1991
U2

The Fly

THE FLY ist ein Song der irischen Rockband U2, der sich zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung stilistisch deutlich von früheren U2-Songs abgrenzte.

I. Entstehungsgeschichte

THE FLY ist der siebte Track auf Achtung Baby, dem siebten Studioalbum von U2 (erschienen am 19.11.1991). Der Song wurde am 12.10.1991 als erste Single ausgekoppelt (mit der B-Side “Alex Descends into Hell for a Bottle of Milk/Korova 1”). Für Musik und Text zeichnete die gesamte Band verantwortlich. Die Entstehung des Songs, wie des Albums allgemein, stand zunächst unter keinem guten Stern. Nach der Produktion von Rattle and Hum (1988) und der anschließenden extensiven Tourneetätigkeit war das freundschaftliche Verhältnis der Bandmitglieder gestört. Die Band suchte zudem nach neuen Quellen der Inspiration und war bereit, Stil und Image zu hinterfragen. Frontmann Bono meinte die geeignete Atmosphäre für die anstehende Albumproduktion im wiedervereinigten Berlin zu finden. Einerseits glaubte er, den Geist der Wiedervereinigung Deutschlands und die daraus resultierende Überwindung des Kalten Krieges in kreativer Weise reflektieren zu können, andererseits hoffte er, in den Hansa Studios ein kreativitätsförderndes Ambiente für die Produktion zu finden. Denn die Hansa Studios besitzen im Wertesystem der Rockkultur eine fast schon mythische Qualität. In ihnen arbeitete einst David Bowie an den Alben Low (1977) und Heroes (1977), mit denen seinerzeit die existierenden Konventionen der Rockmusik durchbrochen wurden. Im Oktober 1990 begannen U2 mit der Arbeit am neuen Album. Anfänglich divergierten die klanglichen Vorstellungen und kompositorischen Ansätze der einzelnen Bandmitglieder erheblich. Während Gitarrist The Edge und Sänger Bono klangliche Anleihen im Noise und Industrial Rock, in den Sparten der elektronischen Tanzmusik sowie im Sound der sogenannten Rave-Szene in Manchester suchten, also in damals zeitgemäßen Stilen und Genres, tendierten Schlagzeuger Larry Mullen Jr. und Bassist Adam Clayton zu den Wurzeln der Rockmusik, verkörpert durch Künstler wie Led Zeppelin oder Jimi Hendrix. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es der Band, die verschiedenen Klangvorstellungen in einen neuen Sound zu integrieren.

