ZUHAUSE ist die zweite Singleauskopplung aus dem Album nie des über YouTube bekanntgewordenen Heimwerkers und Multitalents Fynn Kliemann. Der Song hat den Aufbau eines klassischen Popsongs mit eingängiger Melodie und seelenvollem Text. Zuhause ist für Kliemann kein Ort, sondern eine Person. Mit dem erfolgreichen Radiohit liefert er den Beweis, dass YouTuber auch ernstzunehmende Musiker sein können und zeigt, dass es keine großen Plattenlabels mehr braucht, um erfolgreich Platten auf den Markt zu bringen.
I. Entstehungsgeschichte
Fynn Kliemann ist Marketingprofi mit eigener Agentur, erfolgreicher YouTuber, Gründer des Kliemannslands, einem Zentrum für Kreativität auf einem Bauernhof in Niedersachsen und hat sein eigenes Fernsehformat auf dem Content-Netzwerk Funk von ARD und ZDF. Er hat bereits ein Buch mit dem Titel Öv Aeöv Eueij veröffentlicht und als Schauspieler vor der Kamera gestanden. Mit seinem Hof lockt der Influencer junge Menschen aufs Land. Dort bietet er ihnen die Möglichkeit, sich kreativ zu betätigen, Musik zu machen und sich in landwirtschaftlicher Arbeit zu üben (vgl. Eder 2018).
Kliemanns musikalischer Werdegang startete bereits in frühester Jugend in mehreren Thrash-Metal-Bands. Er spielte dort Schlagzeug und Gitarre. Später nahm er als Mitglied eines Singer-Songwriter-Duos ein Album auf, mit dem er auf Europa-Tour ging. Nachdem sich sein Bandkollege selbstständig gemacht hatte, schrieb Kliemann alleine weiter Songs (vgl. Niang 2018).
Für seine YouTube-Videos und die Funk-Sendung Kliemannsland komponierte er zahlreiche Lieder, die als musikalische Untermalung dienten und nicht professionell veröffentlicht wurden. Der passionierte Songwriter schrieb so in Heimarbeit über 200 Musikstücke. Durch diese Werke wurde das Berliner Plattenlabel Four Music, eine Tochtergesellschaft von Sony Music Entertainment auf ihn aufmerksam und bot ihm einen Plattenvertrag an. Diesen lehnte Kliemann jedoch ab und gründete kurzerhand sein eigenes Label Two Finger Records, auf dem er am 28. September 2018 seine Solodebüt-LP nie veröffentlichte (vgl. Kliemann /b/ 2018).
Die zunächst selbst für das Album produzierten Songs waren laut Kliemann halbfertig und es fehlte der letzte Schliff, um sie ‘hörbarer’ zu machen. Daher holte er sich Hilfe bei den Musikproduzenten Niklas Tietjen und Philipp Schwär. Mit ihnen gemeinsam gelang es ihm, aus den halbfertigen Liedern, eingängige Popsongs mit Hitcharakter zu basteln (vgl. ebd.). Den gesamten Prozess der Entstehung seines Debütalbums beschreibt Kliemann als namensgebend für sein Werk.
Das hier sollte eigentlich nie fertig werden. Jahre hab ich alleine Musik gemacht, hunderte Songs geschrieben, dann nen Plattenvertrag abgesagt, ein eigenes Label gegründet und endlich alles, was mich wirklich beschäftigt auf eine Platte gebracht. Wie immer von den Songs, über die Videos bis zum Artwork und der Website, alles selfmade. Ich hoffe sie bedeutet dir ein bisschen von dem, was sie mir bedeutet (Kliemann /a/ 2018).
Für den Vertrieb seiner Platte überlegte sich Kliemann ein ganz besonderes Konzept: Das Album nie wurde nur ein einziges Mal physisch produziert, um eine verschwenderische Produktion von Musik zu verhindern (vgl. Kliemann /a/ 2018).
Durch eine Art Crowdfunding-Aktion gab es über 80.0000 Vorbestellungen auf einer eigens für den Vertrieb eingerichteten Website. Platten und CDs wurden daraufhin nur so viele hergestellt, wie bis zum Release-Tag über die Projekt-Homepage bestellt wurden (vgl. Santjer 2018).
