1955
Elvis Presley / Junior Parker & The Blue Flames

Mystery Train

In MYSTERY TRAIN (1955) unterstreicht der 20jährige Elvis Presley, wie weitgehend er afroamerikanische Gesangstraditionen aufzugreifen und sich anzueignen fähig war. Eine Adaption des gleichnamigen Songs von Junior Parker & The Blue Flames (1953), macht der Song die Auswirkungen der jahrelangen Rezeption afroamerikanischer Musik deutlich, die Presley bis in die Modulation von Stimmsitz, Stimmgebung und Timbre hinein für sich verarbeitete.

 

I. Entstehungsgeschichte

Junior (Herman Jr.) Parker & The Blue Flames waren eine der frühen Memphis-Blues-Bands von Sun Records, der Plattenfirma, die den jungen Elvis Presley mit einer Serie von Aufnahmesession und den fünf daraus resultierenden, legendären sog. Sun Sides, binnen weniger Monate weit über seine Heimatstadt Memphis hinaus bekannt machte. Parkers “Mystery Train” (1953), die Vorlage für Presleys Version, wurde von Sun-Eigentümer Sam Phillips selbst produziert. Die Platte war kein großer Verkaufserfolg und schaffte es nicht in die R&B-Single-Charts. Parkers Songtext weist Parallelen auf zum Text des u.a. durch die Carter Family (1930) und Woodie Guthrie (1940) popularisierten Folksongs “Worried Man Blues”. Presleys MYSTERY TRAIN entstand als zweiter Song der siebten und letzten Aufnahmesession am 11. Juli 1955 in Phillips Memphis Recording Service unter Mitwirkung der beiden anderen Blue Moon Boys, dem Gitarristen Scotty Moore und dem Bassisten Bill Black (Moore 1997: 91). Für die A-Seite der Single 223, auf der MYSTERY TRAIN erschien, wählte Phillips Presleys Adaption von Stan Keslers und Charlie Feathers Country-Ballade “I Forgot to Remember to Forget” aus. Die Zusammenstellung einer Single mit Songs aus verschiedenen stilistischen Bereichen entsprach der Absicht von Phillips, mit Presleys Singles sowohl den Country-Music-Markt als auch die Fans von Rhythm & Blues zu bedienen.

 

II. Kontext

Für den Aufstieg des Rock’n’Roll Mitte der 1950er Jahre, den Elvis Presley wie kein anderer verkörperte, sind verschiedene soziale und kulturelle Prozesse, sowie medientechnische und juristische Entwicklungen in den USA verantwortlich (Peterson 1990). Die Gründung der Verwertungsgesellschaft BMI löste 1939 einen zunehmenden Wandel von Repertoire, Hörerschaft und musikindustriellem Zielpublikum aus. Eine wachsende Anzahl kleiner, unabhängiger Plattenfirmen und Radiosendern mit afroamerikanischen Musikprogrammen entstand, darunter auch der Sender WHBQ in Memphis, in dessen Sendung “Red Hot and Blue” Presley seinen ersten Radioauftritt hatte. Die Markteinführung der billig zu produzierenden Single Record und die Einführung tragbarer Radios vervielfachten die Möglichkeiten der Musikproduktion und -rezeption. Diese neue Zugänglichkeit vor allem auch schwarzer Musik ließ eine ethnisch diverse Jugendkultur entstehen, die sich ab 1955/56 mit den Erfolgen von Bill Haley und Elvis Presley internationalisierte. Im Mittelpunkt der zeitgenössischen Rezeption stand ihr rebellischer Grundton, der kurz darauf die Vorlage lieferte für die Subversions-Ideen vieler Rockmusiker*innen in den 1960er Jahren. Abwehrreflexe konservativer Institutionen überkreuzten sich dabei mit der Suche nach einem identitätsstiftenden Ventil, das euroamerikanische Jugendliche im Rhythm und Blues zu finden glaubten. Dabei reduzierten sie diesen allerdings häufig auf eine hypersexuelle, instinkthafte Charakteristik (Ward 1998). Der Vorwurf, weiße Stars und ihre Produzenten hätten den ‚authentischen‘ Rhythm & Blues mit Nummern wie MYSTERY TRAIN oder später “Hound Dog” (Presley 1956, Vorlage: ‘Big Mama’ Thornton 1953) ausgebeutet und musikalisch ‘verwässert’, ist in vielen Fällen zutreffend. Allerdings feierten nicht nur weiße Sänger*innen in den Rhythm&Blues-Charts Erfolge, umgekehrt schafften z.B. 90% der R&B-Chart-Hits 1958 den Crossover in den Pop-Markt (Bielefeldt 2017: 25–26). Politisch sendete die Tatsache, dass es Ende des Jahrzehnts eine relevante Schnittmenge zwischen dem Musikgeschmack der jungen weißen und der jungen schwarzen USA gab, Signale bis tief hinein in die afroamerikanische Bürgerbewegung, auch wenn die Texte, Performance-Stile und Images der Rock’n’Roll-Stars überwiegend unpolitisch waren (Ripani 2006: 72).

