1955
Ray Charles

Hard Times (No One Knows Better Than I)

HARD TIMES, von Ray Charles 1955 aufgenommen, macht den Übergang vom Rhythm & Blues zur Soul Music im Brennglas eines einzigen Songs hörbar. Stellt sich der Song im ersten Teil als Bluessong im Stil des R&B-Sängers Charles Brown dar, ist der zweite Teil mit seinen Seufzern, Rufen und ekstatischen Schreien als ein Sprung in die vokale Expressivität des Soul zu werten, in dem sich weltliche und geistliche Traditionen der Black Music vermengen. Während der Song von der Plattenfirma Atlantic Records zunächst nicht als Hit-Kandidat eingeschätzt und daher erst sechs Jahre nach seiner Aufnahme überhaupt veröffentlicht wurde, gilt er heute als wichtiger Schritt in der künstlerischen Entwicklung von Charles und damit auch der afroamerikanischen Popular Music der USA in den 1950er Jahren.

 

I. Entstehungsgeschichte

Ray Charles und seine Band nahmen am 23. April 1955 im Atlantic-Studio in Miami, Florida vier Songs auf, neben “This Little Girl Of Mine” und einem Instrumentalstück (“A Bit of Soul”) auch die beiden Rhythm & Blues-Balladen “A Fool for You” und HARD TIMES. Ein Jahr zuvor hatten Charles und Atlantic-Produzent Jerry Wexler mit “I’ve Got a Woman” (1954) erstmals die Verbindung einer Gospel-Melodie mit weltlichem Text gewagt. Bei “This Little Girl Of Mine”, einer Version des Gospelsongs “This Little Light Of Mine” mit neuem Text, wiederholten sie dieses Prinzip. Mit HARD TIMES ging Charles den umgekehrten Weg und verband einen typischen R&B-Balladentext mit dem gesanglichen Ausdrucksrepertoire der Gospel Music. Als Vorlage diente ihm der von Wexler und Atlantic-Songwriter Mike Stoller geschriebene und 1951 von R&B-Sänger Charles Brown aufgenommene Song “Hard Times”, mit dem Ray Charles Version trotz neuem Text und anderer Melodie einige Ähnlichkeiten aufweist. Neben Charles sind sechs Atlantic-Musiker an der Aufnahme beteiligt, fünf Bläser (2 Trp, 3 Sax), der Bassist Roosevelt Sheffield und William Peebles an den Drums. Wie üblich, sang Charles und spielte gleichzeitig selbst Klavier. Jerry Wexler und Atlantic-Chef Ahmet Ertegün misstrauten jedoch der Hitfähigkeit der düsteren Aufnahme. Erst in einer vier Jahre später entstandenen Version, die Ray Charles für das Album Fathead gemeinsam mit den Jazzmusikern David ‚Fathead‘ Newman, Marcus Belgrave, Bennie Crawford und Edgar Willis einspielte, wurde HARD TIMES erstmals veröffentlicht. Kurz bevor Charles 1962 bei ABC unterschrieb, brachte Atlantic schließlich auch die Erstaufnahme von HARD TIMES als Single (1961) und noch im selben Jahr auch auf dem Compilations-Album The Genius Sings The Blues auf den Markt.

 