Fynn Kliemann entschied sich bewusst gegen die Auswertung der physischen Plattenverkäufe in den Charts. Dennoch schaffte es das Album per Streaming und Download auf Platz acht der Top 100 Longplay (vgl. Medwedeff 2018).
II. Kontext
In der neueren Popmusikgeschichte lässt sich immer häufiger das Phänomen beobachten, dass Musikerinnen und Musiker eigene Labels gründen, um ihre Platten zu produzieren und selbst auf den Markt zu bringen. Dabei verzichten sie bewusst auf die Unterstützung von etablierten Plattenlabels und gewinnen dabei musikalische Autonomie. Die Künstlerinnen und Künstler können auf diesem Weg über die Musikproduktion und die Vermarktung ihres Produkts mitbestimmen und verdienen mehr an den tatsächlichen Verkäufen.
Wie Hits gemacht werden, ändert sich derzeit extrem. Besonders junge Fans entdecken Musik heute über Playlists auf Streamingdiensten. Die Online-Vermarktung wird zunehmend wichtiger und klassische Musikredaktionen verlieren an Bedeutung (vgl. Möller 2018).
Im digitalen Zeitalter wird daher versucht, Fans online zu mobilisieren und diese dort zum Kauf ihrer Produkte zu bewegen, wo sie die Musik hören. Fynn Kliemann nutzte für die Vermarktung des Albums seinen Influencer-Status in sozialen Medien, den er durch zahlreiche Heimwerkervideos erlangt hat.
Auf seinem Debüt-Album nie behandelt Fynn Kliemann thematisch die eigene Rastlosigkeit, familiäre Vorfälle und die aufrichtige Liebe (vgl. Niang 2018). Er äußert klare Kritik an oft oberflächlicher deutschsprachiger Musik. Sein Album soll daher betont ehrlich und persönlich sein. “Ich glaube die Leute haben echt Bock auf irgendwas das man ernst nehmen kann und wo auch ein Gefühl ehrlich ist” (ebd.). Offensichtlich trifft er hiermit genau den Nerv der Zeit.
III. Analyse
Die Geschichte des Songs ZUHAUSE ist aus der Ich-Perspektive erzählt, was den autobiografischen Inhalt des Songtexts betont. Besungen wird das Gefühl, sich bei einer Person so geborgen zu fühlen, dass sie das “Zuhause” ist. Der Song hat eine Dauer von 3:21 Minuten und entspricht somit der ‘klassischen’ Länge eines Popsongs.
Die instrumentale Begleitung, welche vom Piano dominiert wird, vermittelt eine ruhige, heimelige Atmosphäre und bildet ein harmonisches Zusammenspiel mit dem Text. Dieser beschreibt das Zuhause in Form einer Person: “Ganz egal wo wir landen / Mein Zuhause ist kein Ort / Das bist du”. Zu dieser Person kehrt der Protagonist des Liedes immer wieder zurück: “Ich wollt dir nur sagen, ich komm gern nach Hause”.
Mit kratziger Stimme singt Kliemann gekonnt lässig und authentisch von Liebe und Heimat. Er benutzt hierfür eine sehr bildhafte Sprache, die seine ‘ehrlichen’ Geschichten anschaulich macht und zu seinem kreativen Heimwerker-Image passt: “Ich brauche ‘nen Rahmen / Du ziehst soweit auf wie du kannst / Ich denke in Farben / Und du bemalst jede Wand”.
Der Song ZUHAUSE ist in Form einer für die Popmusik typischen Vers-Chorus-Struktur aufgebaut (vgl. Kramarz 2014: 169–171). Das Piano spielt in Intro und Outro sowie als Begleitung in den Strophen. Im ersten Chorus setzen Drums ein, wodurch der Song in gewisser Hinsicht Fahrt aufnimmt. Auch im weiteren Verlauf des Songs scheinen sie als ‘treibende Kraft’ zu wirken. Zusätzlich zu Piano und Drums dienen im Chorus Streicher sowie dezenter Background-Gesang als Begleitung und bilden einen üppigen Klangteppich. Die Bridge, als retardierendes Moment mit neuer Melodie vor dem letzten Chorus, leitet das große Finale des Songs ein.
