Mit der Präsentation von TOM PILLIBI gelang der damals neunzehnjährigen Éliane Ducos unter dem Künstlernamen Jacqueline Boyer am 29. März 1960 in London der Gewinn des damals zum vierten Mal ausgetragenen Grand Prix Eurovision de la Chanson.
I. Entstehungsgeschichte
Jacqueline Boyer war trotz der später auch in anderen Kontexten berühmt gewordenen Konkurrenz (Rudi Carrell, Camillo Felgen, Siw Malmkvist, Fud Leclerc) von Anfang an die erklärte Topfavoritin und sie wurde dieser Rolle mit ihrem souveränen Sieg auch gerecht. Mit dem von André Popp komponierten und von Pierre Cour getexteten Chanson begann sie eine etwa zehn Jahre andauernde Karriere, die sie auf 45 Tourneen allein in Deutschland führte, wenn auch ihr späterer Versuch, unter dem Namen Barbara Benton in den USA Fuß zu fassen, misslang und sie alsbald zu Galaauftritten wieder nach Frankreich zurückkehrte.
II. Kontext
Jacqueline Boyers Sieg war der bereits zweite für Frankreich im fünften Jahr des Eurovision-Wettbewerbs, den bis dato nur niederländisch (Niederlande 1957 und 1959) und französisch gesungene Beiträge hatten gewinnen können (Schweiz 1956, Frankreich 1958). Boyer hatte als Tochter einer etablierten Sängerin, Lucienne Boyer (“Parlez-moi d’amour”), deren Künstlernamen sie zur Wiedererkennung annahm, und des noch bekannteren Jacques Pills, Ehemann von Edith Piaf, schon seit ihrer Jugend auf der Bühne gestanden und bereits mit etablierten Showgrößen wie Marlene Dietrich gesungen.
Mit ihrer Eurovisionsteilnahme, die sie der Nominierung durch die Verantwortlichen des französischen Fernsehens verdankte, trat sie insofern direkt in die Fußspuren ihres Vaters, der im Vorjahr für Monaco allerdings äußerst schlecht abgeschnitten hatte.
TOM PILLIBI, ein erzählendes, leicht beschwingtes und rhythmisches Chanson, das der Gattung des chanson facile entspricht, war ursprünglich für Marcel Amont in Auftrag gegeben worden, der aber seine Teilnahme im Vorfeld absagte, so dass Jacqueline Boyer einsprang und statt der, dem Vortrag eines männlichen Interpreten innewohnenden, maskulinen Bewunderung eines Freundes die deutlich intimere weibliche Perspektive auf die Titelfigur des Tom Pillibi einnahm und so dem Chanson eine andere Wendung gab. Diese schelmisch-naive Sprecherhaltung in Kombination mit dem Jungmädchencharme war dem Erfolg des Beitrags auf europäischer Bühne sicherlich zuträglich.
III. Analyse
Das eher schlichte up-tempo-Chanson folgt nur inhaltlich dem Schema der Balladenerzählung. Die durch die Titelwiederholung in drei Blöcke geteilte zwölfstrophige Geschichte von Tom Pillibi wird in drei mal vier Zeilen erzählt, wobei zum Abschluss nach den dritten Strophen jeweils “Sacré Tom Pillibi” als Refrain angefügt wird.
Wie schon die französischen Eurovisionsbeiträge der Vorjahre beruht auch TOM PILLIBI auf einem traditionellen literarisch etablierten Muster, in diesem Fall der pastoralen Schäferdichtung, die mit pikaresken Momenten gemischt wird. Die singende Erzählerin präsentiert sich als eine Schäferin, die scheinbar ihre Bewunderung des Schlitzohrs Tom zum Ausdruck bringt. Dabei erfolgt allerdings mehrmals der Bruch mit der alten traditionellen und irreal-utopischen Schäferwelt durch den Einfluss realer Toponyme (Schottland, Montenegro) und insbesondere durch den Ausdruck von anerkennender Bewunderung mittels moderner Umgangssprache (“Sacré Tom Pillibi”). Die Momente der Hirtenwelt, die auch den Stil des Textes klassisch legitimieren und auf eine niedere Stilebene, auf Einfachheit und Diminutive festzurren, werden jedoch ständig aufgrund der Außergewöhnlichkeit der Heldenfigur Tom mit Störfaktoren unterbrochen.
