2009
Sting

You Only Cross My Mind in Winter

YOU ONLY CROSS MY MIND IN WINTER bildet den Abschluss des Winteralbums If on a winters night von Sting und steht exemplarisch für die Spiritualität des Künstlers sowie dessen Verarbeitung von Kindheitserinnerungen und engem Bezug zu musikhistorischen Vorbildern. Der Text von Sting ist eine Kontrafaktur zur Sarabande aus Johann Sebastian Bachs sechster Suite für Violoncello solo, wobei die Melodiestimme an wenigen Stellen geändert wurde. Evyatar Marienberg stellte fest, dass der Song auch in Bezug auf Aussagen zur Religiosität und Spiritualität Stings interessant ist: „Among the album’s songs that Sting actually wrote, religion appears only once: in ‚You only cross my mind in winter‘ Sting recalls engaging in a debate on faith with the person the song addresses (Marienberg 2021: 94).

 

I. Entstehungsgeschichte

Ein großer Teil des Albums If on a winters night entstand im Februar 2009 in Italien, genauer gesagt in Stings Landhaus in der Toskana bei Florenz, dem Tenuta il Palagio in der Nähe der Städte Figline und Incisa Valdarno. Zu diesem Anlass hatte der Sänger vier befreundete Instrumentalist:innen eingeladen: Kathryn Tickell (Northumbrian Pipes, Fiddle), Julian Sutton (Melodeon), Dominic Miller (Gitarre), Vincent Ségal (Violoncello). Geleitet wurde das musikalische Meeting von Producer Bob Sadin (Sting 2009: 9–10). Das Album steht ganz im Zeichen des Crossover verschiedener musikalischer Stile von English Folk über Barockmusik hin zu Romantik und Pop (zum Beispiel „The hounds of winter“). Bemerkenswert ist der sessionartige Verlauf des Treffens. Zwar hatten Sting und Sadin eine grobe Vorauswahl von Songs getroffen, doch erfolgte der eigentliche Arbeitsprozess ohne vorgegebene Probenpläne im spontanen Austausch der Musiker:innen.

Der Song selbst entstand allerdings wohl nachträglich abseits des beschriebenen Treffens, da keiner der in den Credits genannten Musiker:innen daran teilgenommen hatte. Auf der DVD finden sich zudem Szenen aus der Nachproduktion in New York, sodass es wahrscheinlich ist, dass zu dieser Gelegenheit auch die Aufnahme von YOU ONLY CROSS MY MIND IN WINTER entstand. Ebenfalls erst in der Postproduction wurden die Parts von Ibrahim Maalouf (Trompete) und Daniel Hope (Violine) eingespielt. Das Album erschien mit 15 Titeln und zwei Bonustracks am 21. Oktober 2009. Neben der CD enthält es ein ausführliches Booklet von 58 Seiten mit Texten zur Entstehungsgeschichte und den Hintergründen des Albums sowie den Songtexten. Beigegeben ist außerdem eine DVD mit Interviews und weiterem Material zur Entstehung. Das Booklet ist dreisprachig auf Englisch, Deutsch und Französisch verfasst.

 

II. Kontext

Der Song ist anscheinend eine Verarbeitung von Stings eigenen Kindheitserinnerungen an seinen Vater, der im November 1987 verstarb. Er enthält mehrere Schlüsselwörter und -passagen aus einer Erzählung Stings im Vorwort zum Albumbooklet: „I remember the soft snowfall of so many dark winter mornings with my Dad on his milkround. We would often be the first to disturb it, as we drove silently through the empty streets, and the first to leave our footprints on pavements and garden paths, with the clank of the milk bottles in our hands muffed by the deadening and soundless snow. In whatever was left of the day, the sun was scarcely glimpsed, if at all: just a cold yellow disc rising above naked treetops, or the whitened roofs of the town“ (Sting 2009: 11).