 

III. Analyse

Der Text von Presleys MYSTERY TRAIN ist identisch mit dem von Junior Parkers Vorlage, der die erste Strophe von “Mystery Train” seinerseits aus dem Folksong “Worried Man Blues” übernahm (musikalisch bestehen keinerlei Ähnlichkeiten). Dort heißt es in der dritten Strophe: “The train I ride, sixteen coaches long / The girl I love is on that train and gone”. Bei Parker und Presley wird daraus: “Train I ride, sixteen coaches long / Well, that long black train got my baby and gone”. Parker und seine Vorlage partizipieren hier an der Popularität der in Blues- und Folksong-Texten verbreiteten Zug-Metapher, die das Leben des Geschichten erzählenden Bluesman und seiner transitorischen afroamerikanischen Existenz versinnbildlicht (May 2012). Parkers restlicher Songtext ist dagegen neu. Musikalisch ist Parkers Version ein kontinuierlich sich beschleunigender (bpm 86–95) Novelty-Blues-Song mit Zugpfeifenimitationen und heiser geshoutetem Gesang. Presley singt dagegen eher versunken als lautstark und mit engem, schnellem Kehlkopfvibrato sowie einem leicht heiseren Timbre, das gelegentlich auch einer offeneren Stimmgebung mit weicherer Färbung weicht (z.B. “never will again”, 0:58–1:00). Die Wandlungsfähigkeit des Stimmklangs und das Spiel mit unterschiedlichen Timbres, das sich hier andeutet, gehören zu den Auffälligkeiten von Presleys Sun-Sides, er hebt sich damit u.a. auch von der zeitgenössischen Country Music ab, in der stabile Timbres dominieren. Gleichzeitig beschleunigen Presley, Moore und Black die Vorlage stark und versetzen sie in eine körperlich agilere, tänzerische Textur und Stimmung. Zu ihr trägt auch eine artikulatorische Eigenheit Presleys bei, der, unterstützt von den kurz und trocken angespielten Gitarren-Licks von Moore und Blacks tickendem Slap-Bass, immer wieder Töne am Zeilenende verkürzt und mit leichten Akzenten markiert, gut hörbar z.B. in der Textzeile “got my baby and gone”. Manche Silben werden regelrecht verschluckt (z.B. “she’s mine all, all mine”). So entsteht eine Art Staccato (Everett 2008: 120 spricht von “escape-tones”), das eines der charakteristischen Merkmale von Presleys Vokalstil weit über die erste Karrierephase hinaus darstellt. Seine volle Wirkung entfaltete dieses Staccato durch das legendäre ‘Slapback-Echo’, mit dem Produzent Sam Phillips die meisten Aufnahmen von Presley bei Sun ausstattete, darunter MYSTERY TRAIN. Durch eine minimale zeitliche Verschiebung zweier parallel verwendeter Tonbänder erhielten diese Aufnahmen einen knapp 200 ms langen, deutlich hörbaren Nachklang (Hodgson 2010: 126). Obwohl als Ganzes der Aufnahme beigegeben, machte dieser den Stimmklang voller und halliger, die Gitarre prägnanter und die Kontrabass-Slappings härter und perkussiver (Wicke 2011: 66). Den so erzeugten Sound versuchte RCA 1956 für seine Presley-Aufnahmen zunächst unter dem Einsatz von Echoräumen nachzubilden. Entscheidend ist jedoch, dass dieses medientechnische Setting von den drei Blue Moon Boys auch musikalisch genutzt wurde. Erst Presleys Vokalstil und Moores perkussive, den Gesang kontrapunktisch umspielende Spielfiguren (Moore 1997: 91), werteten das Sun-Slapback zu einer der wichtigsten Sound-Vorlagen des Rock’n’Roll auf. Für die Aufnahme von MYSTERY TRAIN wurde das Slapback-Echo zusätzlich durch den EchoSonic-Gitarrenverstärker angereichert, den Scotty Moore zur Live-Nachbildung des Slapback-Effekts bei Konzertauftritten angeschafft hatte und hier erstmals für eine Aufnahme einsetzte (Hodgson 2010: 127).