Schon der Name des Helden Tom Pillibi ist ein solches Störmoment. Die Wahl des englischen Vornamens Tom in Kombination mit dem seltsamen und ungebräuchlichen Nachnamen Pillibi, der vielleicht an Philipps erinnert, italienisch oder griechisch klingt und ebenso an den Nachnamen von Boyers Vater Pills gemahnt (und damit sogar eine Anspielung an dessen Sonnyboy-Leben wäre) sowie nahezu als Palindrom fungiert, passt nicht so recht zu der naiven kindlich bewundernden Erzählerin der Ballade. Sofort erfahren wir auch von seiner Außergewöhnlichkeit, besitzt Tom doch zwei Schlösser (“Le premier en Ecosse…l’autre au Montenegro”), scheint womöglich halb Schotte, halb Jugoslawe zu sein und damit im völkerverbindenden Wettbewerb ein europäischer Protagonist par excellence, ebenso wie er dank seines Reichtums zwei Boote sein eigen nennt. Er wird als Glücksritter geschildert, dessen Freundin sich das junge Mädchen nennen darf, die ihn aber, wie sie zugibt, ob seines Reichtums bewundert und eben nicht mit ihm auf einer Ebene ist. Damit wird ein Dialog hergestellt zwischen dem einfachen französischen Mädchen vom Lande und dem europäischen Jetsetter.
Allein der Name Tom Pillibi, der elfmal im Lied wiederholt wird, trägt den Refraincharakter des gleichmäßig strukturierten Chansons. Die Steigerung allerdings findet nicht auf musikalischer Ebene, sondern auf inhaltlicher statt und scheint auf eine Pointe schon im zweiten Teil zuzusteuern, wenn von den zwei Geheimnissen Toms gesprochen wird, die die Erzählerin mit ihm teilt. Die zwei Geheimnisse sind zunächst die beiden Verehrerinnen: die Königstochter und die Schäferin, also das singende Ich selbst, deren Rivalin in der Märchenwelt somit die ranghöchste aller nur möglichen Konkurrentinnen ist. Damit wird einerseits die Konkurrentin überhöht und gleichsam als gesellschaftlich nicht erreichbare Rivalin betitelt. Andererseits wird das für die Schäferdichtung typische Ungleichgewicht zwischen der Geliebten und dem Angebeteten hergestellt und erneut die ‚Kleinheit’ als konstitutiv für die Schäferwelt bezeichnet. Das zweite Geheimnis allerdings ist weniger eindeutig, vermutlich handelt es sich allerdings um die Dekonstruktion der Pillibi-Geschichte.
Schließlich wird Tom Pillibis übergroßes Glück und die Begünstigung durch das Schicksal durch offene Fragen (“Quelle bonne étoile veille sur lui?”) schon leicht kritisch hinterfragt und die Bewunderung dieses Casanovas wiederholt, bevor im letzten Drittel das Lied noch eine überraschende Pointe erfährt, die die Schäferidylle in die weitaus realere Gegenwart transportiert. Tom Pillibi, so erfahren wir, hat einen Makel, auch wenn dieser, wie ironisch-kontrastiv hinzugefügt wird, nur klein und harmlos sei. Noch einmal seine guten Eigenschaften gleichsam überbetonend und dabei seinen Charme, sein gutes Herz, seine Ritterlichkeit herauskehrend, wird schließlich der Einwand offengelegt: “Mais il est si menteur”. Tom entpuppt sich – so also das zweite Geheimnis – als Lügner, als Blender und damit als Inbegriff eines Casanovas, dem die Dame erliegt, wohlwissend dass er lügt: “Mais je m’en fiche quand je suis dans ses bras”. Ihm wird also sein falsches Spiel verziehen, wenn er sie nur erhört. Sein aufschneiderisches Playboy-Spiel hatte also Erfolg.
Das Rollenbild, das hier der Interpretin Jacqueline Boyer auf den Leib geschrieben wird, ist also das der in der Liebe zum Mann aufgehenden Frau, die sich schließlich am Ende selbst als Königin fühlen darf, wenn sie nur in seinen Armen liegt: “Car je suis reine de grand pays où il m’entraîne”. Der Schlingel und Verführer Tom Pillibi kann also sein raffiniertes Spiel mit den Frauen, die er gleichsam gegeneinander ausspielt, deshalb erfolgreich zu Ende führen, weil diese mitspielen. Sie können es ihm nicht übel nehmen, dass er fremdgeht und sie fühlen sich sogar umso wertvoller, je bedeutender die Konkurrentin ist. Wenn Tom also eine Königstochter zu erobern vermag, fühlt sich auch die kleine Schäferin wie eine Königin und blendet aus, dass er sie eben nur betört, ohne ihr alleine zu gehören. Somit wäre das klassische Rollenmodell nicht nur der pastoralen Literatur, sondern nachgerade jenes der 1950er Jahre aufgerufen, das insofern schon den Emanzipationsforderungen der Frau ein zumindest in Ansätzen gerecht werdendes Modell anbietet, indem sie nun die Wissende und nicht (mehr) die Dumme ist, was ganz ähnlich auch in den populären Filmen der Zeit mit Gina Lollobrigida und Sophia Loren ausagiert wird.
