music. Ed. by Kristine M. McCusker and Diane Pecknold. Jackson 2004, 59–85.
  • Bielefeldt, Christian: Rock’n’Roll-Gesang bei Little Richard, Chuck Berry und Elvis Presley. In: Stimme Kultur Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA, 1900-1960. Ed. by Martin Pfleiderer, Tilo Hähnel, Katrin Horn, Christian Bielefeldt. Bielefeld 2015, 335-370.
  • Bielefeldt, Christian: Rock’n’Roll. In: Handbuch Popkultur. Ed. by Thomas Hecken, Marcus S. Kleiner, Stuttgart 2017, 25-30.
  • Gulla, Bob: Icons of R&B and Soul. An Encyclopedia of the Artists who Revolutionized Rhythm. Westport 2008.
  • Medovoi, Leerom: Rebels. Youth and the Cold War Origins of Identity. Durham 2005.
  • Palmer, Robert: The Originators: ‘Where the Hell Did This Man Come From?’. In: Blues & Chaos. The Music Writing of Robert Palmer. Ed. by Anthony DeCurtis. New York 2009.
  • Peterson, Richard A.: Why 1955? Explaining the Advent of Rock Music. In: Popular Music 9/1 (1990), 97-116.
  • Ripani, Richard J.: The New Blues Music. Changes in Rhythm & Blues, 1950-1999. Jackson 2006.
  • Ward, Brian: Just My Soul Responding. Rhythm and Blues, Black Consciousness, and Race Relations. Berkeley 1998.
  • White, Charles: The Life and Times of Little Richard. The Authorised Biography. London 2003.

Films

  • Blackboard Jungle. Regie, Drehbuch: Richard Brooks. Metro-Goldwyn-Mayer, 1955.

About the Author

Dr. Christian Bielefeldt works as a music teacher in Zurich.
All contributions by Christian Bielefeldt

Citation

Christian Bielefeldt: “Tutti Frutti (Little Richard)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://www.songlexikon.de/songs/tutti-frutti, 03/2023.

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