NE DUFTE STADT IST MEIN BERLIN ist ein Schlager aus der Feder von Walter Kollo und Friedrich Wilhelm Hardt, der in der Interpretation von Claire Waldoff Popularität erlangte.
I. Entstehungsgeschichte
Schon am Beginn ihrer Karriere war Claire Waldoff für ihr typisches Berlin-Repertoire bekannt, also für jene Lieder, die in derber Mundart die Eigenheiten der Stadt und Marotten ihrer Bewohner besingen (Stahrenberg 2018: 20). Für die in Gelsenkirchen als Clara Wortmann geborene und erst 1906 nach Berlin übergesiedelte Sängerin, war das keine Selbstverständlichkeit. Nach ihrer ersten Ankunft in der Stadt, eignete sie sich rasch die „Berliner Lebensweise“ samt Dialekt an und wurde selbst Teil des von ihr besungenen Berliner „Milljöhs“. Im Jahr 1907 kommt es während der Proben zu Beginn der neuen Spielzeit im Theater „Roland zu Berlin“ zu einem schicksalhaften Aufeinandertreffen mit dem aus Ostpreußen stammenden Komponisten Walter Kollo (1878–1940). Von dieser ersten Begegnung sagt sie später, in ihrer 1953 erschienen Autobiographie: „Er amüsierte sich königlich über meine Art und Weise, die Lieder zu singen, und er hielt mich für ein großes Talent. Ich lächelte ungläubig dazu“ (Waldoff 1997: 44). Die hier beginnende Freundschaft zu Kollo entwickelte sich äußerst produktiv. Einen ersten großen Erfolg landen die beiden 1910 mit dem lasziv-frechen Chanson Det Scheenste sind die Beenekens (Text: Claire Waldoff, Musik: Walter Kollo). In den meisten Liedern Waldoffs spielen typische Berliner Eigenarten, Schrulligkeiten, der raue Humor und die schnörkellose Ehrlichkeit eine besondere Rolle. Waldoff besang diese Eigenschaften nicht nur, sie verkörperte sie mit ihrem exzentrischen Auftreten auch performativ. NE DUFTE STADT IST MEIN BERLIN (Text: Friedrich Wilhelm Hardt, Musik: Walter Kollo) von 1911 war ihr erstes Lied, das sich ausschließlich mit Berlin beschäftigt und die eigentümliche Liebesbeziehung zwischen der Stadt und ihren Bewohnern zum Thema hat. Durch Waldoffs zahlreiche Auftritte in Theater, Kabarett und Operette, beispielsweise in der über 1000-mal gespielten Operette Kollos Drei alte Schachteln von 1917, wurde die Star-Persona ‚Claire Waldoff‘ zunehmend zum berlinischen Archetypus schlechthin kreiert und inszeniert, hinter dem die ruhr-rheinische Herkunft der Sängerin vollkommen zurücktrat. So wurde sie bald als „Berliner Pflanze“ oder gar „Stern von Berlin“ auf den Werbeplakaten der Stadt betitelt (Stahrenberg 2018: 20). In ihren Auftritten ereignete sich das stereotype Arbeiter-Berlin performativ: Die prekären Bedingungen in den Hinterhöfen und Arbeitervierteln wurden zur lustvollen Abendunterhaltung für das besserverdienende Bürgertum. Gemeinsam mit vielen anderen Kunstschaffenden wie dem Grafiker und Maler Heinrich Zille gehörte Waldoff zu den „Berliner Originalen“ und verkörperte mit Humor, Schlagfertigkeit, Schnoddrigkeit und Flapsigkeit jene Eigenschaften des Berliner Arbeitermilieus, die von den bürgerlichen Besuchern der Varietés, Theater und Kabaretts als besonders „typisch“ und „authentisch“ wahrgenommen wurden.
