1972
Lou Reed

Walk on the Wild Side

Mit dem Song WALK ON THE WILD SIDE, veröffentlicht auf dem Album Transformer, erzielte Lou Reed (1942–2013) im Jahr 1972 seinen ersten kommerziellen Erfolg. Trotz seiner inhaltlichen Brisanz hinsichtlich Transsexualität, Gender-Fragen, Drogenkonsum oder auch Prostitution erreichte er mit diesem Song nicht nur einen ansehnlichen Verkaufshit in der damaligen Zeit: Der amerikanische Singer/Songwriter schuf ein musikalisches Portrait von ausgewählten Personen aus seinem Bekanntenkreis, das sich zwischen Charakterisierung und Karikatur definiert.

 

I. Entstehungsgeschichte

Lewis Allan Reed durchlebte eine prekäre Kindheit, da seine Familie vermeintliche Anzeichen von Homosexualität u. a. mit Elektroschock-Therapien in ihrem Sinne zu heilen versuchte (vgl. Doggett 1999: 33). Später verarbeitete er diese Erinnerungen und Erfahrungen in verschiedenen Songs, wie z. B. in dem Lied “Kill Your Sons”, welches 1974 auf dem Album Sally Can’t Dance erschien (vgl. Fricke 2013: 36–42). Musik war für Reed bereits in frühester Zeit ein bevorzugtes Ausdrucksmittel (Johnstone 2006: 6). Während seiner College-Zeit beschäftigte er sich hauptsächlich mit Free Jazz und Moderner Literatur (vgl. Doggett 1999: 40). Nach seinem College-Abschluss arbeitete er zunächst als Songschreiber bzw. Ghostwriter für die Plattenfirma Pickwick in Queens (vgl. Johnstone 2006: 10). 1965 gründete er dann mit John Cale und Sterling Morrison die Gruppe The Velvet Underground (vgl. Fricke 2013: 36–42). Andy Warhol, einflussreicher Pop Art-Künstler der New Yorker Kunstszene der 60er und 70er Jahre, gab sich als Mentor und Manager dieser Band, die mit ihrer musikalischen Freiheit und inhaltlichen Provokationen für Furore sorgte (vgl. Johnstone 2006: 10). Jedoch blieb der kommerzielle Erfolg aus und nach internen sowie persönlichen Differenzen entschied sich Reed die Band im August 1970 aufzugeben (vgl. Doggett 1999: 105).

Anfang der 70er Jahre strebte Reed eine Solo-Karriere an (vgl. Johnstone 2006: 12). Nach seinem ersten Solo-Album Lou Reed arbeitete er zusammen mit David Bowie an dem Album Transformer (vgl. ebd.). Bowie kannte bereits die Musik von The Velvet Underground und achtete deren künstlerische Arbeit sehr (vgl. Fricke 1998: 1-6). 1971 trafen die beiden Künstler erstmals bei einem Dinner, an dem auch Warhol teilnahm, aufeinander (vgl. ebd.). Im Januar 1972 produzierten sie schließlich gemeinsam mit Bowies Gitarristen Mick Ronson das Transformer-Album in den Trident Studios in London (vgl. Doggett 1999: 124). Nach einigen Angaben müssen es zwar kurze, aber intensive und temperamentvolle Session-Aufnahmen gewesen sein (vgl. Bockris 1995: 209). Daraufhin trat Reed im Sommer 1972 mit einigen Songs in London auf (vgl. ebd.: 206). Das Album wurde letztendlich im November 1972 veröffentlicht (vgl. ebd.: 211). Entgegen Reeds Wunsch setzte sich Bowie bei der Plattenfirma RCA für eine Single-Veröffentlichung von WALK ON THE WILD SIDE ein (vgl. ebd.: 211). Reed befürchtete, dass der Song aufgrund seines provokativen Themenfeldes nicht im Radio gesendet werden dürfe (vgl. Doggett 1999: 126). Mit The Velvet Underground hatte er zuvor auch Tabus wie Sadomasochismus thematisiert, der kommerzielle Erfolg blieb schließlich größtenteils aus (vgl. ebd.). Obwohl der Song WALK ON THE WILD SIDE Anspielungen auf Fellatio beinhaltet, wurde er letztendlich doch im Radio gesendet (vgl. ebd.). Im Februar 1973 gelangte das Album dann in die Top 30 der amerikanischen Billboard’s-Charts, die Single WALK ON THE WILD SIDE platzierte sich in den Top 20 (vgl. Fricke 1998: 1–6). Ein offizielles Musikvideo existiert jedoch nicht zu diesem Song. WALK ON THE WILD SIDE blieb zudem Reeds einzige Top-20-Single (vgl. Fricke 2013: 36–42).