Das Plattencover des Albums zeigt einen Farbeimer, in den Fynn Kliemann türkise Farbe schüttet. Es nimmt somit Bezug auf die Heimwerker-Leidenschaft und das Do-it-yourself-Konzept des Interpreten. Die türkise Farbe des Covers zieht sich als gestalterisches Element durch das gesamte Layout der LP. So ist die Vinyl-Platte ebenfalls in transparentem Türkis gestaltet.
Fynn Kliemanns Musikvideos erwecken den Eindruck, dass sie sich vom Pop-Mainstream abheben sollen. Sie sind keine typischen Musikvideos, sondern selbst vom Künstler produziert im Blick-hinter-die-Kulissen-Look. Im Musikvideo von ZUHAUSE tätowiert Fynn Kliemann 43 Freunden die Lyrics des Songs auf die Haut (vgl. Kliemann /c/ 2018). Hiermit nimmt er direkt Bezug auf den Songtext “Auch mit faltiger Haut, das hier bleibt unser Tattoo”. So zitiert der Künstler innerhalb des Videos seinen eigenen Text und schafft einen intermedialen Verweis.
Freundschaft, Liebe, Heimat und Geborgenheit: Diese Themen werden in Text und Video von ZUHAUSE behandelt und verdeutlichen die Verhaftung des Künstlerimages in gängigen Authentizitätsvorstellungen und womöglich auch die Sehnsüchte der Generation, die seine Musik rezipiert.
IV. Rezeption
Der Song ZUHAUSE wurde vor allem durch die Vermarktung auf sozialen Netzwerken bekannt und zudem im Radio gespielt. Er erschien nicht als physische Single, wurde jedoch durch das Album nie zum Streaming bereitgestellt und landete in den deutschen Charts auf Platz 53.
Fynn Kliemann lehnte Live-Konzerte und Touren von vornherein ab. Lediglich für einige wenige Fernsehshows spielte er bisher einzelne Songs live. 2018 wurde Kliemann als Newcomer des Jahres bei 1 Live Krone ausgezeichnet.
In einem eigens für das Album nie aufgenommenen Podcast beschreibt Kliemann transparent die Entstehungsgeschichte des Projekts, von Problemen bei der Produktion, über neue Ideen zur Vermarktung bis zum Kassensturz und der Offenlegung aller Kosten und Gewinne (vgl. Kliemann /b/c/d/e/ 2018). Zudem wurde die gesamte Albumproduktion filmisch dokumentiert (vgl. ebd.).
Fynn Kliemann wandte für die Vermarktung seines Albums eine neue Marketingstrategie an. Er rief seine Follower in den sozialen Netzwerken immer wieder zur Unterstützung seines Projekts durch die Vorbestellung der Platte auf. Zudem vermarktete er selbstgestaltete Produktboxen, die mit den Tonträgern und selbstgestalteten Merchandiseartikeln gefüllt waren (Kliemann /e/ 2018).
Eine weitere Aufwertung für sein musikalisches Produkt stellte die Limitierung der Platte dar, d.h. konkret, die Platte war nicht bei Online-Diensten oder im Plattenladen erhältlich (vgl. Santjer 2018). Nur wer das Projekt im Entstehungsprozess unterstützte, durfte ein Exemplar in den Händen halten. Es gab keine Überproduktion, welche Gewinneinbußen bedeutet hätte.
Ich werde das Album nur ein einziges mal physisch produzieren, weil ich die verschwenderische Produktion von Musik nicht unterstützen möchte. Die Platte soll nicht wegen falscher Erwartungen irgendwann bei nem Discounter in der Grabbelschütte liegen. Das heißt, jetzt ist die einzige Möglichkeit das Album jemals in echt in den Händen halten zu können. Am Ende der Vorbestellungszeit wird nur ein einziges mal in exakt der Anzahl wie Leute vorbestellt haben, produziert und danach nie wieder. Also: jetzt oder nie (Kliemann /a/ 2018).
All diese Maßnahmen zeichneten sich durch großen Erfolg aus. So verkaufte Kliemann ca. 80.000 physische Einheiten des Albums, bevor es überhaupt fertig produziert war (vgl. Schnurr 2018). Zudem erreichten seine Songs zahlreiche Klicks auf Musikstreaming-Diensten und wurden zusätzlich digital verkauft.