 

IV. Rezeption

Presleys Erfolg stand anfänglich im Wege, dass seine Stimme in Songs wie MYSTERY TRAIN als ethnisch mehrdeutig wahrgenommen wurde, was seinen Zugang zu Pop-Radiosendungen ebenso erschwerte wie den zu R&B-Programmen. Auch das Image der gottesfürchtigen ‘Hillbilly Cat’, das er anfänglich aufzubauen versuchte, verschwand schon bald nach dem Wechsel zu RCA im Sog skandalträchtiger TV-Auftritte (z.B. mit “Hound Dog” in der Show von Ed Sullivan). Die Sun-Single 223 mit “I Forgot to Remember To Forget / Mystery Train” ist davon noch unbeeinflusst. Sie erreichte im Herbst 1955 die Top 10 der Country&Western-Charts und konnte sich dort 39 Wochen halten, länger als jede andere Presley-Single jemals. In einer Neu-Auflage durch RCA Victor im November 1955 platzierte sie sich als Nr. 11 ebenfalls hoch in der C&W-Hitliste. Ebenfalls noch im November 1955 veröffentlichte RCA bereits eine erste Pop-Coverversion mit der Gruppe Turtles, die ebenfalls durchaus erfolgreich war. Presleys Version erschien in der folgenden Zeit u.a. auf den Alben Rock’n’Roll (1956) und Elvis (1959). MYSTERY TRAIN wird heute als Nr. 77 der 500 Greatest Songs of All Time des Rolling Stone Magazine geführt. Die Liste der Cover-Versionen des Songs ist kaum zu überblicken, sie reicht von Grateful Dead, The Doors, Junior Wells, Bon Jovi, Rick Nelson und John Hammond über Jerry Lewis, The Band & Paul Butterfield, The Staples, The Nighthawks und Emmylou Harris bis hin zu UFO, The Jordanaires, Johnny Hallyday und Bob Dylan. Scotty Moore nahm den Song sowohl mit Carl Perkins als auch mit Eric Clapton neu auf. 1989 entwickelte der Episodenfilm Mystery Train von Jim Jarmusch seine drei Geschichten um die Stadt Memphis und die dortige Presley-Erinnerungskultur. Als Filmmusik gespielt wird neben Parkers und Presleys Versionen des Titelsongs u.a. auch Presleys Sun-Aufnahme “Blue Moon”.

CHRISTIAN BIELEFELDT


Credits

Vocals: Elvis Presley
Guitars: Scotty Moore, Elvis Presley
Bass: Bill Black
Music/ Writer/ Songwriting: Junior Parker, Sam Phillips
Producer: Sam Phillips
Label: Sun
Recorded: 11.07.1955
Published: 20.08.1955
Length: 2:29

Recordings

  • Elvis Presley. “Mystery Train”. August 1955, Sun 223, USA, 7” Vinyl / 10” Shellac Single
  • Elvis Presley. “Mystery Train”, November 1955, RCA Victor 447-0600, USA, 7” Single, Reissue.
  • Elvis Presley. “Mystery Train”. On: Rock’n’Roll, 1956, His Masters’s Voice CLP 1093, USA, LP.
  • Elvis Presley. “Mystery Train”. On: Elvis, 1959, RCA Victor LPM-1990, USA, LP.
  • Elvis Presley. “Hound Dog / Don’t Be Cruel”. 1956, RCA Victor 47-6604, USA, 7” Single.
  • Elvis Presley. “Blue Moon”. On: Elvis Presley, 1956, RCA Victor LPM-1254, USA, LP.