In den 60er Jahren beschäftigte sich Reed intensiv mit Themen wie Cross-Dressing, Homosexualität und Prostitution (vgl. Bockris 1995: 200): Zum einen inspirierte ihn die Novelle Walk on the Wild Side von Nelson Algrens aus dem Jahr 1956 (vgl. Fricke 1998: 1–6), zum anderen forderten Warhol und der Modemacher Yves St. Laurent ihn zu einem Musical-Projekt mit diesen thematischen Aspekten auf (vgl. Bockris 1995: 200). Das daraus entstandene musikalische sowie literarische Material ging in die Zusammenarbeit mit Bowie ein. Auch WALK ON THE WILD SIDE resultiert aus diesen Arbeitsprozessen. Des Weiteren finden sich Vorbilder für die fünf Liedfiguren, die in den Strophen nacheinander vorgestellt werden, in Reeds damaligen Bekanntenkreis (vgl. Doggett 1999: 66). Joe Dallesandro, Holly Woodlawn, Candy Darling, Jack Curtis und Joe Campbell aka Sugar Plum Fairy gehörten zum künstlerischen Umfeld von Warhol, welches auch als Factory bezeichnet wurde (vgl. Fricke 1998: 1–6). Reed war dieser Factory, die allgemein für eine spezifische New Yorker Kunstszene stand, selbst eine Zeit lang zugehörig (vgl. Doggett 1999: 66). Die Dragqueens und Transvestiten, die im Song beschrieben werden, sind demnach keine fiktiven Personen (vgl. Fricke 1998: 1–6). Mit diesem erzählerischen Portrait gab er somit Menschen eine Stimme, die damals kaum im gesellschaftlichen Alltag mit ihren Geschichten zu Wort kamen.

 

II. Kontext

Nach einer späteren Aussage, dass er über das schreibe, was er auch kenne (vgl. Johnstone 2006: 86), schuf Reed nicht nur ein Bildnis einer amerikanischen Subkultur, sondern auch einen Einblick in seine persönliche Erfahrungswelt. Vor seinen Anfängen als Solo-Künstler bewegte sich Reed hauptsächlich im künstlerischen Umkreis von Warhols Factory, die sich mit diversen Projekten zu einem neuen avantgardistischen Zentrum in New York entwickelte (vgl. ebd.: 6). The Velvet Underground wurde dabei ein fester Bestandteil dieser Kunstszene, und, erweitert um die deutsche Sängerin Nico, entwickelte sich mit ihrem experimentellen Sound zur Hausband der Factory (vgl. ebd.: 10). Innerhalb der Factory kannte man angeblich keine gesellschaftlichen Tabus, sodass verschiedenste Phantasien und Bedürfnisse offen sowie kreativ ausgelebt werden konnten (vgl. Doggett 1999: 66). Zudem teilten Angehörige der Factory später mit, dass Reed im internen Personenkreis, männlich und weiblich gleichermaßen, auch großes sexuelles Interesse hervorrief (vgl. ebd.). Somit hielt sich Reed in einem künstlerischen Umfeld auf, das Themen wie Moral, Sex oder Gesellschaft stets kontrovers verhandelte (vgl. ebd.). Letztendlich sind die Erfahrungen und Eindrücke aus dieser Zeit in seinen späteren Songs, wie auch bei WALK ON THE WILD SIDE, deutlich erkennbar.