II. Kontext

Der für eine Band aus dem anglophonen Sprachraum eher unübliche Albumtitel besitzt eine anekdotische Qualität, so geht er auf den wiederkehrenden Ausruf “Achtung Baby” des Tontechnikers Joe O’Herlihy während der Aufnahmesessions zurück. Jenseits dieser bandbiographischen Hintergründe ist entscheidend, dass der Titel einen offensichtlichen Codeswitch markiert. Seine Wirkung vermag der Titel vor allem aufgrund des partiellen Abweichens von der (englischsprachigen) Norm (“Achtung”) sowie aufgrund der paradox anmutenden Verquickung von Ausrufs- und informellem Adressierungscharakter entfalten. Angesichts der Vorgängeralben dürfte die Titelgebung ein gewisses Maß an Irritation unter den Fans hervorgerufen haben. Insgesamt ist auffallend, in welch offensichtlicher Art und Weise mit Achtung Baby kreativer Wandel markiert wird. So liegt etwa dem Front-Cover eine serielle Kompositionsweise zugrunde. Gezeigt werden insgesamt sechzehn quadratförmige Fotografien (im Anordnungsprinzip 4×4), auf denen zum Teil die Mitglieder der Band in unterschiedlichen Settings und Posen zu sehen sind. Schwarzweiß-Fotografien mischen sich mit farbigen und verschwommenen Aufnahmen. Einzelne Personenaufnahmen zeigen angeschnittene Körper und Köpfe. Aus bildästhetischer Perspektive lässt sich anführen, dass das Unfertige und Unzusammenhängende als das Eigentliche präsentiert wird. Folglich wird mit den auf den Vorgängeralben The Joshua Tree (1987) und Rattle and Hum (1988) vermittelten Bild einer in den kulturellen Sphären des Folk und Blues verwurzelten Band gebrochen wird. Die Motive einer weiten, unverfälschten Landschaft (The Joshua Tree) werden durch das größtmögliche Kontrastmotiv, nämlich urbane Szenerien, abgelöst. Die zentrierte Darstellung der in sich versunkenen musikmachenden Person (Rattle and Hum) wird durch eine Assemblage von vielen nichtmusizierenden Personen ersetzt. Während auf den zwei Vorgängeralben die Darstellung der Band bzw. der einzelnen Mitglieder monolithische Züge angenommen hat, so wird nun eine Diversifikation der Sichtweisen auf die Band verfolgt. Auf der Musikebene werden ebenso Entwicklung wie Wandel markiert. Signifikant ist, dass Gitarrist The Edge über weite Strecken des Albums einen lärmenden, geräuschvollen Gitarrenklang kreiert. Der vereinzelte Gebrauch des Wah-Wah-Pedals (THE FLY und “Mysterious Ways”) bewirkt eine klangliche Intensivierung im Obertonbereich und lässt in der Folge das Klanggeschehen schrill erscheinen. Die stimmliche Darbietung wird in “Zoo Station” und THE FLY durch die Anwendung eines Klangeffekts verfremdet, mit der Konsequenz, dass die Stimme ähnlich verzerrt klingt wie die Gitarre. Der Song “Tryin’ to Throw Your Arms Around the World” beginnt seinerseits mit einem Drumsample, das während der Dauer des Songs mehrfach wiederholt wird und somit das Rhythmusgeflecht des Songs grundlegend mitgestaltet. U2 und ihr Produzenten- und Tontechnikerteam folgen mit der Anwendung der Sample-Technik einem Trend, der sich gegen Ende der 1980er-Jahre in den Stilen des Acid Jazz und zu Beginn der 1990er Jahre im sogenannten Bristol-Sound abzeichnete und seine Wurzeln im Old School Hip-Hop der frühen 1980er-Jahre hat. In den Songs “Until The End of the World” und “Mysterious Ways” wird das Schlagzeug um ein Percussion-Set erweitert. Der Einsatz von Perkussionsinstrumenten wie Bongos, Congas, Concerros (Kuhglocke) und Maracas ist zu Beginn der 1990er Jahre typisch für Bands, die zur sogenannten Raveszene in Manchester gezählt werden (wie z.B. Primal Scream, Happy Mondays, The Charlatans und The Stone Roses). Für U2 indes bedeuten diese Instrumente sowie die oben genannten Gestaltungsmittel eine eindrückliche Neuausrichtung des artistischen Selbstverständnisses. Hinzu kommt, dass die Songzusammenstellung im Vergleich zu den Vorgängeralben Assemblage-artig anmutet: Experimentelles (7. THE FLY) folgt auf Balladenhaftes (6. “So Cruel”), Samples, Loops und Groove-Patterns (9. “Tryin’ to Throw Your Arms Around the World”) folgen auf psychedelische Klangwelten (8. “Mysterious Ways”), auf die wiederum traditionell anmutende Rockklänge (10. “Ultra Violet (Light My Way)”) folgen.