II. Kontext
Die Berlin-Lieder des frühen 20. Jahrhunderts sind eingebunden in die dialektische Diskurstradition einer Städtekonkurrenz zwischen Wien und Berlin. In Literatur, Kunst, vor allem aber in den Feuilletons wurden die beiden Städte als jeweilige Gegenentwürfe zueinander verglichen: Dort die alte, katholische Kaiserstadt, an der „schönen blauen Donau“, von Bergen umgeben, deren Bewohner galant und höflich durch die Straßen ziehen, deren Gasthäuser Heimeligkeit vermitteln und deren neue Prachtbauten sich architektonisch in absolutistischen Neobarock kleiden. Hier die neue, rasante, emporgekommene, protestantische Kaiserstadt, im Sumpfland gelegen, von eher unbedeutenden Flüssen wie Spree und „stinkender Panke“ durchzogen, die sich in Architektur, Kunst und Wissenschaft selbstbewusst und aufgeklärt als „Spree-Athen“ bezeichnet, deren Einwohner rau und ruppig mit „Berliner Schnauze“ sprechen und deren legendäres Nachtleben Zügellosigkeit, Entgrenzung und Befreiung verspricht (Wietschorke 2023). Gewiss, hier werden Klischees verhandelt und manche Eigenschaften der Städte übertrieben, andere hingegen ignoriert (als ob es in Wien kein großes Verkehrsaufkommen und in Berlin keine neobarocken Bauten gäbe). In den populären Liedern dieser Zeit waren sie aber sehr wirkmächtig, textlich wie performativ. Beide Städte entwickelten eine eigene Liedtradition und einen eigenen Stil des Volksgesangs. Die Wiener Lieder besingen ohne Ironie oder Doppeldeutigkeit die Schönheit der Stadt, der Frauen und Mädchen und schwärmen von Wien als einem beinahe paradiesischen Ort. Der beliebte Wiener Volkssänger Alexander Girardi war gewissermaßen die Verkörperung dieser Ideale: Mit feinem Akzent und seiner schmelzenden Tenorstimme trug er seine Lieder stets galant und distinkt vor. Claire Waldoff war mit ihren Berlin-Liedern und ihrer zügellos röhrenden Stimme inhaltlich wie performativ der vollkommene Gegenentwurf dazu.
Die Texte der Berlin-Lieder bewegen sich eigentlich immer auf dieselbe Pointe zu: „Während man Wien immer deshalb liebt, weil es dort viel schöner ist als anderswo, liebt man Berlin, obwohl es anderswo viel schöner ist“ (ebd.: 126). So endet jede Strophe des Waldoff-Liedes mit dem titelgebenden Ausruf „’ne dufte Stadt ist mein Berlin“. Auch für den Autor des Textes passen die gängigen Adjektive für Städtebeschreibungen, „schön, großartig, hübsch“, nicht zu Berlin. Nur jenes ur-berlinische Slang-Wort „dufte“ scheint der hier besungenen Stadt angemessen.
III. Analyse
Der Text des Liedes entfaltet verschmitzt und ironisch, warum Berlin im Vergleich mit anderen Städten und Orten eine liebenswerte Stadt ist. Die letzte Zeile einer jeden achtzeiligen Strophe funktioniert dabei als sich wiederholende Conclusio und Pointe: „’ne dufte Stadt ist mein Berlin“. Typisch für die Lieder Waldoffs sind die vielen Berliner Mundart-Begriffe, die den Vortrag authentisch und spontan improvisiert erscheinen lassen („dufte“, „Appelfatzke“, „ick danke“, „in’t Grüne“). Die Komposition steht im Dreivierteltakt und bewegt sich nicht über die Grundharmonien hinaus. Daraus erwächst eine ebenso schlichte wie sangliche Melodie, die durch ständige Punktierungen ein wenig Witz und Verspieltheit erhält. Die Klavierbegleitung doppelt in der rechten Hand meist die Melodie und begleitet diese in konsequenten Terzreihen, während in der linken Hand eine schlichte Walzerbegleitung aus Basston und zwei Akkordschlägen liegt. Die Lieblichkeit des Liedes samt hübschem Walzer-Topos und „volkstümlichen“ Terzen wird kontrastiert mit der Derbheit der besungenen Stadt und jener der Sängerin selbst.
Da das Lied nur vom Klavier begleitet wird, ist dem Gesang größtmögliche Freiheit gegeben. Das ermöglicht einen beinahe sprechenden und rhythmisch sehr flexiblen Vortrag des Textes – ein typisches Merkmal von Waldoffs Liedinterpretationen. Dazu tritt ihre stimmliche Bandbreite: von schnarrenden und scheppernden Abschnitten („Du Appelfatzke, Rindvieh du!“), über lieblich-kindliche Passagen („Will man im Monat Mai ins Grüne…“) hin zu ihren typisch guttural-geröhrten Textzeilen („… Sauf ma‘ Terpentin!“).
Interessant ist auch der Unterschied zwischen den Aufnahmen von 1911 und 1930. In der späteren Version wurde das Lied einen Ganzton tiefer transponiert (von ursprünglich C-Dur nach B-Dur). Dadurch nähert sich die mittlere Tonlage des Liedes der natürlichen Sprechstimme von Claire Waldoff an und die Übergänge zwischen gesprochenen und gesungen Teilen verschwimmen noch stärker. Musikalisch unterscheiden sich die beiden Versionen nur minimal: die Begleitung der vorletzten Strophenzeile (bspw. 1. Strophe: „Doch ich ruf laut in alle Winde …“) wird in der Version von 1911 noch in der parallelen Molltonart (hier a-Moll) eingeleitet, während die Zeile 1930 in der Grundtonart begleitet wird (hier B-Dur).