Reed verkörperte die berüchtigte Andy Warhol-Szene New Yorks der 60er Jahre (vgl. Bockris 1995: 209). In London, Anfang der 70er Jahre, erhielt er dann Einblicke in die Glamrock-Szene, die u. a. auch Cross-Dressing und sexuelle Freiheiten thematisierte (vgl. ebd.). Künstler wie T-Rex, Slade, Sweet, Elton John oder Alice Cooper waren vorrangig in den britischen Charts vertreten, allen voran David Bowie als großer Star mit sexueller Ambiguität (vgl. ebd.). Mit Bowie als Produzenten hatte Reed einen künstlerischen Partner gefunden, der nicht nur erfolgreich, sondern auch mit seiner Künstler-Figur unentwegt Gender-Fragen behandelte (vgl. ebd.: 207). In Großbritannien ging mit diesen Themen aber auch immer eine gewisse Brisanz einher, da bestimmte Ansichten und Praktiken als illegal galten (vgl. Doggett 1999: 127).

Dagegen nahm die amerikanische Gay Liberation-Bewegung der 70er Jahre das Album Transformer sowie die Künstlerfigur Lou Reed für ihre Diskussionen und Ziele ein (vgl. ebd.). Bisher fehlte anscheinend eine prominente Figur wie Bowie, die Gender-Grenzen dermaßen übertrat und in Frage stellte (vgl. Bockris 1995: 207). Die Bewegung benutzte u.a. das Zitat “We’re coming out of our closets” aus dem Song “Make up” als Slogan (vgl. ebd.: 208). Hierbei ist jedoch zu vermerken, dass Reed sich bis auf wenige Ausnahmen eher unpolitisch gab (vgl. Doggett 1999: 119), auch wenn seine Lyrics ein kritisches Gesellschaftsbild zeichnen. Sein gewähltes Künstler-Outfit in Schwarz mit Leder und Sonnenbrille ist dennoch ein möglicher Verweis auf die homosexuelle Camp-Szene (vgl. Bockris 1995: 208). Auch in Interviews distanzierte er sich nicht von diesen Gruppen (vgl. Johnstone 2006: 63). Dennoch nahm er mit seinem künstlerischen Werk keine direkte politische Haltung ein, sondern machte vielmehr erst einmal auf die Gay Community aufmerksam (vgl. Bockris 1995: 212).

 

III. Analyse

WALK ON THE WILD SIDE ist kein typischer Glamrock-Song, sondern vielmehr ein stimmungsvolles, Laid Back gespieltes Pop-Stück. Sparsam instrumentiert, entwickelt der Song eine wachsende Spannungungskurve aufgrund verschiedener musikalischer Details. Diese unterschwellig aufgebaute Spannung in dem eher unaufgeregt wirkenden Song löst sich schließlich im Outro in einem Fade-Out  kurzerhand wieder auf. Somit können die Lyrics, die aus fünf Strophen bestehen, in den Vordergrund treten, da auf instrumentaler und harmonischer Ebene ein generelles Grundmuster bestehen bleibt.

Zu Beginn sind Rhythmus-Gitarre und Bass zu hören, bevor das Schlagzeug einsetzt und den jazzigen Laid Back-Charakter verstärkt. Das Glissando des Basses zwischen zwei Tönen wirkt dabei besonders auffallend und bleibt prägend für den gesamten Song. Es wirkt wie ein bedächtiges Pendeln zwischen zwei Seiten, was im Hinblick auf die Aussagekraft des Songs später noch von Bedeutung sein mag. WALK ON THE WILD SIDE basiert auf einem 4-Akkord-Schema, das zunächst eine simple Liedstruktur generiert, aber auch Raum für die Bedeutungskraft von Gesang und Lyrics zulässt. Der Song schließt nach der fünften Strophe mit einem Outro, in dem ein Saxofon-Solo während des Fade-Outs vordergründig spielt.