II. Kontext

Anders als die Rock’n’Roll-Stars mit ihren jugendlich überdrehten Images, entwickelte Ray Charles Mitte der 1950er Jahre die Starpersona einer etablierten, alles überragenden Künstlerpersönlichkeit, gipfelnd in dem Albumtitel Genius of Ray Charles (1959). Zeitgenössische Spitznamen wie ‘Brother Ray’, ‘The Reverend’ und ‘The High Priest’ (Greenfield 2011:74) unterstreichen den Rang des als Kind erblindeten Sängers, Pianisten und Songwriters für sein Publikum. Dabei kam Charles zugute, dass er sich in der Zusammenarbeit mit seiner Produktionsfirma Atlantic Records weitreichende künstlerische Freiheiten errang. Auch deswegen gingen von ihm in seiner musikalisch innovativsten Karrierephase ca. 1952-1960 entscheidende Anstöße für die Entwicklung des Soul aus. Charles und sein Produzent Jerry Wexler verbanden Gospelmelodien nicht als erste, aber konkurrenzlos erfolgreich mit weltlichen Texten, rhythmisch treibendem Rhythm & Blues und einer am Jazz orientierten Besetzung. Sie drehten sich nicht mehr um die Liebe zu Gott, wie ihre Vorlagen, sondern um begehrenswerte Frauen und erotische Fantasien, über die Charles mit einer Ekstase sang, die man sonst nur aus der Gospel Music kannte. Charles war selbst nie professioneller Gospelsänger, ist aber mit der Praxis des afroamerikanischen Prediger- und Gemeindegesangs aufgewachsen. Neben seinen R&B-Idolen Nat King Cole und Charles Brown verehrte er auch Hard Gospel-Sänger wie Alex Bradford, Archie Brownlee oder Jess Whitaker, den Leadsänger der Pilgrim Travelers (Boyer 2000: 193, Heilbut 1975: 47, 83-84).

 

III. Analyse

HARD TIMES besteht aus vier Strophen mit jeweils anschließendem Refrain (A1B1-A2B2-A3B3-A4B4). Allerdings unterschlägt der Aufbau die entscheidende Pointe des Songs: Zwar verändern sich beide Formteile äußerlich kaum – alle Strophen und alle Refrain bringen jeweils zwei Textzeilen, die sich auf gleichbleibend vier Takte verteilen, und halten sich ohne größere Abweichungen an die zu Beginn etablierte Akkordfolge. Dennoch wird man HARD TIMES kaum anders hören können, als von Entwicklung und einer markanten, an Gospel-Ekstase erinnernden Intensitätssteigerung bestimmt. Sie ist bis zur Mitte des Songs kaum zu ahnen, nimmt dann aber vor allem in der Singweise extreme Formen an, bis hin zu mehreren Ausbrüchen und Schreien.

Der Song beginnt mit einem ohne Puls gespielten, arpeggierten Bb#5-Akkord im Klavier, der sich in der Folge als V. Stufe der Grundtonart (Eb-Dur) erweist – charakteristisch für die Strophe ist der Weg über eine Zwischendominante zur Mollparallele (Cm), von der aus es zu einer chromatischen Abwärtsbewegung kommt, bis die V. Stufe erreicht ist, die wieder zurück zur Grundtonart führt. Auch im Refrain spielen chromatische Verbindungen (zunächst aufwärts von A7 zu Adim., dann abwärts, etwas versteckt in der VI-V-I-Verbindung am Schluss) eine prägende Rolle.