INES MÜLLER
Credits
Guitar: Fynn Kliemann, Philipp Schwär
Vocals: Fynn Kliemann
Keyboards: Fynn Kliemann, Philipp Schwär
Programmings: Fynn Kliemann, Philipp Schwär
Drums & Percussions: Fynn Kliemann, Philipp Schwär
Music/ Writer/ Songwriting: Fynn Kliemann
Mastering: Philipp Graf
Producer: Philipp Schwär
Label: twoFinger Records GmbH
Published: 28.September 2018
Length: 3:21
Recordings
- Fynn Kliemann. “Zuhause”. On: nie, 2018, twoFinger Records GmbH, Germany (LP/Album).
References
- a/ Kliemann, Fynn: “nie – Album von Fynn Kliemann”. In: nie-bestellen.de. URL: https://www.nie-bestellen.de/ [10.02.2019].
- Eder, Sebastian: “Im ‘Kliemannsland'”. In: faz.net, 22.10.2018. URL: https://www.faz.net/aktuell/stil/drinnen-draussen/youtuber-fynn-kliemann-laedt-aufs-land-15842534.html [10.02.2019].
- Kramarz, Volkmar: Warum Hits Hits werden. Erfolgsfaktoren der Popmusik. Eine Untersuchung erfolgreicher Songs und exemplarischer Eigenproduktionen. Bielefeld: Transcript 2014.
- Medwedeff, Frank: “Krasser Stoff ehrt Fynn Kliemann mit Holz”. In: musikwoche.de, 22.10.2018. URL: http://beta.musikwoche.de/details/434516 [10.02.2019].
- Möller, Christoph: “Wie Influencer und Streamingdienste den Musikgeschmack prägen. Wer macht die Pop-Hits im Jahr 2018? “. In: Deutschlandfunkkultur.de, 13.02.2018. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/wie-influencer-und-streamingdienste-den-musikgeschmack.2177.de.html?dram:article_id=410642 [10.02.2019].
- Niang, Yannick: “Titelstory: Fynn Kliemann im großen Interview mit Salwa Houmsi zu seinem Debütalbum Nie”. In: diffusmag.de, 09.08.2018. URL: https://diffusmag.de/p/titelstory-fynn-kliemann [10.02.2019].
- Santjer, Torge: “Sitzt, wackelt und hat Luft. Fynn Kliemann – Nie”. In: noisiv.de, 27.09.2018. URL: https://www.noisiv.de/sitzt-wackelt-und-hat-luft-fynn-kliemann-nie/ [10.02.2019].
- Schnurr, Nico: “Heimwerker aus dem Kliemannsland. Fynn Kliemann: Die Sorgen des Chaoskönigs”. In: weser-kurier.de, 29.09.2018. URL: https://www.weser-kurier.de/region/niedersachsen_artikel,-fynn-kliemann-die-sorgen-des-chaoskoenigs-_arid,1772167.html [10.02.2019].
Podcasts
- b/ Kliemann, Fynn: Fynn Kliemann – nie – Podcast zur Entstehung eines Albums. Folge 1. Album. Wie geht so was eigentlich. In: spotify. URL: https://open.spotify.com/episode/6UIH2BIBt1h7rE4dHO95qp [10.02.2019]
- c/ Kliemann, Fynn: Fynn Kliemann – nie – Podcast zur Entstehung eines Albums. Folge 2. Nervenzusammenbruch. Willkommen in meinem Leben. In: Spotify. URL: https://open.spotify.com/episode/6T9qGrIMNL9Gez0DSjCJi1 [10.02.2019]
- Kliemann, Fynn: Fynn Kliemann – nie – Podcast zur Entstehung eines Albums. Folge d/ 3. Taktik. Wie mach ich, dass du mich magst. In: Spotify. URL: https://open.spotify.com/episode/7zUZOYltMSeLI4LiQvH6lz [10.02.2019]
- e/ Kliemann, Fynn: Fynn Kliemann – nie – Podcast zur Entstehung eines Albums. Folge 4. Kassensturz. Was hab ich eigentlich verdient. In: Spotify. URL: https://open.spotify.com/episode/63FK9D9ZpIRAQI6eyTuhPm [10.02.2019]
About the Author
Analysis written in a course of Prof. Dr. Fernand Hörner at the University of Applied Sciences Düsseldorf.
Citation
Ines Müller: “Zuhause (Fynn Kliemann)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/zuhause, 12/2019.
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