 

  • Junior Parker & The Blue Flames. “Mystery Train”. 1953, Sun 192, USA, 7” Single.
  • The Carter Family. “Worried Man Blues / The Cannon-Ball”. 1930, Victor V-40317, USA, 10” Shellac 78 rpm.
  • Willie Mae ‘Big Mama’ Thornton. “Hound Dog / Night Mare”. 1953, Peacock Records 5-1612, USA, 7” Single.
  • Woodie Guthrie. “Worried Man Blues”. On: Woodie Guthrie. 1965, Archive Of Folk Music FM-104, USA, LP.

Covers

  • Bob Dylan. “Mystery Train”. On: Springtime in New York. The Bootleg Series Vol, 16 1980-1985, 2021, Columbia, Legacy, USA, 5xCD.
  • The Doors. “Mystery Train”. On: Live In Pittsburgh 1970, 2008, Bright Midnight Records R2 271548, USA, CD.
  • The Grateful Dead. “Mystery Train”. On: The Roots Of Grateful Dead. 2008, Complete Blues SBLUECD058, Europe, CD.
  • Turtles. “Mystery Train”. 1955, RCA Victor 47-6356, USA, 7” Single.

References

  • Bertrand, Michael: I Don’t Think Hank Done It That Way. Elvis, Country Music, and the Reconstruction of Southern Masculinity. In: A Boy Named Sue. Gender and Country Music. Ed. by Kristine M. McCusker et al. Jackson, MS, 2004, 59–85.
  • Bielefeldt, Christian: Rock’n’Roll-Gesang bei Little Richard, Chuck Berry und Elvis Presley. In: Stimme Kultur Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA, 1900–1960. Ed. by Martin Pfleiderer, Tilo Hähnel, Katrin Horn, Christian Bielefeldt. Bielefeld 2015, 335–370.
  • Bielefeldt, Christian: Rock’n’Roll. In: Handbuch Popkultur. Ed. by Thomas Hecken, Marcus S. Kleiner. Stuttgart 2017, 25–30.
  • Burke, Ken/Griffin, Dan: The Blue Moon Boys – The Story of Elvis Presley’s Band. Chicago 2006.
  • Everett, Walter: Pitch Down the Middle. In: Expression in Pop-Rock Music. Critical and Analytical Essays. Volume Two. Ed. by Walter Everett. New York 2008, 111–174.
  • Hodgson, Jay: Understanding Records. A Field Guide to Recording Practice. New York 2010.
  • May, Claudia. ‘Railroad Blues’. Crossing the Tracks of Gender, Class, and Race Inequities in the Blues and in Ann Petry’s the Street. In: Trains. Literature, and Cultures. Reading and Writing the Rails. Ed. by Benjamin Fraser, Steven D. Spalding. Lanham 2012, 3–28.
  • Moore, Scotty with James L. Dickerson: Scotty & Elvis. Aboard the Mystery Train. Jackson, MS, 1997.
  • Peterson, Richard A.: Why 1955? Explaining the Advent of Rock Music. In: Popular Music 9/1 (1990), 97–116.
  • Ripani, Richard J.: The New Blues Music. Changes in Rhythm & Blues, 1950–1999. Jackson, MS, 2006.
  • Ward, Brian: Just My Soul Responding. Rhythm and Blues, Black Consciousness, and Race Relations. Berkeley 1998.
  • Wicke, Peter: Rock und Pop. Von Elvis Presley bis Lady Gaga. München 2011.

Films

  • Mystery Train. Regie, Drehbuch: Jim Jarmusch. JVC Entertainment Networks / Pandora 1988/89, USA, Japan.

About the Author

Dr. Christian Bielefeldt works as a music teacher in Zurich.
All contributions by Christian Bielefeldt

Citation

Christian Bielefeldt: “Mystery Train (Elvis Presley / Junior Parker & The Blue Flames)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://www.songlexikon.de/songs/mystery-train, 03/2023.

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