YOU ONLY CROSS MY MIND IN WINTER beginnt mit dem Vers „Always this winterchild“ und stellt damit direkt Bezug zu dieser Erzählung her. Noch entscheidender erscheint allerdings eine Gegenüberstellung der folgenden Verse: „When two walked this winter road, ten thousand miles seemed nothing to us then, […] I speak your name as if you’d answer me, But the silence of the snow is deafening“ (Sting 2009: 52).

Sting bringt den Song in Zusammenhang mit einer von ihm aufgestellten Kategorie von „Ghost Songs“ (Sting 2009: 16), wobei Philosophie und Glaube im Song auch direkt als Geister angesprochen werden: „Philosophy and faith were ghosts that we would chase until the gates of heaven broken“ (Sting 2009: 52, 54). Als eigentlicher Geist ist hier aber vermutlich das Andenken an seinen Vater gemeint, der wohl das im Text angesprochene Gegenüber ist. Hierauf weist auch ein Kommentar aus dem Booklet hin, der dezidiert Stings eigene Emotionen und Erinnerungen mit einer Idee von Geistern, die mit dem Winter verbunden sind, verknüpft: „Walking amid the snows of Winter, or sitting entranced in a darkened room gazing at the firelight, usually evokes in me a mood of reflections, a mood that can be at times philosophical, at others wildly irrational; I find myself haunted by memories. For winter is the season of ghosts; and ghosts, if they can be said to reside anywhere, reside here in this season of frost and in these long hours of darkness. We must treat with them calmly and civilly, before the snows melt and the cycle of the seasons begins once more“ (Sting 2009: 16). Auch in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau gab Sting, neben weiteren Inspirationen für die Entstehung des Albums, als einen zentralen Aspekt die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit an: “Nein [als Antwort auf die Frage, ob er unter einer Schreibblockade leide]. Ich habe ja ein neues Lied für diese CD geschrieben ‘You only cross my mind in winter’. Im Moment genieße ich es einfach, andere Musikrichtungen zu erforschen. Ich spüre zurzeit nicht den Drang, etwas Neues zu schreiben. Das bedeutet nicht, dass ich eine Aversion gegen das Komponieren entwickelt hätte. Ich werde wieder Musik schreiben, im Moment mache ich einfach das, was mir Spaß macht. Ich fand es spannend, unter dem ‚Winter‘-Thema Lieder aus den unterschiedlichsten Genres zu bündeln: Kirchen- und Schlaflieder, Folk-Songs und ein paar meiner eigenen. Lieder aus der dunklen Jahreszeit, die uns zum Innehalten und Nachdenken bringen, die uns trösten, manchmal auch ein bisschen ängstigen. Einige Songs handeln von dem magischen Thema der Jungfrauengeburt. Im Grunde eine absurde Geschichte, aber ein gängiges Motiv in der Religionsgeschichte. Alle Götter kamen auf wundersame Weise auf die Welt: Dionysos, Buddha oder Christus. Für mich sind dies zunächst einmal wunderschöne Geschichten, die fest in unserer kollektiven Psyche verankert sind. Andere handeln von Heimsuchungen und Geistern. Auch das bringt der Winter oft mit sich – sich mit den Geistern der Vergangenheit auseinanderzusetzen” (Scholz 2009). Hieraus wird deutlich, dass der Song YOU ONLY CROSS MY MIND IN WINTER für Sting eine besondere Stellung auf dem Album einnimmt: einerseits, da er der einzige neu geschriebene Text des Albums ist, andererseits, weil explizit die Geister der Vergangenheit angesprochen werden.

Das Thema „Ghost Song“ wird von Sting vielfach im Kontext des Albums genannt und so auch ganz direkt auf zwei der Titel bezogen: „Finally comes ‚You only cross my mind in winter‘; inspired by the Sarabande from J. S. Bach’s Sixth Cello Suite; not surprisingly, it’s a ghost story. My other contribution to the album is also a ghost story of a kind, ‚The hounds of winter‘“ (Sting 2009: 16).

