1955
Chuck Berry

Maybellene

Chuck Berrys MAYBELLENE ist der erste Rock’n’Roll-Song eines Afroamerikaners, der in allen drei Chart-Segmenten gleichzeitig Erfolg hatte (R&B / Pop / Country & Western). In seiner charakteristischen Verbindung von R&B- und Hillbilly-Stilelementen und seiner Akzentuierung von Jugend-Themen ist der Song prototypisch für den Rock’n’Roll der 1950er Jahre. Dabei verweigerte sich Berrys Stimme bis in Timbre, Intonation und Aussprache hinein gewohnten euroamerikanischen Vorstellungen von ‘schwarzer’ Musik. Mit MAYBELLENE und den folgenden Hits entwickelte Berry eine “racially ambiguous postmodern persona” (Narváez 1995: 176), die ihn zum Symbol für die ethnische Diversität des Rock’n’Roll machte.

 

I. Entstehungsgeschichte

Die erste Fassung von MAYBELLENE stammt von Chuck Berry selbst, als (lose) Vorlage diente ihm der traditionelle Country-Music-Song “Ida Red”, bekannt unter anderem durch die im Film Blazing the Western Trail (Regie: Vernon Keays, 1945) enthaltene Western-Swing-Fassung von Bob Wills & The Texas Playboys. Unter dem Titel “Ida May” gehörte dieser zu Berrys Repertoire für Auftritte in nicht-segregierten Clubs mit ethnisch diverser Kundschaft, die Berry selbst “salt and pepper clubs” nannte (Collis 2002: 37). Im Laufe einer Aufnahmesession für das Label Chess Records am 21. Mai 1955 im Chicagoer Universal Recording Studio mit Willie Dixon (Bass), Jerome Green (Maracas), sowie Berrys Triokollegen Ebby Hardy (Drums) und Johnnie Johnson (Klavier) kam es jedoch zu wesentlichen Änderungen an Titel, Text und Besetzung, die maßgeblich Produzent Leonard Chess veranlasste. Bis zur Single-Fassung waren 36 Takes notwendig. Berry war kurz zuvor durch den dort ebenfalls unter Vertrag stehenden Rhythm & Blues-Shouter Muddy Waters an Chess vermittelt worden und stand das erste Mal überhaupt im Tonstudio. Auf späteren Re-Issues der Single werden Rock’n’Roll-DJ und Promoter Alan Freed sowie Russ Fratto als weitere Autoren aufgeführt. Bei Freed darf eine Gefälligkeit für die Verbreitung der Single seitens Chess vermutet werden, bei Russ Fratto ist der Hintergrund unklar, möglicherweise handelte es sich um einen Vertriebspartner von Chess, dem der Label-Eigentümer Geld schuldete. Beide hatten dadurch Anspruch auf einen Teil der Einnahmen, was Berry erst 1986 vor Gericht erfolgreich anzufechten gelang. Berry zufolge haben weder Fratto noch Freed an den Aufnahmen teilgenommen. Als Produzenten sind, wie damals üblich bei Chess, auf der Single die Brüder und gemeinsamen Label-Eigentümer Leonard und Phil Chess genannt.

 