Der Gesang setzt nach dem Schlagzeug ein: Es ist ein unaufgeregter Sprechgesang mit erzählerischem Tonfall. Durch einen bestimmten Stimmeinsatz lassen sich feine Nuancen im Stimmausdruck feststellen, die z. B. die wörtliche Rede in den Lyrics unterstreicht. Explizite Stimmanhebungen, u. a. bei “Hey, Honey!” in der ersten Strophe, sowie hauchende Passagen lassen den erzählerischen Sprechgesang lebendig wirken. Aufnahmetechnisch liegt die Stimme im Vordergrund. Somit erscheint diese präsent und die Textverständlichkeit ist gegeben. Die titelgebende Textpassage “walk on the wild side” erfährt immer wieder einen ausgefeilten Stimmausdruck. Dadurch wird die wörtliche Rede der verschiedenen Figuren zum einen betont, andererseits ist die redundante Imperativ-Form abwechslungsreich gestaltet.

Ein Background-Chor, bestehend aus den Sängerinnen Karen Friedman, Dari Lalou und Casey Synge (vgl. Anonym 2016), setzt nach der zweiten und der fünften Strophe jeweils mit einem “doo do doo… ” ein. Hier zeigen sich drei auffällige Momente: Erstens kündigt der Hauptgesang den Einsatz mit dem Vers “and the colored girls go…” an. Dies kann ein Verweis auf die Doowoop- und Soul-Ära mit ihren afroamerikanischen Künstlern sein, da Reed seit seinen musikalischen Anfängen ein Anhänger dieser Musikstile war (vgl. Johnstone 2006: 9). Schließlich ist es auch eine Art von Statement, da das Rock-Genre, zu dem der Künstler Reed musikalisch zählte, zu dieser Zeit überwiegend von männlichen weißen Musikern vertreten wurde. Zweitens ist aus aufnahmetechnischer Sicht ein Spiel mit Distanz und Nähe für den Zuhörer zu entdecken: Die Stimmen kommen aus dem Hintergrund immer weiter nach vorne, bis sie nach diesem Fade-In klar und durchdringend die letzten Silben singen. Innerhalb dieses Teils ist daher auch ein Spannungsaufbau zu erleben, der jedoch abrupt mit dem letzten Ton des Fade-Ins endet. Drittens ist zu vermerken, dass der “doo do doo… “-Vers eine Gelegenheit zum Mitsingen darstellt. Eine mögliche Distanzhaltung, die sich durch das erzählerische Strophenformat ergibt, ist demnach gebrochen.

Ein weiteres musikalisches Detail, das einen Spannungsbogen innerhalb des Songs generiert, ist der Einsatz von Streichern. Diese umspielen ab der dritten Strophe die Grundakkorde auf harmonische Weise. Auch hier ist ein Ab- und Zunehmen, eine Tendenz von Nähe und Distanz zu bemerken. Auffallend ist dabei die verbindende Funktion: Von der vierten zur fünften Strophe wird ein hoher Ton gehalten, der unterschwellig Aufmerksamkeit erregt. Diese Schlussformel wiederholt sich gegen Ende der fünften Strophe und schließt in dem Saxophon-Solo. Zudem lässt sich auf textlicher Ebene eine Mehrdeutigkeit interpretieren: Die einheitliche Song-Struktur und der erzählerische Sprechgesang, der hauptsächlich einen melancholischen Inhalt transportiert, werden mit den hohen Streichern, gleich einem Flirren, auf instrumentaler Ebene in Frage gestellt.