Als Grundideen für die Songauswahl und die Interpretation im Rahmen des Albums verweist der Künstler explizit auf verschiedene kulturelle Traditionen. Neben christlichen Vorstellungen von Weihnachten und der Adventszeit tritt als Gegenpol eine Anknüpfung an ältere, heidnische Bräuche, wie sie zum Beispiel in Form von Halloween oder der Feier der Sonnenwenden bis in die heutige Zeit hineinwirken und Bestandteil des kulturellen Erbes Europas sind: „For me it was important to draw parallels between the Christian story and the older traditions of the winter solstice. These myths and stories are our common cultural heritage, and as such need to be kept alive through reinterpretation within the context of contemporary thinking, even if that thinking is essentially agnostic. However, the mystery at the heart of the cosmos, and indeed of life itself, remains intact – perhabs insolvable to beings at our level of consciousness. In the meantime, all of us need our myths to live by“ (Sting 2009: 15).

Die Inspiration für die Auswahl der Cellosuite als Vorlage kam vermutlich vom Cellisten Vincent Ségal. In einer Passage des Interviews auf der DVD berichtet Sting davon, dass Ségal während der Probenpausen zur Oper Welcome to the voice in Paris 2008 regelmäßig, für sich, Cellostücke spielte, unter anderem auch Cellosuiten von Bach. Ob darunter auch die Sarabande der sechsten Suite war ist nicht bekannt, bleibt jedoch zu vermuten.

 

III. Analyse

Der Song lässt sich in fünf Strophen gliedern, wobei die zweite und vierte Strophe im Booklet jeweils in Doppelverse unterteilt sind (Sting 2009: 52–55). Die erste Strophe lässt sich textlich wie musikalisch als eine Einstimmung in die geschilderte Winteratmosphäre verstehen. Das Streicherensemble löst ab der zweiten Strophe die Lauten- und Kontrabassbegleitung ab, der Satz bleibt aber zunächst eher homophon, wobei die Liedzeilen „When two walked this winter road“ und „One walks with heavy tread“ unisono von den Violinen mitgespielt werden. Mit der dritten Strophe bricht der Satz in polyphone Passagen auf, die wie Anspielungen auf Bachs Kontrapunktik wirken. Dieser Eindruck verstärkt sich in der vierten Strophe nochmals durch imitierende Einsätze der hohen Streicher, bevor die Begleitstimmen in einem wiederum eher homophonen Satz in den mittleren und tiefen Lagen in der fünften Strophe wieder deutlich hinter die Gesangsstimme zurücktreten. Die Textverteilung des Gesangs orientiert sich an der Vorlage aus der Cellosuite und bleibt, bis auf die Wörter „broken“ und „winter“, die mutmaßlich bewusste Ausnahmen darstellen, gänzlich syllabisch vertont. Durch die Lautenbegleitung und die Pizzicati im Kontrabass während der ersten Strophe entstehen Anklänge an die originale Mehrstimmigkeit (besonders gut zu hören im Vergleich zu Bylsma 1992). Diese Imitation setzt sich während der folgenden Strophen jedoch nicht weiter fort.

Anstelle des D-Dur im Originalsatz der Cellosuite (vgl. NBA) ist bei YOU ONLY CROSS MY MIND IN WINTER Es-Dur vorgezeichnet. Die Melodiestimme weicht mehrfach von der Vorlage ab und erreicht zum Beispiel auf Versschlüssen statt des Grundtons die Quinte des Akkords (vgl. jeweils T. 2) oder wird partiell anders weitergeführt, wie zum Beispiel über die Quinte statt über die Sexte (vgl. Auftakt T. 3). Die Wiederholung des ersten Teils der Sarabande wurde bei Sting ausnotiert. Im zweiten Teil weicht die Melodiestimme vielfach von der Originalvorlage ab, charakteristische Wendungen und Zieltöne sind jedoch erkennbar. Durch das mehrfache Wechseln des Taktmetrums und die Verkürzung einzelner Takte entsteht hier in der Stingfassung eine zunehmende Unruhe im Vergleich zur relativ statisch durchlaufenden Cellosuite. Markant ist in den letzten Takten die Nachahmung der Mittelstimme des Originals im Gesang. In den Credits des Booklets wird „Music by J. S. Bach“ angegeben, während Sting an anderer Stelle schreibt: „Finally comes ‚You only cross my mind in winter‘, inspired by the Sarabande from J. S. Bach’s Sixth Cello Suite“ (Sting 2009: 16). Auf der Notenedition findet sich außerdem eine dritte Angabe als „Arranged by Sting & Robert Sadin“ (Sting/Sadin 2009).

