1950
The Soul Stirrers

Shine On Me

Die Soul Stirrers gehörten zu den führenden Gospel-Quartetten ihrer Zeit, sangen für Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill im Weißen Haus und traten ab 1940 als eine der ersten afroamerikanischen Gospel-Formationen mit einer eigenen Radioshow auf. SHINE ON ME (1950) steht exemplarisch für den Übergang vom Jubilee Gospel der 1930er und 1940er Jahre hin zu dem auf einen charismatischen Star-Leadsänger hin orientierten Hard Gospel, der – u.a. weil Gospelstars wie Sam Cooke, Wilson Pickett oder Lou Rawls Ende der 1950er Jahre ins Pop-Business wechselten – die Entstehung der Soul Music wesentlich mit vorbereitete.

 

I. Entstehungsgeschichte

Die Soul Stirrers, 1926 gegründet, gehörten Anfang der 1950er Jahre zu den drei populärsten afroamerikanischen Gospelgruppen der USA. Nach drei Jahren Plattenaufnahmen bei Aladdin Records nahm sie in am 02. Februar 1950 Art Rupe, Inhaber von Specialty, neu unter Vertrag. Die Gruppe bestand damals aus Rebert H. Harris, P. Foster, S. R. Crain (alle Tenor), Thomas L. Bruster, James Medlock, R.B. Robinson (Bariton) und J.J. Farley (Bass). Noch im selben Jahr stieg allerdings der erste Leadsänger Rebert H. Harris aus und wurde, nach einigen Versuchen mit dem 1949 zur Gruppe gestoßenen zweiten Lead-Tenor, Paul Foster, im November 1950 durch den 20jährigen Sam Cooke (damals noch Cook) ersetzt. Bei den nur zwei Specialty-Sessions mit R. H. Harris entstanden knapp zwei Dutzend Aufnahmen, darunter die beiden Songs “By And By” und “In That Awful Hour”, die heute zu den populärsten Aufnahmen der Soul Stirrers mit Rebert H. Harris zählen. SHINE ON ME wurde in der Session am 28.  Juli 1950 aufgenommen. Die Angaben darüber, welche Gruppenmitglieder an der Aufnahme beteiligt waren, gehen auseinander, laut Auskunft von Specialty waren es alle sieben (Funk 1992). SHINE ON ME wurde erstmals durch den evangelikalen Prediger, Gospel-Komponisten, Chorleiter und Musikverleger Homer Rodeheaver (1880–1955) publiziert, wobei es textlich zu großen Teilen auf dem traditionellen Kirchenlied “Amazing Grace” basiert. Rodeheaver veröffentlichte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zahlreiche Notensammlungen mit Gospel-Songs, bei denen er allerdings nicht zwischen selbst komponierten oder aus anderen, oft auch mündlichen Quellen übernommenen unterschied.

 

II. Kontext

In den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich der Hard Gospel zum führenden Stil afroamerikanischer Gospelgruppen in den USA. Im Vergleich mit den Jubilee-Quartetten der 1920er und 1930er Jahre mit ihrem eleganten A-cappella-Gesang setzten die – meistens aus mehr als vier Sängern bestehenden, aber vierstimmig singenden – Hard Gospel-Formationen auf einen volleren Sound. Instrumente wurden in die Aufführungen einbezogen und die Bühnen-Performance mit choreografischen Elementen angereichert. Die Soul Stirrers nahmen hier eine Zwischenposition ein. Rebert ‘Old Man’ Harris war bekannt dafür, seine Songs mit ekstatischer Energie und wütendem Ernst, aber dennoch mit Würde und gesammelter körperlicher Ruhe vorzutragen. Obwohl er die Soul Stirrers mit seinem emotionalen Vokalstil in den Hard Gospel führte, entsprach er als Leadsänger damit noch dem Leitbild des “erect, responsible God-fearing churchman” (Wolf 2011: 38). Jüngere Hard Gospel-Leadsänger wie Archie Brownlee oder Alex Bradford begannen dagegen, ihre Rolle neu zu interpretieren. Sie verließen etwa während der Konzerte die Bühne, fielen auf die Knie und sangen inmitten des Publikums, “producing such an overpowering performance that the audience was reduced to shouting hysteria” (Young 1997: xxvi). Brownlee, Bradford und andere entwickelten einen extrovertierten, an Extremen vom leisen Raunen bis hin zum Schreien und Kreischen orientierten Gesangsstil, der die energiegeladene Atmosphäre in den Pfingstgemeinden und den Kirchen der Heiligkeitsbewegung (Holiness) musikalisch weiter aufheizte. In den afroamerikanischen Kirchen etablierte der Hard Gospel damit eine Beziehung zwischen Musiker*innen und Gemeinde, die sich wenig später in der Soul Music als Praxis einer kollektiven, ethnische Differenz ausagierenden Gemeinschaftserfahrung auf weltlichem Terrain fortsetzte.

