Das Ausgangsmaterial des hier vorgestellten Songs – ein melanesisches Wiegenlied (“Rorogwella Lullaby”) von den Solomon Islands –hat weitere Künstler bzw. Musiker inspiriert und Eingang in deren Songs (z.B. instrumentales Arrangement von Jan Garbarek auf Visible Album 1995) und Tracks (komodo von DJ Mauro Picotto The Album 2000, kurze Samples auf flying foxes, Album: Play – The B-Side von Moby 2005) gefunden.
In akademischen Kreisen bekannt geworden ist dieser Song vor allem, weil der Schweizer Musikethnologe Hugo Zemp, dessen Aufnahmen aus den 1970er Jahren von Deep Forest zu Beginn der 1990er Jahre ungefragt verwendet wurden, lange bevor illegale Downloads die Debatten um Urheberrecht und musikalische Kreativität im Zeitalter der Digitalisierung anheizen, eine heftige Diskussion zu Fragen von Autorschaft, Gerechtigkeit und der Rolle der global agierenden Musikwirtschaft angestoßen haben.
I. Entstehungsgeschichte
1996 hatte Hugo Zemp sich mit folgenden Worten an die Musiker von Deep Forest gewandt: “Sirs, On your disc Deep Forest you used a sample from a recording wich I made in the Solomon Islands and had published on the disc Solomon Islands: Faleka and Baegu Music of Malaita, originally issued in the UNESCO Collection Musical Sources by Philips and re-issued by Auvidis-UNESCO. You usurped my name in declaring that your enterprise had my support; I never gave you my permission for this recording. […] The piece which you entitled ‘SWEET LULLABY’ which you improperly credited as your composition, stealing the tune which belongs to the Baegu People of Malaita […] has become an international success. […]” (Zemp 1996: 48). Was war genau passiert? Eric Mouquet und Michel Sanchez – Musiker und Produzenten des französisch-belgischen Popduos Deep Forest – experimentierten Anfang der 1990er Jahre mit Samples musikethnologischer Aufnahmen aus verschiedensten Regionen der Welt, u.a. Afrikas und Ozeaniens. Intros, Fill Ins oder Drumloops aus Gesangssamplen z.B. aus dem westafrikanischen Benin oder von Pygmäen Äquatorialafrikas bildeten das ästhetisch-klangliche Material mit dem sich das Duo in den Repertoiresegmenten World Music, New Age und Electronic Dance Anfang der 1990er Jahre insbesondere in Europa aber auch in den USA, Australien und Japan einen Namen machen konnte. Für ihr Album Boheme (1995) erhielten sie 1996 den Grammy in der Kategorie Best World Album, ihr erstes Album Deep Forest (1992, darauf u.a. der Song SWEET LULLABY) war 1993 für den gleichen Preis nominiert.
Im Jahr 1973 lag der Song bereits als Schallplattenaufnahme vor, herausgegeben von UNESCO Collection Auvidis. Für die Serie Musics and Musicians of the World hatte Hugo Zemp die Aufnahmen zur Verfügung gestellt, vertraglich geregelt zwischen dem French National Center for Scientific Research, in dessen Auftrag Hugo Zemp Ende der 1960er Jahre auf Forschungsreisen auf die Salomoninseln war. Im Jahr 1990 wurden die Aufnahmen erneut, diesmal auf CD veröffentlicht (Auvidis/IICMSD/UNESCO 1990). Der für diese Kollektionen verantwortliche Vertreter der UNESCO wurde von Sony Music France kontaktiert und bat seinerseits Hugo Zemp um dessen Zustimmung, einige “Proben” (Samples) für die Verwendung und Bearbeitung durch Deep Forest freizugeben. Zemp stand dieser Anfrage zunächst ablehnend gegenüber, ließ sich dann aber von dem aus Kamerun kommenden Musiker, Komponisten und für die Reihe verantwortlichen Francis Bebey umstimmen. Bebeys Argumente, dass dadurch die eher unbekannten Musikformen der Welt ein größeres, vor allem weit über musikethnologisch interessierte Kreise hinaus reichendes Publikum erhalten würde, ließen Zemp einwilligen. Niemand jedoch hatte ihn auf das Wiegenlied von der Insel Malaita angesprochen (vgl. Mills 1996). Insbesondere dieser Song aber wurde äußerst erfolgreich. 1992 verkauften sich allein in Frankreich 100.000 Alben, 2 Millionen weltweit. Der Song war 25 Wochen in den Amerikanischen Billboard-Charts und wurde für Werbespots von Porsche, einem französischem Haarshampoo und der internationalen Marke Nutella lizensiert. Den Zuschauern des deutschen Privatfernsehens RTL wurde der Song als Hintergrundmusik für die Fußballsendung Anpfiff bekannt.