Pro Strophe wird jeweils eine Liedfigur vorgestellt, die das Leben in New York als trans- und/oder homosexuelle Person individuell erlebt. Ein direkter Verweis, dass alle Charaktere sich auf das Factory-Umfeld von Andy Warhol beziehen, ist nicht gegeben. Ausschlaggebend für diesen Ansatz sind die Namen am Anfang jeder Strophe (vgl. Anonym 2016). Die Personen werden mit einem Kose- bzw. Spitznamen vorgestellt, was wiederum Distanz nimmt. Die Strophen mit den jeweiligen Geschichten über Sex, Prostitution und Drogenkonsum verlaufen nach einem einheitlichen Grundmuster: vier Verse lang, je zwei Paarreime, wird die Geschichte der Liedfigur vorgestellt. Dann kommt es zu einer wörtlichen Rede innerhalb des Textes, die auffordernd “take a walk on the wild side” kommuniziert. Hierbei wechseln die jeweiligen Sprecherpersonen. Die Tempusform wird dabei nicht stringent eingehalten. Erst ab der vierten Strophe nimmt auch das lyrische Ich diesen Vers auf und nimmt sich dabei die Distanz zum Geschehen, indem es sich selbst in die Geschichten integriert. Eine textliche Auffälligkeit ist der Bezug zu James Dean in der fünften Strophe: Als jugendlicher Rebel-Star stand er mit seinem Männlichkeits-Image für eine ganze Generation. Demnach stellt er einen Gegensatz zu den trans- und/oder homosexuellen Liedfiguren dar. Dagegen erinnert der Ausspruch “Hey Joe an einen amerikanischen Folksong, der durch die Interpretation von Jimi Hendrix populär wurde. Weitere Referenzen sind jedoch nicht gegeben. Generell werden die Lyrics auch musikalisch, vor allem durch den nuancierten Einsatz des Schlagzeugs unterstützt. So sind z. B. die Cymbals in der fünften Strophe beim Vers “Then I guess she had to crash” deutlich auf dem letzten Wort zu hören.

“Take a walk on the wild side” ist ein Ausspruch, der dem Song nach im Prostitutionsgewerbe seine Wirkung findet. Die Geschichten der Liedfiguren enden alle mit dem gleichen Spruch und demnach auch mit der gleichen Lebenslage. Einerseits ist in den Lyrics eine gewisse Melancholie herauszulesen, da die einzelnen New Yorker Schicksale in dieser drastischen Momentaufnahme des Lebens verweilen. Der besondere Einsatz der Streicher unterstützt diese These, da das Flirren im oberen Tonbereich eine beunruhigende Wirkung beim Zuhörer auslösen kann. Auch das pendelnde Bass-Glissando kann als eine sich wiegende Unstetigkeit interpretiert werden. In Bezug auf den erzählerischen, manchmal fast belanglos wirkenden Sprechgesang ist zugleich eine neutrale bis ironische Haltung zu erkennen. Dies spiegelt sich in der simplen Liedstruktur und dem “doo do doo… “-Einsatz wider, da Leichtigkeit und Gelassenheit vermittelt werden. Auch die Textzeile “Valium would have helped that bash” in der fünften Strophe kann sich als humorvoll gemeinter Ausspruch ausweisen. Trotzdem bleibt es auf inhaltlicher Ebene ernsthaft, da die Liedfiguren ihre extremen Erfahrungen mit Erotik, Sexualität und Drogen machen. Sie erreichen New York und leben ihre Sexualität aus, wie es im Vers “shaved her legs and then he was a she” oder im Vers “in the back room she was everybody’s darling” zu hören ist. Jedoch bleibt der negative Beigeschmack der Prostitution. Ob die Protagonisten von diesem Geld in der neuen Stadt überleben müssen oder ob sie sogar in dieser Aktion einen gewissen Reiz sehen, sei dahingestellt.

Letztendlich scheinen Lyrics und musikalisches Material eine gewisse Widersprüchlichkeit zu generieren. Neben den harmonischen Klängen bekommen Holly (Holly Woodlawn), Candy (Candy Darling), Little Joe (Joe Dallesandro), Sugar Plum Fairy (Joe Campbell) und Jackie (Jackie Curtis) (vgl. ebd.) durch die Sicht des lyrischen Ichs ungeschönte Profile. Für das Amerika der 70er Jahre war die Thematisierung dieser Tabus wie Transsexualität und Oralsex grundsätzlich eine konfliktgeladene Angelegenheit. Aber mit WALK ON THE WILD SIDE wurden diese Geschichten einer bestehenden und aktiven Subkultur von einem größeren Publikum gehört. Reed hat mit diesem Song die Nähe zu einem Bevölkerungsteil geschaffen, der in der damaligen Zeit eher ein verstecktes Dasein in der Gesellschaft führte. Dennoch bestätigte Reed mit den spröden Geschichten auch vorherrschende Klischees und Vorurteile. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob die Liedfiguren sogar als Karikatur ihrer selbst wahrgenommen werden können, da die beherrschende Liedzeile zuweilen Naivität ausdrückt. Abschließend erscheint der Umstand interessant zu sein, dass Reed auf dem Album Transformer vor allem Hasslieder produzieren wollte (vgl. Doggett 1999: 124). Welche Art von Hass in WALK ON THE WILD SIDE vermeintlich vorherrscht, bliebe noch zu untersuchen. Auch die Frage, wer auf wen Hass ausübt, wäre von Bedeutung, denn die Lyrics lassen sich vielmehr als ein Streben und Suchen nach Aufmerksamkeit innerhalb eines marginalisierten Milieus auswerten.