 

IV. Rezeption

Bekannt wurde der Song ausschließlich über das Album, auf dem er veröffentlicht wurde. Eine Singleauskopplung ist nicht bekannt, genauso wenig Cover oder Zitate. Das gesamte Album wurde in den Medien tendenziell neutral-zurückhaltend oder negativ bewertet. Die Hauptkritik richtete sich dabei vor allem an den ungewohnten kammermusikalischen Duktus und reichte von Aussagen, wie „Hausmusik kann man das auch nennen, was er da macht; wahrscheinlich keine Chartstürmer, aber für Gordon Matthew Thomas Sumner-Fans eine willkommene Abwechslung im CD-Regal“ (Oelmann 2009) bis hin zu „Even ardent fans are advised to exercise caution: If On a Winter’s Night is an authentically wintry, barren landscape, enough to make anyone pine for the joys of spring“ (Simpson 2009).

 

CLAUDIUS HILLE


Credits

Vocals: Sting
Lute: Edin Karamazov
Double bass: Ira Coleman
Strings: Strings of the Musica Aeterna Orchestra
Conductor: Robert Sadin
Music/Writer/Songwriting: Music by Johann Sebastian Bach; Words by Sting
Producer: Robert Sadin/Sting
Label: UMG/Deutsche Grammophon
Recorded: 2009
Published: 2009
Length: 2:36

Recordings

  • Sting. „You only cross my mind in winter“. On: Sting. If on a winters night, 2009, UMG/Deutsche Grammophon, 060252713940, USA/Germany (CD, DVD/Album).
  • Bylsma, Anner. „Suite No. 6 in D Major, BWV 1012. IV. Sarabande“. On: J. S. Bach. Suites for Violoncello Solo. BWV 1007–1012, 1992, Sony Classical, 5099704804729, Österreich (2xCD/Album).

References

  • NBA = Bach, Johann Sebastian: 4. Sarabande. In: Sechs Suiten für Violoncello solo. BWV 1007–1012. Ed. by Hans Eppstein. Kassel: Bärenreiter 1988 (= Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie VI: Kammermusikwerke, Bd. 2), 100.
  • Marienberg, Evyatar: Sting and Religion. The Catholic-Shaped Imagination of a Rock Icon. Eugene (OR/USA): Cascade Books 2021.
  • Oelmann, Sabine: „Sting – eiskalt erwischt. If on a winter’s night“, in: NTV Online (Album Review), 20.10.2009. URL: https://www.n-tv.de/leute/buecher/If-On-A-Winter-s-Night-article553255.html [07.09.2021].
  • Scholz, Martin: „‚Die Leute sind stolz auf mich.‘ Sting im Interview“. In: Frankfurter Rundschau Online (Interview), 23.10.2009. URL: https://www.fr.de/panorama/leute-sind-stolz-mich-11513068.html [07.09.2021].
  • Simpson, Dave: „Sting. If on a winter’s night“. In: The Guardian Online (Album Review), 11.12.2009. URL: https://www.theguardian.com/music/2009/dec/11/sting-if-on-winter-s-night [07.09.2021].
  • Sting/Sadin, Robert: You only cross my mind in winter, 2009, Hal Leonard Digital 49715.

About the Author

Analysis written in a course of Dr. Christina Richter-Ibáñez at the University of Tübingen in 2021.
All contributions by Claudius Hille

Citation

Claudius Hille: „You only cross my mind in winter (Sting)“. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://www.songlexikon.de/songs/you-only-cross-my-mind-in-winter, 03/2025.

Print