II. Kontext
Der Song SWEET LULLABY von Deep Forest konnte zur Zeit seiner Veröffentlichung mindestens zwei Zielgruppen ansprechen. Da waren zum einen die Käufer/innen des Repertoiresegments World Music / New Age und zum anderen diejenigen von elektronischer Musik bzw. Dance orientierten elektronischen Tracks. War es zum einen die Exotik der fremden Klänge, einer fremden Sprache und die Rhetorik der “Eine-Welt-Betroffenheit” bzw. “Schützt-den-Regenwald-Attitüde”, wie sie von den World Music Fans in Europa – hier insbesondere Frankreich, Deutschland, Schweiz – erwartet und erhofft wurde, sprachen die – wenn auch nicht vordergründig verwendeten – elektronischen Beats wie auch die synthetische Anmutung und elektronisch optimierte Produktion der Songs jüngere, technoaffine Generationen an. Beide Gruppen konnten auf je eigene Weise ihre Wünsche und Sehnsüchte in den Sound bzw. auf den Song projizieren. “Beseelte” Sounds bzw. Samples standen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre in der Gunst des Publikums. Die Technik des digitalen Soundsamplings war zehn Jahre nach seiner technischen Einführung soweit ausgereift, dass jeder x-beliebige Sound reproduziert werden konnte und man keinerlei akustische Unterschiede mehr zwischen Original (“Rorogwella Lullaby”) und Kopie (Sample ausgewählter Passagen von “Rorogwella Lullaby”) hören konnte.
Das offenbar erhebliche Potential des Songs als Soundtrack für ganz unterschiedliche Produkte lässt sich aus der historischen Distanz von knapp 20 Jahren kaum noch rekonstruieren. Hier ist allerdings davon auszugehen, dass das Management sehr erfolgreich bei der Lizensierung des Songs war. 1993 wurde Deep Forest zunächst durch ein französisches Label, dann durch die französische Dependance von Sony, im Jahr 1999 schließlich von Sony Music Entertainment vertreten. Dieser Aufstieg ins globale Musikgeschäft spiegelt schließlich auch das Wertschöpfungs- bzw. Verwertungspotential des Projektes bzw. des Songs, den Deep Forest noch 1999 während seiner Stadien füllenden internationalen Tourneen im Repertoire hatten und der vom Publikum – z.B. in Japan – frenetisch gefeiert wurde.
III. Analyse
Die Album-Version des Songs SWEET LULLABY (Besetzung: Keyboard, Synthesizer, Sampler, Bass, Drums) entspricht einem “klassischen” Strophe-Refrain-Modell, wird mit einem instrumentalen Intro begonnen und endet im Fade-Out. Das mehrtaktige Sample der Frauenstimme aus Malaita (“Rorogwella Lullaby”) erklingt in jeder Strophe, in der ersten einstimmig (quasi im Original), in der zweiten harmonisiert durch hinzugefügte zweite und dritte Stimme und in der dritten Strophe schließlich dominiert von einem im westlichen Stil komponierten harmonischen Satzgesang. Die Harmonien pendeln zwischen Tonika- und Subdominantklängen, streng dominantische Führungen bleiben ausgespart. Der rhythmisch-metrische Verlauf ist unaufdringlich geradzahlig. Das Soundbild ist neben der oben genannten Besetzung durch transparente Keyboardteppiche, Flötenklänge – in Anlehnung an die damals sehr beliebte hauchige japanische Sakuhatschi – und Sampleloops gekennzeichnet. Hall- und Delay-Funktionen wurden in der Produktion fortwährend verwendet. Sie erzeugen einen weiten, teils magisch-geheimnisvollen Raum. Die eigenwillige Frauenstimme/das Sample (aus einer fernen Welt) übernimmt die Rolle eines Earcatchers.