IV. Rezeption
Dieses frühe Lied Waldoffs gehörte zum festen Repertoire der Sängerin und zählte in den Zeiten ihres größten Erfolges, während der Weimarer Republik, zu ihren bekanntesten Werken. Laut dem Schriftsteller und Biographen Gerhard Flügge, soll NE DUFTE STADT IST MEIN BERLIN sogar das Lieblingslied des Malers Heinrich Zille gewesen sein, für den allein Claire Waldoff es oftmals singen musste (Flügge 1978: 5).
Wie viele Lieder Claire Waldoffs geriet auch NE DUFTE STADT IST MEIN BERLIN nach dem Zweiten Weltkrieg rasch in Vergessenheit. Die Gründe dafür sind vielschichtig, aber die Volkssänger:innen hatten es nach dem Krieg schwer gegen das angestaubte Image der Heimattümelei anzukämpfen. Erfolg hatten in dieser Zeit eher Lieder, die nicht die (untergegangene) Heimat besangen, sondern den Blick in die exotische Ferne Italiens, Spaniens, Frankreichs und vor allem Amerikas lenkten (Stahrenberg 2018: 29–30).
Ein wichtiger Wendepunkt in der Rezeption Waldoffs, zumindest in Ostdeutschland, war der 1987 in der DDR gedrehte Film Claire Berolina. Ab den 1990er-Jahren wurden die Lieder Waldoffs wieder etwas populärer und mehrere Sampler mit den bekanntesten Chansons und Couplets kamen auf den Markt. Heute taucht das Lied wieder in Kabaretts und Varietés auf, wo Claire Waldoff teils eigene Programme gewidmet werden. Obwohl sich das Berlin-Bild in den Liedern über die Stadt kaum geändert hat und immer noch der raue Charme der Stadt besungen wird, konnte NE DUFTE STADT IST MEIN BERLIN an den ursprünglichen Erfolg und Bekanntheitsgrad nicht mehr anknüpfen.
JANIK HOLLAENDER
Credits
Text: Friedrich Wilhelm Hardt
Musik: Walter Kollo
Gesang: Claire Waldoff
Klavier: nicht bekannt
Recordings
- Claire Waldoff. „Ne dufte Stadt ist mein Berlin! / Wenn der Bräutigam mit der Braut so mang die Wälder geht!“, 1911, Zonophone Record, X-23452, X-23453, Germany (Shellac).
- Claire Waldoff. „Er ist nach mir verrückt! / Ne dufte Stadt ist mein Berlin!“, 1930, Parlophon, B. 12218-1, B. 12218-2, Germany (Shellac).
References
- Benmann, Helga: Claire Waldoff und ihr Liedrepertoire. In: Ich will aber gerade vom Leben singen … Über populäre Musik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik. by Sabine Schutte. Hamburg: Rowohlt 1987, 316–343.
- Flügge, Gerhard:’ne dufte Stadt ist mein Berlin. Von Bums und Bühne, Rummel und Revuen, von Kintopp und Kabarett und anderen Amüsements aus dem Milljöh von Heinrich Zille. Berlin: Henschel 1978.
- Stahrenberg, Carolin: Claire Waldoff, „Stern von Berlin“. Zur Inszenierung von regionaler Identität, star personality und der Überwindung geschlechtsbedingter Normen. In: Image – Performance – Empowerment. Weibliche Stars in der populären Musik von Claire Waldoff bis Lady Gaga. by Michael Fischer, Christofer Jost and Janina Klassen. Münster: Waxmann 2018, 17–31.
- Stahrenberg, Carolin: Art. „Claire Waldoff“. In: Online Lexikon MUGI/Musik und Gender im Internet. by Beatrix Borchard and Nina Noeske, 27.03.2006, http://mugi.hfmt-hamburg.de/grundseite/grundseite.php?id=wald1884 [15.04.2025].
- Waldoff, Claire: Weeste noch…? Erinnerungen und Dokumente. by Volker Kühn. Berlin: Parthas 1997.
- Wietschorke, Jens: Wien–Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde. Ditzingen: Reclam 2023.
About the Author
All contributions by Jannik Hollaender
Citation
Janik Hollaender: „Ne dufte Stadt ist mein Berlin (Claire Waldoff)“. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://www.songlexikon.de/songs/ne-dufte-stadt-ist-mein-berlin, 06/2025.
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