1973
Die Puhdys

Wenn ein Mensch lebt

WENN EIN MENSCH LEBT ist der Eröffnungssong des “Kultfilmes” Die Legende von Paul und Paula, der einer der herausragendsten Beiträge des künstlerischen Schaffens in der DDR darstellt und verdeutlicht, dass Vieles aus dem kulturellen Leben der DDR deren Verschwinden zu überdauern vermag.

I. Entstehungsgeschichte

Die Puhdys gingen nach mehreren Umbesetzungen aus der seit 1965 bestehenden Udo-Wendel-Combo hervor. Mit ihrem bis heute aktuellen Frontmann Dieter “Maschine” Birr standen sie 1969 zum ersten Mal auf der Bühne und coverten 15 englischsprachige Titel.

Der Komponist Peter Gotthardt entdeckte die Band für den Film Die Legende von Paul und Paula und schrieb ihnen mit dem Dichter Ulrich Plenzdorf – der als Dramaturg bei der DEFA auch für das Drehbuch des Films zuständig war – sieben Songs mit deutschen Texten auf den Leib. Diese Songs und ein Instrumental bilden neben einem Freiluftkonzert des DEFA-Orchesters mit Auszügen von Beethovens Violinkonzert die gesamte Musik im Film. In der Discothekenszene ist die Band im Hintergrund auch zu sehen.

II. Kontext

Coverbands hatten in der DDR einen anderen Stellenwert als im Westen, da in manchen Teilen des Landes keine West-Sender empfangen werden konnten und in der Regel bis auf Lizenzausgaben Tonträger aus dem “kapitalistischen Ausland” nur über Umwege zu bekommen waren. Auf vielfachen Wunsch von Fans kam es 1970 zu einem Auftritt der Puhdys im DDR-Jugendfernsehen, was allerdings nur mit einem deutschsprachigen Titel möglich war. Wie viele DDR-Bands wurden die Puhdys mit sanftem Druck in Richtung Deutschrock gelenkt, während in der BRD zeitgleich deutsche Texte und Rockmusik kaum zusammenzugehen schienen. Die Puhdys teilten mit anderen Künstlern der DDR, die eine breite Öffentlichkeit suchten, die Erfahrung, dass dafür Kompromisse, Tricks und Mimikry unerlässlich waren, wozu konkret sicherlich Peter Meyers Kontakte zu höchsten Ebenen der Partei aber auch zur Stasi zu rechnen sind. Dabei kamen Bands wie die Puhdys, ohne dass die Kulturadministration das immer merkte, den Idealen des so genannten Bitterfelder Weges, etwa einer künstlerisch tätigen Arbeiterklasse (Motto: “Greif zur Feder Kumpel”), recht nahe (Frontmann Birr ist gelernter Universalschleifer).

III. Analyse

Der Song WENN EIN MENSCH LEBT ist dem Vorspann des Films Die Legende von Paul und Paula hinterlegt und gliedert diesen zugleich mit seinen Formteilen; die Grenzen zwischen Filmmusik und einer Art Musikvideo sind dabei fließend. Die Geräusche auf der Wirklichkeitsebene des Filmes und der Song sind vielschichtig miteinander verwoben: Mal hört man nur den Song als Filmmusik, mal muss er pausieren, um einem (klanglichen) Ereignis im Film mehr Raum zu geben.

Nach einem Moment des stillen Gedenkens für die verstorbene Drehbuchkoautorin Ingrid Renschke zeigt die erste Einstellung ein Abbruchhaus und dessen Sprengung. Der Signalton zur Entwarnung gibt dem Song seinen Einsatz, und bei Textbeginn erscheinen die Musikverantwortlichen namentlich im Vorspann genannt. Zum Beginn der zweiten Strophe wechselt die Einstellung: Der männliche Protagonist Paul wirft freudig Hausrat aus dem Fenster in einen Hinterhof. In der dritten Einstellung, die mit dem zweiten Refrain zusammenfällt, ist ein weiteres Abbruchhaus zu sehen. Im Moment der Sprengung pausiert der Song, bis das fallende Mauerwerk und die Staubwolke den dahinter liegenden Berliner Fernsehturm erkennen lassen. Die vierte Einstellung, die etwa mit der dritten Strophe zusammenfällt, zeigt scherzende Arbeiter und Passanten, die mutmaßlich der Sprengung zugesehen haben, bis die Einstellung wechselt und Paul zu sehen ist, mit einem gerahmten Foto im Arm von Paula und ihm, das zu einem späteren Zeitpunkt im Film entstehen wird. Zum langsamen Teil des Liedes bleibt die Einstellung, und vor dem ovalen Rahmen des Fotos erscheint ebenfalls oval in rot der Titel des Films. Der letzte Einstellungswechsel zur Musik fällt mit dem letzten Refrain zusammen. Ab jetzt erscheint die Einheit von Zeit und Ort nicht länger aufgehoben, und es wird im Folgenden trotz zahlreicher surrealer Szenen sukzessive erzählt. Paula tritt aus der Einfahrt eines Hauses gut gelaunt auf die Straße in die Sonne, während Paul auf der anderen Straßenseite zu sehen ist. Es kommt zu einer ersten Begegnung mit einem flüchtigen Gruß, der den Beginn der Dialoge und das Ende des Eingangssongs markiert.