Deep Forest hatte aus der digital bearbeiteten Neuauflage der UNESCO-CD gesampelt, einem “Ausgangssignal” bzw. Original, das technisch gesehen bereits mehrere Formatwandlungen auf Seiten des Speichermediums (Tonträger) durchlaufen hatte und somit eine Kopie (des Vinyls) der Kopie (der Tonbandaufnahme) darstellt. Das Sample in SWEET LULLABY wird von den Hörer/innen als verlustfreie Kopie von “Rorogwella Lullaby” wahrgenommen, wenn sie überhaupt von der Existenz des ethnologischen Materials wissen(!). Es erscheint als “Ganzkörpersample”, ganz so als wäre ein längerer Abschnitt des Ausgangsmaterials ausgewählt, herausgelöst und in unveränderter Form im Sinne geklonten Medienmaterials kopiert worden. In letzter Konsequenz erweist sich diese Annahme jedoch als Täuschung, die dem analytischen Hören und der technischen Beweisführung nicht standhält. Eine 16-taktige Passage (ca. 40 Sekunden) des “Rorogwella Lullaby” erscheint quasi als Original in den drei Strophen von SWEET LULLABY. Untersucht man den Verlauf dieser Sample-Passage etwas genauer, gliedert ihn z.B. in acht zweitaktige Takes (jeweils ca. 5 Sekunden), dann wird deutlich, dass auch Deep Forest vermutlich das Ausgangsmaterial in zweitaktige Takes zerschnitten und einzelne Sequenzen – die im Original nicht aufeinander folgen – montiert hat. Ein solches Selektionsverfahren ist klangtechnisch und gestaltungstechnisch motiviert. Die Sängerin des “Rorogwella Lullaby” macht beispielsweise zwischen den einzelnen Passagen hörbare Atempausen, sie gerät geringfügig außer Takt, verschluckt manche Passagen oder singt andere mit besonderer Emphase. In manchen Textpassagen überwiegen Konsonanten und Knacklaute, so dass die gesungene Melodie kaum mehr hörbar ist. Ihren spezifischen Charakter erhält die solistische Frauenstimme durch angeschliffene, aber konkrete Tonhöhen und Pentatonik ohne Quarte und große Septime mit einem Tonvorrat von A-H-e-fis-a. Eigentlich verbietet sich eine solche Darstellungsform anhand von europäischen Tonhöhenbezeichnungen temperierter Stimmungsverhältnisse, weil der ‘Are’are-Stamm in seinen musikalischen Praktiken keine temperierte Stimmung in diesem Sinne verwendet. Da das Wiegenlied jedoch in das westeuropäische Form-, Rhythmus- und Harmoniemodell eingepasst wurde, mag diese Interpretation erlaubt sein.
Für SWEET LULLABY wurden diejenigen Teile des geschnittenen Ausgangsmaterials aneinander montiert, die einen flüssigen, leichten und dennoch im Sinne eines westeuropäischen Harmonieverlaufes spannungsreichen Verlauf der Strophe gewährleisten. Bis auf geringfügige metrische Anpassungen und die Verwendung eines rhythmisch getakteten Echos bedurfte es keiner weiteren technischen Maßnahmen.
Im Zuge der Veröffentlichung des Songs wurde selbstverständlich auch ein Musikvideo produziert. Es zeigt einen kleinen farbigen (aus Afrika stammenden), traditionell gekleideten Jungen, der sich aus der trockenen Wüste in den Regenwald träumt. Weitere im Umfeld produzierte Musikvideos zeigen ein kleines Mädchen, dass auf einem Dreirad um die imaginierte Erdkugel fährt und dabei den Angst einflößenden Wahrzeichen der Zivilisation (Raketenstarts, Chinesische Mauer, Moskauer Kreml, Manhattan, eiserne, rostige Schiffswracks im indischen Ozean vor Pakistan) begegnet.
