1926
Friedrich Hollaender / Claire Waldoff

Raus mit den Männern aus dem Reichstag

I. Entstehungsgeschichte

1926 entstand unter der Regie Erik Charells die Revue Von Mund zu Mund. Neben Rudolf Friml wurde auch der junge Friedrich Hollaender mit der Komposition von einigen Liedern samt Texten für die Revue beauftragt. Hollaender war alles andere als ein begeisterter Anhänger der Revuen. Ihm schwebte am Beginn seiner Karriere vielmehr ein geistreiches, gesellschaftskritisches und stilvolles Kabarett vor, das für jedermann zugänglich ist (Kühn 1997: 38). Dieses intellektuelle Kabarett konnte sich in den krisengebeutelten Weimarer Jahren jedoch nur schwer gegen die beliebten und vor allem umsatzstarken Revuen durchsetzen. Revuen waren eine Art Mischform von Varieté und Operette. Zwar gab es im Gegensatz zum Varieté eine Handlung oder einen dramaturgischen Ablauf, dieser war aber völlige Nebensache. Das Programm wurde mit größter Konsequenz der Unterhaltung und Belustigung untergeordnet. Das bedeutete konkret: „Ausstattung, Stars und Girls, Girls, Girls“ (Kühn 1997: 40). Die Revue Von Mund zu Mund war prominent besetzt, vor allem mit der zentralen Berliner Star-Figur Claire Waldoff. Wenige Tage nach der Premiere wurde eine weitere Hauptdarstellerin (Erika Gläßer) krankheitsbedingt durch die noch junge Marlene Dietrich nachbesetzt (Koreen 1997: 130).

Einer der Höhepunkte des Abends war jedoch der Auftritt Claire Waldoffs, die als Cäsar verkleidet in einem römischen Streitwagen auf die Bühne gefahren wurde und das von Hollaender eigens für sie geschriebene, politisch-bissige Couplet RAUS MIT DEN MÄNNERN AUS DEM REICHSTAG vortrug (ebd.: 127). Interessant ist aber, dass in den Kritiken der Revue, das Couplet als „alter Schlager“ oder „nicht gerade aktuell“ beschrieben wurde (siehe unten). Ob dem Lied damit lediglich mangelnde inhaltliche Aktualität unterstellt oder ob es schon zuvor aufgeführt wurde, ist nicht mehr nachzuvollziehen. In den Zeitungen und Besprechungen taucht das Couplet jedenfalls ausschließlich im Zusammenhang mit Charells Revue auf.

 

II. Kontext

Nach dem Ersten Weltkrieg verbesserten sich die Frauenrechte in der neu gegründeten Republik grundlegend. In der neuen Weimarer Reichsverfassung von 1919 waren Frauen, zumindest grundsätzlich, den Männern rechtlich gleichgestellt. Das betraf auch das Wahlrecht: Mit Vollendung des 21. Lebensjahres war es Frauen nun möglich, aktiv und passiv an allen Wahlen teilzunehmen. Der erste gewählte Reichstag 1920 hatte einen Frauenanteil von 8 Prozent; in den folgenden Wahlen pendelte sich die Quote zwischen 6 und 7 Prozent ein. Erst mit dem Erstarken der NSDAP sank der Frauenanteil bis 1933 kontinuierlich auf 3,8 Prozent.

Gesellschaftlich begann sich nach dem Ersten Weltkrieg vor allem im urbanen Milieu das Ideal der ‚Neuen Frau‘ zu verbreiten. Das neue Selbstbewusstsein wurzelte zunächst in der stark gestiegenen Erwerbstätigkeit der Frauen nach dem Krieg und der damit einhergehenden, ökonomischen Unabhängigkeit. Auch rein äußerlich war die ‚Neue Frau‘ der 1920er Jahre schnell zu erkennen: Die voluminösen und überladenen Kleider der Kaiserzeit samt einschnürender Korsagen wurden abgelegt und wichen dem Modeideal der „Flapper“: sportliche Frauenkörper mit burschikosen Kurzhaarfrisuren in schlichten und kurzen Kleidern.

Claire Waldoff verkörperte dagegen einen eigenen Typus der emanzipierten Frau. Schon bei ihren ersten Auftritten trug sie einen ‚Etonboy‘-Anzug und verweigerte sich damit den für Frauen vorgesehenen Modekonventionen. Auch ihre resolute und ruppige Sprache und der freche und unverblümte Berliner Dialekt, den sie sich angeeignet hatte, wurden als durchaus provokant wahrgenommen. Hinzu kam, dass sie selbst Fahrrad und Auto fuhr, exzessiv rauchte und bis an ihr Lebensende in einer homosexuellen Partnerschaft mit Olly von Roeder lebte (Stahrenberg 2018: 25). Die Textzeile „Von den Amazonen bis zur Berliner Range“ kann durchaus auf die inszenierte Star-Persona „Claire Waldoff“ selbst bezogen werden: „Berliner Range“ war einer ihrer vielen Namen und Titel, die ihr von den Feuilletons verliehen wurde, und so stellte sie sich selbstbewusst in die Tradition jener mythischen Frauenfiguren, die furchtlos und wagemutig in den Kampf zogen.