Der Vorspann funktioniert wie eine Ouvertüre. Im Bild werden wesentliche Elemente des Filmes antizipiert, wobei Vorspann und Song wie die Quintessenz der Fabel des Filmes wirken.

Die Elemente der Dramaturgie des Filmes, die in Art eines Musikvideos im Vorspann gezeigt werden, erscheinen sowohl als Bebilderungen als auch als Reflexionen der im Wortsinne alttestamentarischen Sprachgewalt des Textes von Plenzdorf. Wie schon vor ihm Pete Seeger in “Turn, turn, turn” verwendet er als Modell für seinen Text Kohelets imposante Reihung von Dichotomien aus dem Buch der Prediger (“Ein jegliches hat seine Zeit”), löst aus ihr die Schlüsselworte seiner eher umgangssprachlichen Paraphrase heraus und ergänzt diese durch eigene Zeilen (fettgedruckt sind die Zitate aus der Luther-Bibel): “Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist, würgen und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen, suchen und verlieren, behalten und wegwerfen, zerreißen und zunähen, schweigen und reden, lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit.” Viele der im Songtext nicht aufgegriffenen Motive aus dem Bibeltext spielen für das Drehbuch insgesamt eine wichtige Rolle: Töten, heilen, weinen, lachen, herzen, suchen, verlieren, zerreißen und, wie bereits im Vorspann illustriert: abbrechen, bauen, behalten und wegwerfen. Die Nicht-Einheit von Zeit und Ort im Vorspann findet ein Äquivalent im Songtext: “Als ich aufstand, ist sie gegangen weckt sie nicht, bis sie sich regt Fich hab mich in ihren Schatten gelegt”.

Der Song beginnt mit der einstimmigen Basslinie einer Quintfallsequenz. Analog zur Bibelallusion im Text wird mit dieser Harmoniefolge – zu denken wäre an den berühmten Kanon von Pachelbel – auf Zeitloses verwiesen. Der Songanfang gewährt damit bei maximaler Einfachheit zugleich ein Höchstmaß an Wiedererkennbarkeit – ähnlich dem einstimmigen Gitarren-Riff aus “Seven Nation Army” (White Stripes). Bereits mit dem Einsatz der Gesangsstimme entsteht in der Zweistimmigkeit eine kippbildartige Beziehung zwischen Nähe und Weite, was dem unterschiedlichen Beimischen von Hall auf der Klavier- und der Gesangsstimme geschuldet ist; der Einsatz des vergleichsweise “trockenen” Schlagzeugs unterstreicht diese Wirkung noch. In der äußerst schlichten Interpretation der Puhdys gelingt eine Gleichzeitigkeit von Heiterkeit, Intimität und Zerbrechlichkeit. Gerade der Umstand, dass Birrs Stimme in der Höhe an ihre Grenzen stößt, wirkt weniger ungekonnt als ehrlich und liebenswert; die dialektale Einfärbung (eher “sisch” als “sich”) tut ein Übriges.

IV. Rezeption

Durch den Film und die Ausstrahlung der Songs im Radio der DDR wurden die Puhdys gleichsam über Nacht auch über die Grenzen der DDR hinaus bekannt. Ihre erste Veröffentlichung war eine Single mit “Geh zu ihr” als A- und “Zeiten und Weiten” als B-Seite. Es folgte die erste LP Puhdys 1, auf der als vierter Titel WENN EIN MENSCH LEBT erschien. So führten einzelne Titel des Soundtracks ein gleichsam vom Film unabhängiges Nachleben und stellten zugleich eine bleibende Erinnerung an den Film dar, der nur noch selten in Programmkinos zu sehen war.

Wie kein anderer Film stellt Die Legende von Paul und Paula mit der Musik der Puhdys für viele ehemalige DDR-Bürger einen Quell positiven Erinnerns an den verschwundenen Staat dar – gerade an eine Zeit der Staatsgeschichte, in der nach dem Führungswechsel von Ulbricht zu Honecker große Hoffnungen an den ehemaligen FDJ-Chef geknüpft wurden, welchen dieser im Falle des Filmes Die Legende von Paul und Paula auch durchaus gerecht wurde, indem er den Film entgegen der Bedenken von Harry Tisch – der SED-Chef des Bezirks Rostock hatte den Film wegen moralischer Fragwürdigkeit untersagt – freigab.

MATTHIAS TISCHER


Credits

Text: Ulrich Plenzdorf
Musik: Peter Gotthardt

References

  • Plenzdorf, Ulrich: Die Legende von Paul und Paula. Frankfurt/M: Suhrkamp 1974.
  • Hannover, Irme/Wicke, Peter (Ed.): Puhdys. Eine Kultband aus dem Osten. Berlin: Elefanten Press 1994.

About the Author

Matthias Tischer (Prof. Dr. habil.) teaches Social Work, Esthetics and Communication with focus on Culture and Music at the University of Applied Sciences Neubrandenburg.
All contributions by Matthias Tischer

Citation

Matthias Tischer: “Wenn ein Mensch lebt (Die Puhdys)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/wenneinmensch, 12/2011 [revised 10/2013].

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