Im Zusammenhang mit dem Albumtitel Transformer findet auch in WALK ON THE WILD SIDE eine Entwicklung statt: Der vorerst belanglose Songcharakter gewinnt aufgrund von musikalischen Details an Brisanz und modifiziert sich dadurch. Das Thema des Transformierens ist u. a. im Wechselspiel von Fade-In/Fade-Out-Elementen zu erkennen. Weitere Ausformungen sind in den Bereichen Bass, Chor, Streicher und Saxofon-Solo zu hören, gegenübergestellt sind ihnen konstante Elemente wie Rhythmus-Gitarre oder auch Schlagzeug. Umwandlungen erfahren auch die Songfiguren verschiedenartig; sei es transsexuell, drogensüchtig oder auf sexueller Ebene, wenn sie sich z. B. prostituieren. Hierbei ist zu bemerken, dass sich alle in die gleiche Protagonistenrolle umwandeln. Sie sind mit dem “Walk on the wild side”-Spruch behaftet und bilden demnach eine Gruppe von Transformierten. Ein weiterer Aspekt der Transformierung ergibt sich im Hinblick auf das Plattencover. Bevor Reed die Stadt London nach den Aufnahmen wieder verließ, wurde noch eine Foto-Session von Mick Rock arrangiert (vgl. Bockris 1995: 210). Basierend auf den Erfahrungen der Elektroschocktherapie und der Vorliebe für Science Fiction sowie Horror, ließ sich Reed als eine Art Rock ‘n’ Roll-Frankenstein mit bleichem Gesicht, dunklen Augen, schwarzen Lippen und zerzausten Haaren ablichten (vgl. ebd.). Das schwarz-weiß-Foto setzt den Singer/Songwriter, der in die Weite schaut, in eine Distanzhaltung, indem nur grobe Formen und Strukturen zu erkennen sind.

Eine frappierende Ähnlichkeit zum Gesicht- und Haar-Styling zeigt Tim Curry später mit seiner Rolle im Musical The Rocky Horror Picture Show von 1975 (vgl. Bockris 1995: 211).  Das Musical setzt sich zudem in ironischer sowie komischer Weise mit Themen der sexuellen Neigungen und Gender-Fragen auseinander und nimmt daher in gewisser Weise auch das Sujet des Transformierens in Anspruch (vgl. ebd.). Schließlich ist eine Gegenüberstellung von Umwandlung auch auf dem Backcover von Transformer zu sehen: zur Linken ein Transvestit in Dessous, zur Rechten ein durchtrainierter Mann in hautenger Jeans, verkörpert von der gleichen Person (vgl. Doggett 1999: 124). Hier zeigt sich das Spiel des Cross-Dressings, das auch in WALK ON THE WILD SIDE bereits in der ersten Strophe mit der Umwandlung von Holly behandelt wird.