 

III. Analyse

Der Text des Liedes fordert kämpferisch, überspitzt und humorvoll, die Geschlechterverhältnisse in den deutschen Parlamenten („Reichstag und Landtag“) und die Rollenbilder im häuslichen und privaten Raum („Herrenhaus“) umzukehren. Trotz der Überspitzungen und des Humors im Text, ist die Wirkungsabsicht eine durchweg kämpferische: „Was die Männer können, können wir schon lange und vielleicht ‚ne janze Ecke mehr!“

Für die Aufführung in der Revue Von Mund zu Mund wurde der Schlager von einem Orchester begleitet. (Die Orchesterpartitur wird derzeit im Friedrich-Hollaender-Archiv (Akademie der Künste) in Berlin verwahrt.) Wohl erst im Anschluss an die Revue wurde die Klavierbearbeitung vom Komponisten und Arrangeur Otto Lindemann erstellt und publiziert. Die Aufnahme von Waldoff unterscheidet sich durch Tonart, Oktavtranspositionen und Begleitmotivik von der publizierten Klavierbearbeitung sehr deutlich, sodass wahrscheinlich eine eigene, zweite Fassung für die Aufnahme zugrunde lag. Der augenfälligste Unterschied zwischen Aufnahme und Notenausgabe ist aber eine Änderung im Text: In der Aufnahme heißt es „Von den Amazonen bis zur Berliner Range …“, in der gedruckten Version der Notenausgabe findet sich hingegen die aus damaliger wie heutiger Sicht als rassistisch einzustufende Zeile „Vom Hawai-Neger bis zur Berliner Range …“. Aufgenommen wurde dieser Text der Klavierfassung bislang nur von Ute Lemper auf ihrem Album Berlin Cabaret Songs von 1992.

Das musikalische Hauptgestaltungsmerkmal von „Raus mit den Männern …“ ist die für beschwingte Schlager sehr typische Marschmotivik, bestehend aus Alla-Breve-Takt, Wechselbass und Akkordnachschlägen. Die pointierte Konzeption des Refrains funktioniert durch die siebenfache Betonung des Wortes „raus“ jeweils auf die erste Zählzeit des Taktes. Das Wort „und“ wird nach der ersten Zeile auftaktig vorangestellt, wodurch das „raus“ noch energischer und impulsiver betont wird. In der letzten Zeile aber wird der Auftakt „und“ um einen Schlag verlängert und kündigt damit die zentrale Pointe an: die Wortveränderung von „raus“ zu „rein“ (oder in Claire Waldoffs Berliner Dialekt: „rrrinn“). Die Pointe „rein/raus“ wird umso schärfer, wenn man bedenkt, wie knapp die Schlusszeile „Rein in die Dinger mit der Frau“ einer explizit sexualisierenden Bedeutung entkommt.

Musikalisch wird das Wort „raus“ durch den jeweils höchsten Ton der Phrase hervorgehoben. Die Aufnahme Waldoffs steht zwar eine kleine Terz tiefer als die Klaviernotenausgabe, aber dennoch tritt der Spitzenton einer jeden Phrase durch das gebrüllt-schnarrende „rrraus“ stark hervor. Von diesem Phraseneinstieg aus bewegt sich die Melodie über den gemächlichen Marschmotiven (Wechselbass mit akkordischen Nachlägen) in der Klavierstimme chromatisch abwärts.

 

IV. Rezeption

Die Kritiken der Revue Von Mund zu Mund waren in der Presse durchweg negativ. Zu kindisch sei der Humor, zu wenig durchdacht seien die Texte, zu wenig aktuell die politischen Bezüge. Herbert Ihering resümierte in seiner Kritik: „Die Parallele zwischen einer Sitzung im römischen Senat und dem deutschen Reichstag ist billig. Und Claire Waldoffs Couplet ‚Raus mit den Männern aus dem Reichstag‘ ist auch nicht gerade ein aktueller Schlager. Friedrich Hollaender war doch früher erfinderischer. Er sollte wieder mit Walter Mehring zusammenarbeiten“ (Ihering 1926: 3). Im Vorwärts fiel die Kritik unterdessen milder aus; vor allem die Musik wurde gelobt: „Das einzige Kuplet Raus mit den Männern aus dem Reichstag (Holländer) hatte Schmitz und Verve.“ Der Sängerin selbst kam keine große Begeisterung mehr zu: „Claire Waldoff hingegen reißt mit altem und neuem Schlager ein Berlin von heute nicht mehr hin, als Sprecherin ernsterer Anreden an das Volk aber wird sie unerträglich“ (Singer 1926). Bekannt wurde das Couplet aber trotzdem. In einer eher erfolglosen Revue des Frühjahrs 1927 wurde eine Darstellerin gerügt, weil sie in der Art Waldoffs „das ‚Raus mit den Männern‘ nachzusingen wagt“ (Herrmann 1927). Friedrich Hollaender hingegen war von Waldoffs Auftritt und ihrer fauchenden Interpretation des Liedes sehr begeistert (Koreen 1997: 129). Im Rondo-Verlag Berlin erschien 1926 eine Notenausgabe des Couplets für Gesang und Klavier (Preis: 1.50 Mark), die Friedrich Hollaender mit der Widmung „Meiner lieben Claire in aller Verehrung“ überschrieben hatte.