Wie in der Vorlage von Charles Brown, liegt das Tempo bei etwa 60bpm. Trotz eklatanter Unterschiede in der technischen Aufnahmequalität, hört man im ersten Teil auch sonst viele vokalstilistische Gemeinsamkeiten (Bielefeldt 2015). Charles’ Stimme klingt vergleichbar mikrofonnah wie die von Brown und der Gesang ist in beiden Versionen von einer zurückhaltenden Singweise mit weichen, von unten angeschliffenen Tonanfängen und einem warmen, heiseren Stimmklang geprägt. Die entspannt ausklingenden Melismen, die beide mehr verschlucken als singen, sind sich ausgesprochen ähnlich. Im Unterschied zur Vorlage, die diesem Vokalstil auch im weiteren Verlauf treu bleibt, hebt Charles aber der dritten Strophe Lautstärke und Rauheit gospel-typisch stark an (ab 1:43). Unterstützt durch den Einsatz der Bläser-Akkorde, reichen die vokalen Mittel jetzt von einer murmelnden Singweise mit kaum mehr als angedeuteten Tönen über ein stark behauchtes Falsett (2:06; 2:39), extrem raue Stimmklänge (1:54), gekreischte Rufe (u. a. 2:07; 2:26), virtuose Ornamente (u. a. 2:09–2:11; 2:17–2:20) bis hin zu wegbrechenden Tönen mit plötzlichem Registerwechsel ins Falsett. Den ersten Refrain kennzeichnet noch eine gleichbleibende, zurückhaltende Dynamik sowie mehrere kurze Spannungsbögen, die ab dem dritten Einsatz jeweils resignativ mit einem Abwärts-Glissando beschlossen werden. Der letzte Refrain (1:58-2:14) besteht dagegen aus nur noch anderthalb Phrasen mit dem entscheidenden Aufschwung zum Spitzenton c2, von dem aus die Melodie über melismatische Figuren schließlich wieder herunter zum Grundton absteigt (und darunter). Jetzt ist auch die Dynamik extrem gesteigert und die Lage um eine Oktave nach oben versetzt. Vor allem aber sind die gesanglichen Mittel stark erweitert (behauchtes Falsett mit starkem Vibrato bei “hard”, langer, gepresster Schrei bei “yeah”, längere und komplexere Ornamente, plötzlich brechender Stimmklang beim ersten “hard”). Gegen Schluss hin findet sich auch ein Hiccup, also ein plötzlicher Registerwechsel am Ende des Tons mit nachfolgendem, durch ein schnelles Aufwärtsglissando überbrückten Sprung (2:23). Gemeinsamkeiten aller Refrains liegen in den angeschliffenen am Phrasenbeginn sowie in der Offbeat-Phrasierung, die schwere Taktzeiten vermeidet. Beide enthalten außerdem textliche Einschübe im Sinne einer Bekräftigung und Verstärkung (“oh yeah”, “Lord”, “you know”).

 

IV. Rezeption

Die Ausbildung einer persönlichen, unverwechselbaren Stimme um das Jahr 1955 spielt eine Schlüsselrolle in den Äußerungen von Ray Charles selbst und auch der biographischen Literatur (Charles and Ritz 2004, Lydon 2004). Wenn Charles, wie viele Rhythm & Blues-Sänger seines Alters, im Rahmen der weltweiten Begeisterung für Elvis Presley, Bill Haley und ihre afroamerikanischen Kollegen Mitte der 1950er Jahre gelegentlich zum Rock’n’Roll gerechnet wurde (Schwartz 2008: 38), widersprach das seinem Selbstverständnis. Für ihn war entscheidend, dass sein Publikum die Hinwendung zur Gospel Music nicht nur als stilistische Entwicklung erlebte, mit der er sich vom Bluesgesang seiner Vorbilder Charles Brown und Nat King Cole emanzipierte, sondern als Entwicklung einer Stimme, die durchlässig war für den Ausdruck kollektiver afroamerikanischer Erfahrung, “to make his personal history live and breathe through his music, making it available to other blacks as a commentary on their own experiences and as a dramatization of their deepest feelings” (Ward 1998: 185). Zu hören ist diese eigene und zugleich exemplarische, afroamerikanische Erfahrung transportierende Stimme in dieser Klarheit erstmals in HARD TIMES. Da allerdings Wexler und Ertegün “A Fool for You” für den aussichtsreichsten der am 23.04.1955 produzierten Songs, und laut Charles-Biograf Michael Lydon (2004: 121) überhaupt für seine beste je bei Atlantic Records produzierte Platte hielten, blieb HARD TIMES vier Jahre im Atlantic-Archiv liegen. Der kommerzielle Erfolg gab den beiden Recht, “A Fool for You”, mit “This Little Girl of Mine” auf der B-Seite, erreicht im Juni 1955 Platz 2 in den Rhythm & Blues-Charts, einen Platz hinter “Ain’t That a Shame” von Rock’n’Roll-Star Fats Domino, dem überragenden Rhythm & Blues-Hit des Jahres. Heute ist HARD TIMES ein im Netz gerne und viel von Amateuren performter Klassiker, von dem es nur wenige professionelle Cover-Versionen gibt, darunter eine nahezu Note-für-Note an Charles‘ Version orientierte Fassung von Eric Clapton. Das bereits 1961 aufgenommene “Hard Times” der jungen Aretha Franklin enthält nur einen kurzen vokalen Schluss-Refrain und wird weitgehend von Franklin am Klavier (plus Band) bestritten. Diese Aufnahme fand ihrerseits erst Jahrzehnte später den Weg in die Öffentlichkeit.