III. Analyse

Der Song hat sowohl in der Album- als auch in der Singleversion eine Dauer von 4:29 Minuten. In ihm kommen Hauptgesang, Nebengesang, E-Gitarre, E-Bass und Schlagzeug zum Einsatz. Sein tonales Zentrum ist E(-Dur). Entscheidend für ein tiefer gehendes Verständnis des Songs ist sein Titel. Nach Bekunden der Band wird mit THE FLY ein fiktiver Charakter geschaffen, der synonym für eine bestimmte Geisteshaltung steht. In einem Interview mit dem Rolling Stone beschrieb Bono diesen Charakter wie folgt: “It’s like Jerry Lee Lewis and Jimmy Swaggart [ein in den USA allgemein bekannter TV-Priester, Anm. d. Verf.], in my mind, are the same guy. […] The character is just on the edge of lunacy. It’s megalomania and paranoia.” (Fricke 1992, 6) Dem fügt Gitarrist The Edge hinzu: “There are these characters, certainly in Dublin and I’m sure everywhere else, who sit on these stools by the bar all day. And they know everything. […] Some of the things they say can be incredibly smart. And yet they are probably mad.” (Ebd.) Der THE-FLY-Charakter wird als Inbegriff egozentrischer Übertreibung angelegt und dient als künstlerische Projektionsfläche, an der der widersprüchliche Zustand der postindustriellen Gesellschaft, Wissen und Unwissen in einem zu erzeugen, offengelegt werden soll. Anschaulich wird dies anhand der dritten Strophe, welcher die folgende Zeilen zu entnehmen sind: “It’s no secret that a conscience can sometimes be a pest. It’s no secret that ambition bites the nails of success. Every artist is a cannibal, every poet is thief. All kill their inspiration and sing about the grief”. Diesen Zeilen nach zu urteilen, entbehrt die postmoderne Gesellschaft einer Realität, die im Sinne einer objektiven Welt verstanden werden kann. Der Gesellschaft steht hiernach die Entmystifizierung ihrer eigenen Werte und Ideale bevor. Im Refrain zu THE FLY wird diese Thematik weiter behandelt, so wird in Gegenüberstellung von Hauptgesang und Nebengesang das Kulturideal der Liebe aufgebaut, dekonstruiert und in der Folge als ambigue entschleiert. U2 übernehmen eine sarkastische Perspektive, mit deren Hilfe sie den Bedeutungsträger “Liebe” entmystifizieren. Durch den Hauptgesang werden die Aspekte der Erniedrigung und Selbstaufgabe thematisiert (“A man will beg, a man will crawl on the sheer face of love”), wohingegen der Nebengesang in romantisierender Weise den symbiotischen Aspekt von Liebe benennt (“Love, we shine like a burning star. We’re fallin’ from the sky … tonight”). An THE FLY kann ferner anschaulich gemacht werden, in welchem musikalischen Handlungsspektrum U2 zu Beginn der 1990er-Jahre ihr neues artistisches Selbstverständnis kommunizierten. Im Folgenden sollen drei Merkmale fokussiert werden, die für die Konfigurationslogik des Songs als wesentlich erachtet werden. Bei dem ersten Merkmal handelt es sich um das bluesartige Drei-Noten-Riff der E-Gitarre, bestehend aus dem (oktavisch) gedoppelten Grundton e und der kleinen Septime. In rhythmischer Hinsicht prägend ist die Sechzehntel-Synkope in der Taktmitte. Mit Blick auf die Klangkonventionen der Rockmusik ist dieses Riff nicht weiter ungewöhnlich. Es repräsentiert im weitesten Sinne eine (Hard-)Rock-Stilistik, wie sie sich in der Musik von erfolgreichen Mainstream-Bands wie Led Zeppelin oder gegenkulturell orientierten Bands wie Iggy and The Stooges widerspiegelt. Im Œuvre von U2 jedoch stellt diese offensichtlich Groove-orientierte Herangehensweise eine Ausnahme dar. Die Exzeptionalität dieses musikalischen Bausteins wird zudem durch den Sound der Gitarre betont. Durch den Gebrauch von Phaser-Effekten und Wah-Wah-Pedal entsteht ein schriller, lärmender Sound. Der durch das Gitarrenspiel erzeugte Groove wird durch den Bass unterstützt, der sich in den Strophenabschnitten sowie während des Solos und der Coda an der rhythmischen Grundstruktur des Riffs anlehnt. Das zweite Merkmal bezieht sich auf den Aspekt des Formverlaufs und die Frage, welche Stellung das benannte Sound- und Rhythmusgefüge innerhalb des Songs einnimmt. Diesbezüglich fallen sowohl die Dauer, die den rein instrumentalen Passagen, also jenen, in denen die Gitarre den “Ton vorgibt”, eingeräumt wird, als auch deren Verortung im Formverlauf auf. So sind von den insgesamt 110 Takten des Songs 64 Takte als Instrumentalpassagen angelegt. Das bedeutet: In über der Hälfte der Takte wird der schrillen Groove-Konfiguration kein melodisch-stimmliches bzw. semantisches Bezugssystem zur Seite gestellt. Dies ist allgemein im Hinblick auf aufwendige Mainstream-Produktionen als eher unkonventionelles Gestaltungsmittel zu erachten, noch ungewöhnlicher erscheint es, wenn man in Betracht zieht, dass es sich bei THE FLY um die erste Singleveröffentlichung zum Album Achtung Baby gehandelt hat, also um jenes Medienprodukt, mit dem sich U2 nach ihrer kreativen Selbstfindungsphase “zurückgemeldet” haben. Mit Blick auf den Formverlauf ist interessant, dass die gitarrenzentrierte Groove-Konfiguration an exponierten Stellen des Songs erklingt, so in einer ausgedehnten Intropassage (13 Takte), im Gitarrensolo in der Mitte des Songs (18 Takte) sowie in einem längeren Codaabschnitt (20 Takte) – Anfang, Mitte und Ende des Songs werden somit rein instrumental markiert. Eine signifikante klanglich-strukturelle Abweichung findet im Gesangspart des Refrains statt, dies stellt das dritte Merkmal dar. Wie oben erwähnt, stehen Haupt- und Hintergrundgesang in einer Art Kontrapunktverhältnis zueinander. Während der Hauptgesang als klanglich verfremdeter, d.h. verzerrter Sprechgesang wiedergegeben wird, wird der Hintergrundgesang in einer klanglich nichtverfremdeten, lyrischen Falsettstimme dargeboten. Zusätzlich zu den Unterschieden in Stimmregister und melodischer Kontur werden unterschiedliche semantische Felder aufgerufen (siehe oben). Diese Form der Kontrastierung mutet fast schon (musik)theatralisch an, sie kreuzt in semantischer wie in musikalischer Hinsicht das Opulent-Kitschige mit dem Dreckigen, Einfachen und Unreinen. Eine solche inszenatorische Herangehensweise, die die Brücke zu traditionellen (kunstmusikalischen) Kompositionstechniken schlägt, stellt im Œuvre von U2 (nicht nur bis Achtung Baby) die Ausnahme dar. U2 entfernen sich im Zuge dieses spielerisch-ironischen Umgangs mit musikalischen Gestaltungsmitteln einmal mehr von dem Image einer Band, die sich den afroamerikanischen Wurzeln der Rockmusik verpflichtet fühlt.