 

IV. Rezeption

WALK ON THE WILD SIDE ist ein Song, der Reed nicht nur von einem Mitglied der Kult-Band The Velvet Underground zu einem Star transformierte, sondern durchaus auch ein kritisches Potential zum damals vorherrschenden Gesellschaftsbild zeigt. Mit Reeds Worten “I always thought it would be kinda fun to introduce people to characters they maybe hadn’t met before, or hadn’t wanted to meet” (Bockris 1995: 208) zeigt sich diese pop-jazzige Hommage widersprüchlich: Abgründe, Drogen, Prostitution und Gestalten, die nach einer wertschätzenden Aufmerksamkeit suchen, treffen auf einen Sound, der von den inhaltlichen Geschehnissen zunächst nichts ahnen lässt. Mit diesem Song, der bei genauerer Betrachtung melancholische Tiefgründigkeit aufweist, konnte er nach eigenen Angaben jahrelang Rechnungen bezahlen (vgl. Johnstone 2006: 39). Ob aufgrund der Konzeption von Musik-Text-Verhältnis der Song im Radio gespielt werden konnte und somit mehr Erfolgschancen zuließ, könnte wissenschaftlich weiter untersucht werden. Das würde bedeuten, dass das musikalische Material die Lyrics in gewisser Weise entkräftet und Radio-Zuhörer*innen die inhaltliche Brisanz passiv aufnehmen.

Über seinen Schreibprozess berichtete Reed, dass er ständig Leute beobachte und analysiere (vgl. ebd.: 86). Daraufhin schreibe er Songs über sie und wenn er dann diese Songs singe, nehme er ihre Persönlichkeit auf (vgl. ebd.). Diese Vorgehensweise lässt sich auch für WALK ON THE WILD SIDE antizipieren. Reed war mit den Mitgliedern der Factory-Szene und deren Geschichten vertraut. Bevor er seinen Erfolg mit WALK ON THE WILD SIDE feierte, war er bereits eine Kultfigur durch The Velvet Underground und seinen exzessiven Rock ‘n’ Roll-Lifestyle geworden (vgl. ebd.: 6). Mit diesem Song, der einen Teil seiner Vergangenheit darlegte, etablierte er sich als Solo-Künstler.

Die besungenen Personen erlebten mehr oder weniger Aufmerksamkeit durch die Medien und zeigten sich generell Reed sehr wohlgesonnen (vgl. Doggett 1999: 126): Candy Darling unterbreitete den Vorschlag, dass man ein Album namens Candy Darling Sings Lou Reed produzieren könne (vgl. ebd.). Dieses Projekt konnte jedoch aufgrund ihres frühen Todes im Jahr 1975 nicht verwirklicht werden (vgl. ebd.). Auch Andy Warhol sah in dem Erfolg von WALK ON THE WILD SIDE eine hervorragende Gelegenheit, um für seine Film-Trilogie mit verschiedenen Dragqueens und Joe Dallesandro zu werben (vgl. Bockris 1995: 213).

Kritiker nahmen Transformer und WALK ON THE WILD SIDE unterschiedlich auf: Das Album ordneten sie im Glamrock-Genre ein (vgl. ebd.: 212), zum Teil wird es noch heutzutage als Meisterwerk des Glamrocks angesehen (vgl. Johnstone 2006: 12). Manche betonten den Einfluss von Bowie und Ronson (vgl. Bockris 1995: 212). Andere sahen in Reed ein Phantom of Rock, das von Bowie inspiriert worden war (vgl. ebd.: 215) und mit seiner Attitüde eine Subkultur in den Fokus rückt (vgl. ebd.: 206). In diesem Zusammenhang ist abschließend die Tatsache hervorzuheben, dass WALK ON THE WILD SIDE nicht nur Nummer-1-Jukebox-Hit in Amerika im Jahr 1973 wurde (vgl. ebd.: 213), sondern auch bis heute Kultstatus im Rock-/Pop-Bereich erfährt. Auf der Rangliste der besten Songs aller Zeiten des Rolling Stone-Magazins ist das Lied auf Platz 223 verortet (vgl. Niasseri 2014). Zudem spielte Lou Reed den Song auf vielen Live-Tourneen, so dass es auf vier Live-Alben vertreten ist, u. a. auf Live von 1975 oder auch auf American Poet, 2001 erschienen. Künstler*innen wie Robbie Williams oder auch Vanessa Paradis coverten den Song. A Tribe Called Quest sampelten zudem das Lied in “Can I Kick it”. Auch als Filmmusik fand WALK ON THE WILD SIDE Verwendung, z. B. im Film Georgia aus dem Jahr 1995.