Trotz der vernichtenden Kritik in den 20er-Jahren zählt RAUS MIT DEN MÄNNERN AUS DEM REICHSTAG zu den bekanntesten Liedern Claire Waldoffs und wird häufig als eine Art musikalisch-textliches Destillat der Weimarer Republik betrachtet. Neben aktuellen Aufführungen vor allem in Kabaretts und Varietés ist die Verwendung des Schlagers in zwei von der ARD produzierten Serien wichtig für die Rezeption im deutschsprachigen Raum. In der ersten Folge der 3. Staffel der Erfolgsserie Babylon Berlin (2020) wird die Originalaufnahme Waldoffs diegetisch eingeführt: Die Hauptfigur Charlotte Ritter hört es gemeinsam mit ihrer Schwester auf einem Grammophon. Beide Figuren können den Text auswendig und singen freudig zur Aufnahme mit. Indem sie sich das im Lied vorgestellte, kämpferische Frauenbild aneignen, werden sie mittels der Musik als moderne Frauenfiguren in der Serie vorgestellt (Grosch 2022: 47). Für die ARD-Produktion Eldorado Kadewe (2021) wurde Waldoffs Couplet neu arrangiert und eingespielt (Gesang: Anna Mateur). Mit Hip-Hop-Beat und gerapptem Text entfernt sich der alte Schlager spürbar von den ursprünglichen Arrangements. Innerhalb der Serie wird der Song verwendet, um die queere Kultur Berlins in den 1920er Jahren zu illustrieren. Damit beziehen sich die Filmemacher auch auf Claire Waldoff selbst, die als eine der ersten „Queer-Ikonen“ Berlins galt.

 

JANIK HOLLAENDER


Credits

Text: Friedrich Hollaender
Musik: Friedrich Hollaender
Gesang: Claire Waldoff

Recordings

  • Claire Waldoff. „Raus mit den Männern aus dem Reichstag“. On: 48 Schellack Raritäten, 2004, Documents, 222232, Germany (Compilation/2xCD).

References

  • Benmann, Helga: Claire Waldoff und ihr Liedrepertoire. In: Ich will aber gerade vom Leben singen … Über populäre Musik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik. Ed. bySabine Schutte. Hamburg: Rowohlt 1987, 316–343.
  • Grosch, Nils, Roxane Lindlacher, Miranda Lipovia und Laura Thaller: Rekonfigurationen der Weimarer Republik. In: Archiv für Musikwissenschaft 79/1 (2022), 43–60.
  • Herrmann, Max: Berliner Kabaretts im März. In: Berliner Tageblatt, 19.03.1927, o.S., https://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1927-3-19/27646518/ [15.04.2025].
  • Ihering, Herbert: Berliner Theater. In: Hamburger Fremdenblatt, 08.09.1926, 3, https://zeitungen.sub.uni-hamburg.de/ [15.04.2025].
  • Koreen, Maegie: Immer feste druff. Das freche Leben der Kabarett-königin Claire Waldoff. Düsseldorf: Droste 1997.
  • Kühn, Volker: Spötterdämmerung: Vom langen Sterben des großen kleinen Friedrich Hollaender. Berlin: Parthas 1997.
  • Stahrenberg, Carolin: Claire Waldoff, „Stern von Berlin“. In: Image – Performance – Empowerment. Weibliche Stars in der populären Musik von Claire Waldoff bis Lady Gaga. by Michael Fischer, Christofer Jost and Janina Klassen. Münster: Waxmann 2018, 17–31.
  • Singer, Kurt: Charell-Revue. In Vorwärts, 02.09.1926, o.S., https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de [15.04.2025].
  • Stahrenberg, Carolin: Art. „Claire Waldoff“ (27.03.2006). In: Online Lexikon MUGI/Musik und Gender im Internet. by Beatrix Borchard and Nina Noeske, http://mugi.hfmt-hamburg.de/grundseite/grundseite.php?id=wald1884 [15.04.2025].
  • Waldoff, Claire: Weeste noch…? Erinnerungen und Dokumente. by Volker Kühn. Berlin: Parthas 1997.

About the Author

Janik Hollaender is a research assistant at the Department of Musicology, University of Freiburg.
All contributions by Jannik Hollaender

Citation

Janik Hollaender: „Raus mit den Männern aus dem Reichstag (Friedrich Hollaender/Claire Waldoff)“. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://www.songlexikon.de/songs/raus-mit-den-maennern-aus-dem-reichstag, 06/2025.

Print