1954
Ray Charles

I’ve Got a Woman

Der blinde Pianist, Sänger und Songwriter Ray Charles Robinson (1930-2004) gehört zu den herausragenden Vertretern der afroamerikanischen Musik des 20. Jahrhunderts. Obwohl Charles seine größten kommerziellen Erfolge in den 1960er und 1970er Jahren mit Crossover-Alben erzielt, gilt er als Wegbereiter und einer der größten Stars des Soul, in dem sich Ende der 1950er Jahre die schwarzen Musikstile Gospel und Rhythm&Blues zu einem neuen, einflussreichen Mix verbinden.

I. Entstehungsgeschichte

1954 hört Ray Charles auf einer seiner Konzertreisen den im selben Jahr in Houston/Texas produzierten Gospel-Song der Vokalgruppe Southern Tones im Radio: “It Must Be Jesus”. Die Aufforderungen seiner Produzenten im Ohr, seinen Sound persönlicher zu machen, beginnt Charles, ihn in seine Auftritte einzubauen und gemeinsam mit Trompeter Renald Richards mit Text, Tempo und Besetzung zu experimentieren. Bei der nächsten Aufnahmesession am 18. November 1954 im Studio des Radiosenders WGST in Atlanta, geleitet von den beiden Atlantic-Record-Inhabern Ahmet Ertegun und Jerry Wexler, fließen diese Erfahrungen in eine der einflussreichsten Black-Music-Produktionen der 1950er Jahre ein. Es spielt das Ray Charles Septet – hier zum Oktett erweitert – mit den Trompetern Charles ‚Clanky’ Whitley und Joe Bridgewater, den beiden Jazz-Saxophonisten Donald Wilkerson (Tenor) und David “Fathead” Newman (Bariton) sowie Wesley Jackson (Gitarre), Glenn Brooks (Drums) und Jimmy Bell (Bass).

II. Kontext

Ray Charles von großen musikalischen Höhepunkten wie von Drogenmissbrauch und psychischen Zusammenbrüchen gezeichnete Weltkarriere ist in ihrer musikalisch wohl produktivsten Phase zwischen 1952 und 1958 eng verbunden mit dem Produzenten Jerry Wexler, dem unermüdlichen Ideengeber, Finanzier und Antreiber im Hintergrund von Charles großen Hits “Mess Around” (1953), I’VE GOT A WOMAN (1954) und “What I’d Say” (1958).

Mit I’VE GOT A WOMAN gelingt Charles und Wexler eine neue, zündende Mischung aus der Leidenschaft und Inbrünstigkeit des Gospelgesangs, dem elektrisierenden Groove des Rhythm & Blues (R&B) und der instrumentalen Brillanz des Jazz, die seitdem nicht mehr aus der Black Music wegzudenken ist. Charles wird dadurch neben Sam Cooke und Jackie Wilson zum Geburtshelfer des Soul, der sich Mitte der 1950er Jahre gegen den Rock´n´Roll behauptet (1954 ist auch das Jahr von Bill Haleys “Rock Around the Clock”, der die weltweite Rock´n´Roll-Hysterie auslöst) und Ende des Jahrzehnts schließlich als führender Stil afroamerikanischer Musik etabliert.

III. Analyse

Im Vergleich zur Gospel-Vorlage zieht Charles das Tempo stark an. Sein Gesang klingt, als befinde er sich in einem überfüllten Nachtklub; alle wesentlichen Merkmale seines unverwechselbaren Vokalstils – Gospel-ähnlicher Einsatz der vollen Bruststimme mit gelegentlichen, deutlich hörbaren Registerwechseln und schnellem Umschlagen ins Falsett, ein geräuschhaftes, körperbetontes Timbre, diverse Glissandi und eine verschliffene Intonation mit von unten angesteuerten Tonhöhen, Verwendung der Blues-Skala, starkes Off-Beat-Feeling durch das Setzen der Akzente dicht neben die Taktschläge, eingestreute Shouts (O Yeah) – sind zu hören. Und Charles erfindet einen Text, in dem es statt um Jesus um eine attraktive Frau geht. Bei It Must Be Jesus heißt es in der zweiten Strophe: “There’s a man (it must be Jesus) Giving sight (must be Jesus) To the blind (must…) He healed the sick He raised the dead Yes, Jesus gave To who needed bread”. Richtet sich der inbrünstig gläubige Text der Southern Tones an den wundertätigen Jesus, der die Blinden sehend macht, die Kranken heilt, die Hungernden speist und die Verlassenen tröstet, gilt die Inbrunst bei Charles einer in jeder Hinsicht weltlichen Ekstase, und einer nicht nur sexuell, sondern auch ökonomisch alle Wünsche befriedigenden Geliebten. In der ersten Strophe zu I’VE GOT A WOMAN ist zu hören: “Well… I got a woman, way over town She’s good to me, oh yeah She gives me money when I’m in need Yeah, she’s a kind of friend indeed She saves her lovin’, early in the mornin’ Just for me, oh yeah Always loves me, so tenderly.” Später fast Charles die vier wesentlichen Themen seiner Songs wie folgt zusammen: “There are four basic things: love, somebody runnin’ his mouth too much, having fun, and jobs are hard to get” (zit. n. Hubbard-Brown 2008: 40).