II. Kontext

MAYBELLENE steht exemplarisch für die Art Musik, die als ‘Rock’n’Roll’ Mitte der 1950er Jahre half, ethnische und kulturelle Grenzen innerhalb der USA zu überwinden. Eine an Jugendliche adressierte Welle von Crossover-Hits löste damals eine Diversifizierung und Demokratisierung des bis dahin weitgehend zwischen anglo- und afroamerikanischem Publikum segregierten Musikgeschäft aus. Ausgehend von kleinen, unabhängigen Plattenfirmen und einer wachsenden Zahl von Radiosendern mit afroamerikanischen Musikprogrammen entstand eine ethnisch durchmischte, ab 1955/1956 mit den Erfolgen von Bill Haley und Elvis Presley internationalisierte, sich über die Subversion gesellschaftlich normierter Erwartungen definierende Jugendkultur. Als Voraussetzung für den Aufstieg des Rock’n’Roll gelten soziale und kulturelle Prozesse in den USA, medientechnische Neuerungen sowie juristische Entwicklungen. Die Single Record machte die Plattenproduktion erheblich billiger, die Einführung tragbarer Radios vervielfachte die Möglichkeiten der Musikrezeption und die Gründung der Verwertungsgesellschaft BMI 1939 erschütterte das Geschäftsmodell der großen Marktführer, was einen durchgreifenden Wandel von Repertoire, Hörerschaft und musikindustriellem Zielpublikum auslöste (Bielefeldt 2017: 25–26).

Der am 18. Oktober 1926 in St. Louis, MO, geborene Chuck Berry gilt als zentrale Figur des frühen Rock’n’Roll vor allem durch seinen Beitrag zur Entwicklung des Gitarrenstils. Inhaltlich brachte er mit seinen Texten die Sehnsucht der jugendlichen Rock’n’Roll-Fans nach Auflehnung wie kaum ein anderer auf den Punkt. Auf ein Teenager-Publikum zugeschnitten, drehten sich Berrys Texte um Themen wie Schule, erste Liebe, Autofahren und Rock’n’Roll selbst. Seine erfolgreichsten Songs sind bis heute schnelle Rock’n’Roll-Nummern wie MAYBELLENE, “Roll Over Beethoven” (1956) und “Johnny B. Goode” (1958). Berry war 1955 bereits Familienvater und deutlich älter als sein Publikum, allerdings hielten ihn seine Fans häufig für jünger. Als Live-Act fehlte seiner heiteren Bühnenpersona jeder Anflug von Obszönität. Berry trat elegant im Anzug auf, verband seine Performance mit spielerisch clownesken Zügen, vollführte athletische Tanzbewegungen und wurde für seine komischen Duck-Walk-Einlagen berühmt. Sexuelle Anspielungen verbannte er weitgehend in die Texte. Hier allerdings formulierte Berry Modelle jugendlichen Aufbruchs und Begehrens sowie – z.B. in “School Days” (1957) – bei aller Unbeschwertheit auch Reflexionen über Situation und Geschichte der afroamerikanischen Minderheit in den USA.

 

III. Analyse

MAYBELLENE beginnt direkt mit dem ersten Durchlauf des Refrains, der harmonisch auf einer populären Variante des bis Mitte der 1950er Jahre vor allem im afroamerikanischen Rhythm & Blues verbreiteten, 12-taktigen Blues-Schema basiert (I-I-I-I / IV-IV-II / V V I I in Bb). Die erwartete IV. Stufe im 10. Takt ist in diesem Fall durch eine weitere V. ersetzt (was in gängigen Transkriptionen von MAYBELLENE oft unterschlagen wird). Mit Wechselbassbegleitung, Snare-Backbeat und binärer Metrik enthält der Song gleichzeitig typische Country&Western-Stilelemente, zu denen auch die On-Beat-Phrasierung von Berrys Gesang zu zählen ist. Akzente und betonten Silben fallen nahezu vollständig auf die Hauptschläge. Der betonte Backbeat in den Drums ist zudem ein Bindeglied zum Rockabilly, dessen Sound wesentlich von scharfen Snare-Akzenten auf der zweiten und vierten Taktzeit geprägt ist. Im Wechsel zu den fünf Refrains gibt es vier Strophen (einschließlich der instrumentalen Solo-Strophe mit Berry an der Lead-Gitarre), die harmonisch mit nur einem Akkord auskommen (I. Stufe).