 

III. Analyse

SHINE ON ME beginnt mit einer 28-sekündigen Einleitung mit Leadgesang in Basslage (“I wonder if the lighthouse will shine on me”). Über diesen Vers kann der Song mit einem populären Gospelsong in Verbindung gebracht werden, der unter verschiedenen Titelvarianten überliefert ist (“Let It Shine On Me”, “Light From Your Lighthouse”) und ein Bibel-Motiv aus Matthäus 5:16 aufgreift. Eine der berühmtesten Aufnahmen dieses Songs stammt von US-Gospelsänger, Gitarrist und Prediger Blind Willie Johnson (“Let Your Light Shine On Me”, 1929). Mit ihren aufsteigenden Intervallen erinnert auch der Anfang der Stirrers-Melodie an Blind Lemon Johnsons Version. Parallelen bestehen aber auch zur Melodie des aus dem 18. Jahrhundert stammenden “Amazing Grace”, auf dessen dritter Strophe SHINE ON ME anschließend textlich basiert: “Through many dangers, tils, and snares / I have already come. / ‘Tis Grace hath brought me safe thus far / And Grace will lead me home”. Diese vier Verse werden im Stirrers-Song auf eine Folge von jeweils vier Akkorde verteilt (I-I-IV-I, I-V-VI-V, I-I-IV-I, I-V-IV-I in F), wodurch eine lose vierteilige Struktur entsteht. Harris ergänzt den Text durch verschiedene Ausrufe (“Oh Lord!”) und in der dritten und vierten Zeile auch erläuternde und verstärkende Einschübe (sog. ‘ad-libbing’).

Musikalisch interpretieren die Soul Stirrers SHINE ON ME in einem flexiblen tempo rubato. Wie es für Jubilee-Quartette lange üblich war, singen sie den Song unbegleitet a cappella. Im Anschluss an die Einleitung gestaltet Harris’ Tenor den Hauptteil über den vier stehenden Begleit-Akkorden in mittlerer bis sehr hoher Lage mit eindringlicher, erhobener Stimme in der Tradition des Predigergesangs. Charakteristisch für viele Gospelsongs, ist das Tonmaterial der Gesangsstimme (Dur-)pentatonisch mit zusätzlichem Halbton unterhalb der Terz. Die Moll-Terz erklingt häufig über einem Dur-Akkord, die Dur-Terz wiederum wird regelmäßig mit einem Halbtonschritt über die Moll-Terz erreicht oder per Wechselnote mit ihr verbunden. Terzen mit gleitender Tonhöhe, wie sie aus dem Blues bekannt sind, finden sich dagegen eher selten. Ebenfalls typisch für einen Großteil der Gospel Music um 1950, kommt der Song dennoch mit wenig Text aus, da Harris viele Worte ausdehnt, wiederholt und verziert. Töne an Phrasenenden enthalten häufig Abwärtsglissandi (meist in der Mitte und am Ende des jeweiligen Verses), seltener gibt es auch schnelle Terzsprünge nach oben (Anfang 1. Vers, Ende 1. Vers; Ende 3. Vers). Den Stimmklang flexibel an den Text anpassend, wechselt Harris dabei mehrfach zwischen Modal- und Falsettregister sowie einem im Register gemischten, von den Resonanzen her aber stark Kopfstimmen-orientierten Stimmsitz hin und her, so z. B. bei 1:12, wo ein durchdringendes Belting schlagartig einem weichen, stark behauchten Kopfstimmenklang Platz macht (Bielefeldt 2015: 378–79).