 

KRISTINA JOHANNES


Credits

Guitars: Lou Reed & Mick Ronson
Bass guitars: Klaus Voorman, Herbie Flowers
String bass: Herbie Flowers
String & Bass arrangements: Mick Ronson
Drums: John Halzey, Barry Desouza, Ritchie Dharma
Baritone sax: Ronnie Ross
Vocals: Lou Reed
Vocal Backings: David Bowie, Mick Ronson & The Thunder Thighs
Music/Writer/Songwriting: Lou Reed, David Bowie & Mick Ronson
Producer: David Bowie & Mick Ronson
Label: RCA
Recorded: 1972
Published: 1998
Country: UK & Europe
Original Mastering: Arun Chakraverty
Original Design: Ernst Thormahlen
Remastering: Andy Pearce
Photography (Cover): Mick Rock
Photography (Back Cover): Karl Stoeker
Length: 04:12

Recordings

  • A Tribe Called Quest. “Can I Kick It”. On: People’s Instinctive Travels and the Paths of Rhythm, 1990, Jive, 74321 19421 2, Europe (CD).
  • Jimi Hendrix. “Hey Joe”. On: Experience Hendrix – The Best of Jimi Hendrix, 1997, MCA Records, 111 671-2, UK & Europe (CD).
  • Lou Reed. “Kill Your Sons”. On: Sally Can’t Dance, 1983, RCA, ND90308, Germany (CD).
  • Lou Reed. “Make Up”. On: Transformer, 1998, RCA/Screen Gems-EMI Music Ltd, 74321 601812, UK & Europe (CD).
  • Lou Reed. “Walk On The Wild Side”. On: Transformer, 1998, RCA/Screen Gems-EMI Music Ltd, 74321 601812, UK & Europe (CD).

Alben

  • Lou Reed. American Poet, 2001, MSI, MSIF 3835, Japan (CD).
  • Lou Reed. Lou Reed Live, 1989, RCA, 3752-2-R, UK (CD).
  • The Rocky Horror Picture Show. The Rocky Horror Picture Show, 1989, Ode Records (2), R2 70712, US (CD).

Covers

  • Robbie Williams. “Walk on the Wild Side”. On: Live: Take the Crown Stadium Tour 2013 07.08.2013 Olympiastadium Munich, 2013, Concert Live, CLCD449 , UK (CD/CDr).
  • Vanessa Paradis. “Walk on the Wild Side”. On: Variations sur le Même T’Aime, 1990, Polydor, 843 447-1 , France (CD/Album).

References

  • Anonym: “Walk On The Wild Side by Lou Reed. Songfacts”. In: Songfacts.com, o.J. URL: http://www.songfacts.com/detail.php?id=1724 [29.09.2016].
  • Bockris, Victor: Lou Reed. The Biography. London: Vintage 1995.
  • Doggett, Peter: Lou Reed Biographie. Köln: vgs verlagsgesellschaft 1999.
  • Fricke, David: Lou Reed – Transformer. In: Booklet Lou Reed – Transformer (1998).
  • Fricke, David: Lou Reed. Von Velvet Underground bis Metallica: Ein Blick auf das Leben und Werk des genialen Außenseiters, der die Rockmusik für immer veränderte. In: Rolling Stone Deutschland 230 (Dezember 2013), 36–42.
  • Georgia. Regie: Ulu Grosbard. Drehbuch: Barbare Turner. Miramax Films, 1995 (DVD).
  • Johnstone, Nick: Lou Reed-Talking. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2006.
  • Niasseri, Sassan: “Die 500 besten Songs aller Zeiten: Die komplette Liste”. In: Rolling Stone, o.J. URL: https://www.rollingstone.de/die-500-besten-songs-aller-zeiten-die-komplette-liste-2-580579/ [29.09.2016].

About the Author

Analysis written in a course of Prof. Dr. Martin Pfleiderer at the University of Music FRANZ LISZT Weimar.
All contributions by Kristina Johannes

Citation

Kristina Johannes: “Walk on the Wild Side (Lou Reed)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/walk-on-the-wild-side/, 06/2021.

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