Textlich kreist der Song im schnellen Tempo seiner Gitarren-Riffs um die Autoverfolgungsfahrt als Sinnbild der Jagd nach dem umschwärmten Girl, das sich als ‘Objekt der Begierde’ im rasenden Cadillac Coup de Ville allerdings immer wieder entzieht (Cubitt 1984). Vor allem die zweite Strophe, die das Überhitzen des Motors und seine anschließende Abkühlung durch einen unter die Haube gehenden Regen schildert (“I tooted my horn for a passin’ lead / The rain water blowin’ all under my hood / I knew that was doin’ my motor good”), ist erotisch konnotiert. Berrys Stimme verbindet ein kratziges Timbre mit einem relativ engen, nasalen Stimmsitz und viel Twang, dem typischen, scharfen Stimmklang in der Country Music. Hinsichtlich der vokalen Intonation verortet sich MAYBELLENE dagegen klar im Rhythm & Blues. Die meisten Gesangstöne, am stärksten aber die Terzen, werden von Berry hörbar intonatorisch angeschliffen, also mit kleinen Anfangs- oder Schluss-Glissandi ausgestaltet. Charakteristisch für zahlreiche schnelle Rock’n’Roll-Songs der 1950er Jahre ist der rhythmisch-perkussive Einsatz der Stimme. Die Expressivität von Intervallschritten spielt dagegen kaum eine Rolle. Die treibende rhythmische Agilität der Stimme wird durch Silbeninterpolationen unterstützt, eine in der Gospel Music und im Blues verbreitete Technik, bei der die Silbenanzahl eines Wortes durch zusätzlich eingefügte Silben erhöht wird. Im Vokalstil von Elvis Presley und im Rockabilly spielt diese Technik später eine große Rolle. Berrys Midwestern-Akzent ist besonders in den engen Vokalen präsent (Bielefeldt 2015).

 

IV. Rezeption

Wie von Produzent Leonard Chess erhofft, war MAYBELLENE nicht nur ein großer Erfolg im Black Music Segment (Nr. 1 R&B), sondern erschloss Berry auch die Radio-Pop-Charts (Platz 5). Auch in den Country&Wester-Charts wurde der Song geführt. Die Mischung aus afroamerikanischem Act und einem Song mit Country-Music-Stilistik war Chess schon während der Aufnahmesession vielversprechend erschienen. Berrys Wahrnehmung als “racially ambiguous voice” (Narvaez 1995: 175) entstand nicht zuletzt aufgrund seiner deutlichen Aussprache, die er speziell in Country-Music- und Hillbilly-Songs einsetzte. Sein Midwestern-Akzent erleichterte zudem den Zugang zu Radiosendern, die Vorbehalte gegenüber afroamerikanischem Rhythm & Blues pflegten. Wie Berry berichtet, wurde er nicht nur von Radiohörer*innen häufig für einen Angloamerikaner gehalten: “I suppose I was booked in the South many times as a white singer” (Berry 1987: 135–36). Der Blues- und Jazzsänger Jimmy Witherspoon befand stellvertretend: “Chuck Berry is a country singer” (zit. in Stilwell 2004: 426). Darin bestand vermutlich Berrys wichtigste Provokation: Dass es in der konservativen, ethnisch segregierten US-amerikanischen Gesellschaft der 1950er Jahre so etwas wie ein afroamerikanisches Gegenstück zu Elvis Presley geben konnte, einen schwarzen Popstar mit ethnisch diversem Publikum, der jedenfalls teilweise ‘weiß’ sang.

Wie Mitte der 1950er Jahre üblich, entstanden bereits kurz nach der Veröffentlichung von MAYBELLENE diverse Coverversionen anderer Plattenfirmen. Aufgenommen haben den Song auch Johnny Cash (1958), die Everly Brothers (1969), Elvis Presley (1955), Simon & Garfunkel (1982), Conway Twitty (1956) und Gene Vincent (1959).