IV. Rezeption
Wie oben bereits angedeutet, taucht das Wiegenlied aus Malaita nicht allein im Song von Deep Forest auf. Besonders prägnant, wiewohl nicht als Sample, sondern als von einer westlichen Frauenstimme präsentiert, die Verwendung in der Album-Version des Tracks “komodo” von Mauro Picotto, einem italienischen DJ, der für diesen Track im Jahr 2000 den German Dance Award, einen Medienpreis für Dance-Music, Clubkultur und Lifestyle (ausgelobt von VIVA und N-Joy-Radio) erhielt. Mitten in diesem typischen Dance-Track (erfolgreich geworden v.a. in Großraumdiskotheken und im Repertoiresegment Euro-Dance in Deutschland, Österreich und der Schweiz) der Form A B A‘ erscheint das “bekannte” Lied wie eine Art Chill-Out-Zone zwischen den energiereichen Aufschichtungen dichter elektronischer Drum-Pattern.
In einem damals bei Radio Fritz des Ostdeutschen Rundfunk Brandenburgs geführten Interview mit Mauro Picotto durfte dieser jede Frage beantworten, nur nicht die nach der Herkunft des Liedes, so berichtet der Moderator im persönlichen Gespräch mit der Verfasserin.
SUSANNE BINAS-PREISENDÖRFER
Credits
Autoren: Eric Mouquet/Michel Sanchez
Produzent: Dan Lacksman
Label: Dance Pool
Jahr: 1992
Recordings
Deep Forrest. “Sweet Lullaby”. On: Sweet Lullaby (5 Remixes), 1993, Dance Pool, DAN 658168 5, 14-658168-19, Europe (CD, Maxi).
Deep Forrest. “Sweet Lullaby”. On: Sweet Lullaby, 1993, Columbia, 659924 2/ COL 659924 2, Europe (CD, Maxi).
References
- Baumann, Max Peter: Zwischen Globalisierung und Ethnisierung. Zur Musik der offenen Regionen. In: Kultur und Region im Zeichen der Globalisierung – Positionspapiere. Ed. by Sefik Alp Bahadir. Erlangen: Zentralinstitut für Regionalforschung 1998, 94-108.
- Binas, Susanne: Pieces of Paradise – von der Südseeinsel Malaita in die europäischen Dancecharts. In: Musikwissenschaft und populäre Musik. Versuch einer Bestandsaufnahme (= Jahrbuch für Musikwissenschaft 19). Ed. by Helmut Rösing, Albrecht Schneider and Martin Pfleiderer. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien: Peter Lang 2002, 187-197.
- Binas, Susanne: Echte Kopien – Sound-Sampling in der Popmusik. In: OriginalKopie – Praktiken des Sekundären. Ed. by Gisela Fehrmann, Erika Linz, Eckehard Schumacher and Brigitte Weingart. Frankfurt am Main: DuMont 2004, 242-257.
- Binas-Preisendörfer, Susanne: Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit. Popmusik auf globalen Märkten und in lokalen Kontexten. Bielefeld: transcript 2010.
- Mills, Sherylle: Indigenous Music and the Law. An Analysis of National and International Legislation. In: Yearbook for traditional Music 28 (1996), 57-86.
- Zemp, Hugo: Aspects of ‘Are’Are Musical Theory. In: Ethnomusicology 23 (January 1979), 5-48.
- Zemp, Hugo: The/An Ethnomusicologist and the Record Business. In: Yearbook for Traditional Music. Ed. by International Council for Traditional Music. Columbia University 28 (1996), 36-56.
About the Author
All contributions by Susanne Binas-Preisendörfer
Citation
Susanne Binas-Preisendörfer: “Sweet Lullaby (Deep Forest)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/sweetlullaby, 12/2011 [revised 10/2013].
Print