 

IV. Rezeption

1950 konnte man die Soul Stirrers quer durch das Land in Kirchen, Gemeindehäusern und auf Revival-Meetings hören. Das gilt vermutlich auch für SHINE ON ME, das allerdings nicht als Single veröffentlicht wurde, obwohl der Song musikalisch viele Errungenschaften der Gruppe auf den Punkt bringt, an die mit Sam Cooke einer der einflussreichsten Pioniere des Soulgesangs anschließen konnte (Guralnick 2005). Mit dem Abschied von R.H. Harris von der Gruppe im Herbst 1950 verschwand möglicherweise auch SHINE ON ME aus ihrem Repertoire. Erst Shine On Me, eine Specialty-Compilation der Soul Stirrers von 1992 mit zahlreichen Erst-Publikationen, machte den Song öffentlich zugänglich (Funk 1992).

CHRISTIAN BIELEFELDT


Credits

Lead vocals: Rebert H. Harris
Vocals: Paul Foster (Tenor), S. Roy Crain (Tenor), Thomas L. Bruster (Bariton), James Medlock (Bariton), R.B. Robinson (Bariton), Jesse J. Farley (Bass)
Music/Writer/Songwriting: Trad. / Homer Rodeheaver
Arrangement: Rebert H. Harris
Producer: Art Rupe
Label: Specialty Records
Recorded: 28.07.1950
Published: August 1950
Length: 2:34

Recordings

  • The Soul Stirrers, featuring R. H. Harris. “Shine On Me”. On: Shine On Me, 1991, Specialty SPCD 7013-2. USA, CD.
  • The Soul Stirrers. “In That Awful Hour”. Specialty SP 365, USA, 1950, 10” Shellac Single 78 rpm.
  • The Soul Stirrers. “By and By”. 1950, Specialty SP 354, USA, 10” Shellac-Single 78 rpm.

References

  • Bielefeldt, Christian: ‘Bring It On Home to Me’. Anfänge des Soulgesangs. In: Stimme Kultur Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA, 1900-1960. Ed. by Martin Pfleiderer, Tilo Hähnel, Katrin Horn, Christian Bielefeldt. Bielefeld 2015, 371–424.
  • Funk, Ray: Shine On Me. The Soul Stirrers featuring R.H. Harris. In: Shine On Me. The Soul Stirrers featuring R.H. Harris, Booklet Text, Los Angeles: Specialty Records 1992.
  • Guralnick, Peter: Dream Boogie. The Triumph of Sam Cooke. New York 2005.
  • Guralnick, Peter: Sweet Soul Music. Rhythm and Blues and the Southern Dream of Freedom. New York 1986.
  • Wolff, Daniel: The Life and Times of Sam Cooke (with S.R. Crain, Cliff White and G. David Tenenbaum). London 2011.
  • Young, Alan: Woke Me Up This Morning. Black Gospel Singers and the Gospel Life. Jackson, MS, 1997.

About the Author

Dr. Christian Bielefeldt works as a music teacher in Zurich.
All contributions by Christian Bielefeldt

Citation

Christian Bielefeldt: “Shine on Me (The Soul Stirrers)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://www.songlexikon.de/songs/shine-on-me, 03/2023.

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