IV. Rezeption

THE FLY kann insgesamt als kommerzieller Erfolg für die Band gewertet werden. Dennoch waren die Reaktionen des Publikums gemischt. Während die Single in diversen europäischen Ländern hohe Chartplatzierungen erreichte, gelangte sie in den US-amerikanischen Billboard 100 nur auf Platz 61. In aktuellen Pop-Kanonisierungen findet der Song kaum Erwähnungen. Die Bedeutung des Songs lässt sich vor allem in einem bandbiographischen Kontext ermessen. So handelt es sich bei der Single THE FLY um jenes Medienprodukt, mit dem U2 den Neuanfang im Anschluss an die überaus erfolgreichen Alben The Joshua Tree (1987) und Rattle and Hum (1988) gewagt hatte. Die neu gewonnene Radikalität in Bezug auf Songwriting und Klanggestaltung wurde seinerzeit auch in der Musikpresse kommuniziert und als lohnende Weiterentwicklung der Band besprochen (beispielhaft hierfür die Rezension “Bring the Noise” im Rolling Stone Magazine). Außer im Fall der PopMart-Tournee gehörte der Song zum Repertoire von allen U2-Tourneen nach 1990.

 

CHRISTOFER JOST


Credits

Hauptgesang: Bono Vox
E-Gitarre, Nebengesang: The Edge
E-Bass: Adam Clayton
Schlagzeug: Larry Mullen Jr.
Text: U2
Produzent: Daniel Lanois
Label: Island Records
Veröffentlichung: 12. Oktober 1991
Länge: 4:29

Recordings

  • U2. “The Fly”, The Fly, 1991, Island Records, 664 728, Europa (CD/Single).
  • U2. “The Fly”, The Fly, 1991, Island Records, 422-868 885-2, USA (CD/Single).
  • U2. “The Fly”, Achtung Baby, 1991, Island Records, 262 110, Europa (CD/Album).
  • U2. “The Fly”, Achtung Baby, 1991, Island Records, 314-510 347-2, USA (CD/Album).
  • U2. Rattle and Hum, 1988, Island Records, 303400, Europa (2xLP/Album).
  • U2. The Joshua Tree, 1987, Island Records, 258219, Deutschland (CD/Album).

References

  • Chatterton, Mark: U2. The Ultimate Encyclopedia. London: Firefly 2004.
  • Cogan, Višnja: U2. An Irish Phenomenon. New York: Pegasus Books.
  • Harris, Paul: U2’s Compositional Process: Sketching Achtung Baby in Sound. In: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 24/2 (2009), 137-162.
  • Flanagan, Bill: U2 at the End of the World. New York: Random House Publishing Group 1996.
  • Gardner, Elysa: Bring the Noise (Album-Review, 1/1992). In: U2. The Ultimate Compendium of Interviews, Articles, Facts and Opinions from the files of the Rolling Stone. Ed. by Rolling Stone Magazine. London: Sidgwick and Jackson 1994, 171-173.
  • Jost, Christofer: Musik, Medien und Verkörperung. Transdisziplinäre Analyse populärer Musik (= Short Cuts | Cross Media 5). Baden-Baden: Nomos 2012.
  • Rolling Stone (Ed.): Rolling Stone’s 500 Greatest Albums of All Time. 3. Aufl. London: Turnaround 2006.
  • “The 500 Greatest Songs of All Time”. In: Rolling Stone Magazine 963 (2004).

Links

  • Band homepage: http://www.u2.com/ [05.08.2012].
  • Lyrics: http://www.u2.com/discography/lyrics/ [05.08.2012].

About the Author

PD Dr. Christofer Jost is research associate at the Zentrum für Populäre Kultur und Musik, University of Freiburg, and teaches media studies at the University of Basel.
All contributions by Christofer Jost

Citation

Christofer Jost: “The Fly (U2)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/thefly, 08/2012 [revised 10/2013].

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