CHRISTIAN BIELEFELDT


Credits

Vocals, guitar: Chuck Berry
Piano: Johnnie C. Johnson
Bass: Willie Dixon
Maracas: Jerome Green (or Leonard Chess)
Drums: Ebby Hardy
Music/Writer/Songwriting: Chuck Berry (mistakenly: Russ Fratto, Alan Freed)
Producer: Leonard Chess, Phil Chess
Label: Chess Records
Recorded: 21.05.1955
Published: July 1955
Length: 2:19

Recordings

  • Chuck Berry and his Combo. “Maybellene / Wee Wee Hours”. 1955, CHESS 1604, USA, 7” Vinyl-Single (45rpm).
  • Chuck Berry. “Maybellene”. On: Rock Rock Rock, 1956, CHESS LP 1425. USA, LP.
  • Çhuck Berry and his Combo, “Roll Over Beethoven /Drifting Heart”. 1956, Chess 1626, USA, 7” Single.
  • Chuck Berry, “School Days / Deep Feeling”. 1957, Chess 1653, USA, 7” Single.
  • Chuck Berry. “Johnny B. Goode / Around & Around”. 1958, Chess 1691, USA, 7” Single.
  • Bob Wills & The Texas Playboys. “Ida Red”. On: Legends Of Country Music. Bob Wills and his Texas Playboys. 2006, Columbia 82796 93858 2, USA, 4xCD.

Covers

  • Johnny Cash, “Maybellene”. On: The Class Of 1955, 1986, Mercury 830002-2, USA, CD.
  • The Everley Brothers, “Maybelline”. On: Featuring Wake Up Little Susie, 1969, Harmony HS 11304, USA, Vinyl-LP.
  • Elvis Presley, “Maybellene”. On: Elvis Presley ’55 (Recorded Live At The Louisiana Hayride), 1983, The Music Works PBC 3601, USA, Vinyl-LP.
  • Simon & Garfunkel, “Maybellene”. On: The Concert In Central Park, 1982, Warner Bros. Records 2BSK 3654, USA, 2xVinyl-LP.
  • Conway Twitty, “Maybellene”. On: The Conway Twitty Collection, MCA Records MCAD4-11095, 1994, USA, 4xCD.
  • Gene Vincent, “Maybellene”. On: Sounds Like Gene Vincent, 1959, Capito Recrods T1207, USA, LP.

References

  • Bielefeldt, Christian: Rock’n’Roll-Gesang bei Little Richard, Chuck Berry und Elvis Presley. In: Stimme Kultur Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA, 1900–1960. Ed. by Martin Pfleiderer, Tilo Hähnel, Katrin Horn, Christian Bielefeldt. Bielefeld 2015, 335–370.
  • Bielefeldt, Christian: Rock’n’Roll. In: Handbuch Popkultur. Ed. by Thomas Hecken, Marcus S. Kleiner, Stuttgart 2017, 25–30.
  • Berry, Chuck: The Autobiography. New York 1987.
  • Collis, John: Chuck Berry. The Autobiography. New York 2002.
  • Cubitt, Sean: Maybellene. Meaning and the Listening Subject. In: Popular Music 4 (1984), 207–224.
  • Narváez, Peter: Chuck Berry as Postmodern Composer-Performer. In: Folklore, Literature, and Cultural Theory. Collected Essays. Ed. by Cathy Lynn Preston. New York 1995, 169–186.
  • Stilwell, Robynn: Music of the Youth Revolution. Rock Through the 1960’s. In: The Cambridge History of Twentieth Century Music. Ed. By Nicholas Cook und Anthony Pople. Cambridge 2004, 418–452.

Films

  • Blazing the Western Trail. Regie: Vernon Keays. Columbia Pictures 1945, USA.

About the Author

Dr. Christian Bielefeldt works as a music teacher in Zurich.
All contributions by Christian Bielefeldt

Citation

Christian Bielefeldt: “Maybellene (Chuck Berry)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://www.songlexikon.de/songs/maybellene, 03/2023.

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