CHRISTIAN BIELEFELDT


Credits

Vocals, Piano: Ray Charles
Trumpet: Joe Bridgewater, Riley Webb
Alt- und Baritonsaxophon: David Newman
Tenorsaxophon: Don Wilkerson
Bass: Roosevelt Sheffield
Drums: William Peebles.
Music/ Writer/ Songwriting: Ray Charles
Producer: Ahmet Ertegün, Jerry Wexler
Label: Atlantic Records
Recorded: 23. April 1955
Published: 1961
Length: 2:55

Recordings

  • Ray Charles. “Hard Times (No One Knows Better Than I)”. On: The Genius Sings The Blues, 1961, Atlantic 8052, USA. LP, Mono.
  • Ray Charles. “Hard Times (No One Knows Better Than I / I Wonder Who”, 1961, Atlantic 45-2118, USA, 7” Single.
  • Ray Charles. “Hard Times (No One Knows Better Than I)”. On: The Ray Charles Story Volume 3, 1962, Atlantic 8083, USA.
  • Ray Charles. “A Fool For You / This Little Girl Of Mine”. 1955, Atlantic 1063, USA, 7” Single.
  • Ray Charles. “A Bit Of Soul”. 1955, Atlantic 45-2094, USA, 7” Single.
  • Fats Domino. “Ain’t That A Shame”. 1955, Imperial X5348, USA, 7” Single.

Covers

  • Ray Charles, David Newman. “Hard Times”. On: Fathead, 1959, Atlantic 1304, USA, LP.
  • Aretha Franklin. “Hard Times”. On: The Queen In Waiting – The Columbia Years 1960-1965, Columbia C2K 85696, 2002 (rec. 1961).
  • The Anita Kerr Singers. “Hard Times (No One Knows Better Than I)”. On: ‘The Genius’ In Harmony, 1962, RCA Victor LPM-2581, USA, LP.
  • Billy Fury. “Hard Times”. On: Billy, 1963, Decca LK 4533, UK, LP.
  • Eric Clapton. “Hard Times”. On: Journeyman, 1989, Reprise Records 9 26074-2, USA, CD.

References

  • Bielefeldt, Christian: ‘Bring It On Home to Me’. Anfänge des Soulgesangs. In: Stimme Kultur Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA, 1900-1960. Ed. by Martin Pfleiderer, Tilo Hähnel, Katrin Horn, Christian Bielefeldt. Bielefeld 2015, 371-424.
  • Charles, Ray/David Ritz: Brother Ray. Ray Charles’ Own Story. Philadelphia 2004.
  • Lydon, Michael: Ray Charles. Man and Music. Updated Commemorative Edition. New York 2004.
  • Ripani, Richard J.: The New Blues Music. Changes in Rhythm & Blues, 1950-1999. Jackson, MS, 2006.
  • Schwartz, Andi: ‘Ray Charles’. In: Icons Of Rock. Ed. By Scott Schindler and Andy Schwartz. Westport 2008, 27-54.
  • Ward, Brian: Just My Soul Responding. Rhythm and Blues, Black Consciousness, and Race Relations. Berkeley 1998.

About the Author

Dr. Christian Bielefeldt works as a music teacher in Zurich.
All contributions by Christian Bielefeldt
Print