Der Instrumentalsatz ist von der stilbildenden Besetzung mit vier Bläsern – denen Charles die ursprünglich gesungenen “Must Be Jesus”-Responses überträgt – und Rhythmusgruppe geprägt; als ungewöhnlich im R&B-Kontext sind das Saxophonsolo und im Schlagzeug der jazzige Einsatz der Snaredrum zu nennen.

IV. Rezeption

I’VE GOT A WOMAN, Peter Shapiro zu Folge eine der zwei oder drei wichtigsten jemals veröffentlichten Singles (Shapiro 2000, S. 24), wird zum Durchbruch für Charles und zu seinem ersten Nr.1-Hit in den R&B-Charts. Dennoch sorgt der Song für einen Skandal, der die afroamerikanische Bevölkerung in den USA spaltet wie kaum eine Musik zuvor. Keiner hat es bis dahin gewagt, eine bekannte Gospel-Melodie mit einem erotisch eingefärbten Text zu verbinden – Gospel und R&B, die beiden großen schwarzen Musikstile, gelten als ebenso unvereinbar wie Kirche und Tanzbar. Gegen die offensichtliche Vermischung von Blues und Gospel regt sich von beiden Seiten Widerstand. In den baptistischen Gemeinden gilt der R&B als “Devil’s Thing”. Der Blues-Sänger Big Bill Broonzy wiederum äußert: “He’s mixing the Blues with the spiritual. That’s wrong […] He has a good voice, but it’s a church voice. He should be singin’ in the church” (zit. n. Ripani 2006: 73). Doch der Siegeszug seiner musikalischen Idee, die Soulsängern wie Otis Redding und Wilson Pickett entscheidend den Weg bereitet, lässt sich nicht aufhalten. 1956 bringt Elvis Presley auf seinem Debütalbum eine vielbeachtete Coverversion des Songs heraus, ein Jahr später erscheint I’VE GOT A WOMAN erneut auf einem Album, das später unter dem Titel Hallelujah / Love Her So vermarktet wird. Spätestens 1959, als mit “What’d I Say” Charles größter Erfolg entsteht, den der blinde Sänger Zeit seines Lebens als Schluss-Song seiner Konzerte spielt, hat der Soul den musikalischen Herzschlag Amerikas unwiderruflich verändert.

 

CHRISTIAN BIELEFELDT


Credits

Vocals: Ray Charles
Gitarre: Wesley Jackson
Bass: Jimmy Bell
Drums: Glenn Brooks
Trompete: Charles Whitley, Joe Bridgewater
Tenorsaxophon: Donald Wilkerson
Baritonsaxophon: David Newman
Autor: Ray Charles
Produzeten: Jerry Wexler, Ahmet Ertegun
Label: Atlantic-Record
Recorded: 18. November 1954
Spieldauer: 2:48 min

Recordings

  • Ray Charles. “I’ve got a woman”. On: I’ve got a woman/ Come Back, 1954, Atlantic, 1050, US (10”).
  • Ray Charles. “I’ve got a woman”. On: I’ve Got A Woman, 1954, Atlatic, 45-1050, US (7”, Single)
  • Ray Charles. “I’ve got a woman”. On: I’ve Got A Woman, 1972, Atlatic, 45-1050, US (7”, Single, RE)

References

  • Evans, Mike: Ray Charles. The Birth Of The Blues. London: Omnibus 2005.
  • Guralnick, Peter: Sweet Soul Music. Rhythm And Blues And The Southern Dream Of Freedom. New York: Harper & Row 1986.
  • Hubbard-Brown, Janet: Ray Charles – Musician. New York: Infobase Publishing 2005.
  • Ripani, Richard J.: The New Blue Music. Changes in Rhythm & Blues, 1950-1999. Jackson: University Press of Mississippi 2006.

About the Author

Dr. Christian Bielefeldt works as a music teacher in Zurich.
All contributions by Christian Bielefeldt

Citation

Christian Bielefeldt: “I’ve Got a Woman (Ray Charles)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/ivegotawoman, 11/2011 [revised 10/2013].

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