Dass eine junge, adrette und durchaus reizvolle Sängerin diese Botschaft verkauft und damit auch Erfolg hat, zeigt wie beide Geschlechter dieses westeuropäische Modell gerade in der konservativen Abendunterhaltung unironisch und alles andere als kämpferhaft akzeptiert haben.
Vor dem Hintergrund der vorangegangenen ebenso traditionellen französischen Beiträge zur Eurovision (1957 Paule Desjardins “La belle amour”, 1958 André Claveau “Dors mon amour”, 1959 Jean Philippe “Oui, oui, oui…”) reiht sich TOM PILLIBI ein in das überzeitliche Besingen von Liebe im Geiste der französischen Minnelyrik, das jeglichen zu direkten Aktualitätsbezug ausblendet und sich allein sprachlich allmählich der Gegenwart annähert.
IV. Rezeption
Durch die Jugendlichkeit der Sängerin erstrahlte auf europäischer Bühne ein neuer Star, der bis zu einem vielzitierten gemeinsamen Auftritt mit Charles Trenet (1971) im Pariser Olympia gleichsam hüben wie drüben, in Frankreich wie Deutschland, zu einem vielgesehenen Konzert- und Galagast wurde. Die flotte Darbietung machte Schule, hatte zum ersten Mal in der Geschichte der Eurovision Erfolg auf dem Plattenmarkt und ebnete auch in der Inszenierung langfristig den Weg für Interpretinnen wie France Gall (Sieg 1965 für Luxemburg).
Das Lied ist im Grunde der erste Gassenhauer, der aus den Siegertiteln des Song Contest erwachsen ist, auch wenn bereits zuvor Domenico Modugnos Titel, bekannt und viel zitiert unter den eingängigen Refrains “Volare” und “Ciao, ciao bambina”, weitaus mehr Aufmerksamkeit außerhalb der Eurovision gefunden hatten als die jeweiligen Sieger.
Jacqueline Boyer präsentierte im Anschluss an ihren Erfolg auch eine englischsprachige Version ihres Beitrags, der die Womanizer-Qualitäten des Tom Pillibi noch stärker betonte und ihn als wahren Blender und Schürzenjäger präsentiert. Genauso sang sie auch die deutsche Version des Titels, die deutlich märchenhafter inspiriert ist, denn dort befindet sich das Schloss des kleinen Schwindlers Tom unterm Sternenzelt, hinter den sieben Bergen und der Angebetete hat dort einfach nur zu viel Phantasie und begeht damit nur ein harmloses Vergehen eines Charmeurs.
Boyer schließlich hatte in Deutschland weitaus mehr Erfolg drei Jahre später mit “Mitsou”, einem veritablen Top-Ten-Hit und Klassiker der deutsch-französischen Unterhaltungsmusik.
CHRISTOPH OLIVER MAYER
Recordings
- Jacqueline Boyer. “Tom Pillibi”, 1960, Columbia, ESRF 1268, France (Vinyl/7”-Single).
- Jacqueline Boyer. “Tom Pillibi”, 1960, Columbia, C21455, Germany (Vinyl/7”-Single).
- Jacqueline Boyer. “Tom Pillibi”, 1960, Columbia, C45092, UK (Vinyl/7”-Single).
References
- Hautier, Jean-Pierre: La folie de l’Eurovision. Bruxelles: Les Editions de l’Arbre 2010.
- Kennedy O’Conner, John: The Eurovision Song Contest. 50 Years. The Official History. London: Carlton Books Ltd. 2005.
Links
- http://www.diggiloo.net/?1960fra [03.11.2014].
- http://www.eurovision.tv/page/history/by-year/contest?event=277 [03.11.2014].
- www.jacqueline-boyer.com [03.11.2014].
About the Author
Christoph Oliver Mayer (PD Dr.) teaches Romance Studies at the University of Dresden.
Citation
Christoph Oliver Mayer: “Tom Pillibi (Jacqueline Boyer)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christopher Jost, http://www.songlexikon.de/songs/tompillibiboyer, 10/2014 [revised 11/2014].
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