1993
Almamegretta

Suddd

Die neapolitanische Gruppe Almamegretta steht für eine Musik, in der sich Ragga, Dub, Triphop und andere Richtungen der World Music mit der folkloristischen Tradition Süditaliens sowie des gesamten Mittelmeerraums verquicken. Gesungen werden die Lieder größtenteils in neapolitanischem Dialekt.

I. Entstehungsgeschichte

Die Entstehung der Gruppe geht auf die Jahre 1991/1992 zurück, als sich der Sänger Gennaro Della Volpe, genannt “Raiz”, der Schlagzeuger Gennaro Tesone, genannt “Gennaro T”, der Gitarrist Gianni Mantice, der Keyboarder Paolo Polcari sowie der Bassist Tonino Borrelli zusammenschließen und mit ihrem Song “Figli di Annibale” (1992) italienweit Erfolge feiern. 1994 wird der Dubmaster Stefano Facchielli, genannt “D.RaD”, zum festen Bandmitglied; er stirbt 2004 bei einem Autounfall. Schon zuvor, 2003, verlässt der Leadsänger Raiz die Gruppe und startet eine Solokarriere. Der Song SUDDD wurde 1993 auf dem Album Animamigrante veröffentlicht, Text und Musik stammen von Raiz und Giovanni Mantice. Auf den nachfolgenden Live-Alben der Band ist der Song nicht enthalten, wohl aber auf der DVD der Live-Tour zu Sanacore, dem zweiten, sehr erfolgreichen Album von 1995.

II. Kontext

Bereits durch ihren Namen Almamegretta, der mit “Anima migrante” – “Migranten-seele” – zu übersetzen ist, positioniert sich die neapolitanische Gruppe vor dem Hintergrund einer kulturellen Identitätsbildung, die mit Stuart Hall als “dezentriert”, “zerstreut” und “fragmentiert” bezeichnet werden kann (Hall 1999: 393). Hall postuliert für die Spätmoderne eine generelle “Krise der Identität” und meint, dass “der Prozeß der Identifikation selbst, in dem wir uns in unseren kulturellen Identitäten entwerfen, […] offener, variabler und problematischer geworden [ist]” (Hall 1999: 396). Wie sehr dieser Prozess auch durch die zeitgenössische Populärmusik widergespiegelt wird, macht etwa Iain Chambers deutlich, wenn er die diversen Ausrichtungen insbesondere der World Music als “Repräsentanten einer kulturellen, ökonomischen und historischen Verschiebung” bezeichnet, “welche die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie als solche in Frage stellt” (Chambers 1996: 94).

Tatsächlich wird in vielen Songs der Gruppe Almamegretta eine derartige Situation der Verschiebung und des kulturellen in-between beschworen. Dies kann mit der Spezifik des italienischen Südens erklärt werden, der innerhalb der gesamtitalienischen Kultur immer wieder als marginal und peripher betrachtet wurde. Dabei spielen gerade auch die “mediterranen”, insbesondere griechisch-byzantinischen und afrikanisch-orientalischen Elemente oder Wurzeln eine Rolle, die in Süditalien besonders ausgeprägt sind und es vom restlichen Italien unterscheiden. Dass gerade diese Elemente schon seit Jahrhunderten auch in der Volksmusik des süditalienischen Raums eine Rolle spielten und spielen, kann hier nur angedeutet werden (vgl. Leydi 1973: 15ff).

III. Analyse

Dass SUDDD zuallererst als Bekenntnis zu einer inneren Identifikation mit dem italienischen Süden aufzufassen ist, wird schon allein durch die Schreibweise mit den drei “d” angezeigt. Die süditalienischen Dialekte neigen bekanntlich zur Verdoppelung der Konsonanten, worüber man sich im Norden oft lustig macht. Im Liedtitel wird diese Tendenz durch die “Verdreifachung” bewusst noch übertrieben und schon damit ein dezidiert identifikatorisches Statement abgegeben. Sowohl durch den Songtext als auch durch die Musik wird die Spezifik dieses Südens sodann in verschiedene Richtungen ausdifferenziert. So verweist die musikalische Gestaltung auf den gesamten Mittelmeerraum mitsamt seiner arabischen und afrikanischen Anteile: Reggaehafte Rhythmen und gerappte Gesangspassagen, die bereits für sich genommen eine Öffnung zu anderen Kulturen hin signalisieren, wechseln sich mit Songteilen ab, in denen der Leadsänger Raiz seinen Gesang wie den eines Muezzins klingen lässt. Quasi gemeinsam mit der arabischen klingt dabei aber auch die eigene, neapolitanische Liedtradition an, denn die Muezzin-Sequenz geht direkt über in eine sehr melodiöse Passage, die an süditalienische Tanzlieder (wie etwa die Tarantella) erinnert. Dabei wird auch explizit suggeriert, dass die beiden Musiktraditionen sich kurzschließen lassen, und zwar durch den (hier freilich elektronisch, über das Keyboard erzeugten) Klang eines charakteristischen dudelsackähnlichen Instruments, das in Gestalt der arabischen “mizmar” und der süditalienischen “zampogna” in beiden Musikkulturen verbreitet ist.

Auf der Textebene wird der titelgebende Süden durch punktuelle Ausblicke in dessen Geschichte als Land der erlittenen Ungerechtigkeiten und der schmerzvollen Erfahrung dargestellt, wobei auch auf die Migrationsschicksale der Süditaliener und schließlich auf die organisierte Kriminalität von Mafia, ‘Ndrangheta und Sacra Corona Unita explizit Bezug genommen wird. So heißt es etwa: “nord e sud a llevante e a punente chi ce cumanna è sempe stato malamente francischiello vittorio garibbaldi avota e ggira anno ’n guaiato a tutte quanti s’anno spartute terra uommene e denare”. Ins Deutsche ließ sich dies übersetzen mit: “Norden oder Süden, Osten oder Westen wer uns regierte, hat sich immer schlecht aufgeführt Francischiello [i.e. Francesco di Borbone, letzter König von Neapel] Vittorio [Vittorio Emanuele di Savoia, erster König Italiens], Garibaldi [Giuseppe Garibaldi, Held der italienischen nationalen Einigung] sie haben sich Land, Menschen und Geld aufgeteilt”. Um auf die Verwobenheit dieser kriminellen Organisationen mit der Politik hinzuweisen, genügen zwei trockene Songzeilen: “ddoje facce teneno però nun so’ nemici ‘o deputato e ‘o camorrista ind’o vico”, was so viel heißt wie: “Sie haben zwei Gesichter, sind aber keine Feinde der Abgeordnete und der Camorrista, wenn sie sich auf der Straße treffen”. Die Sichtweise, die bei diesen – sicherlich zum Teil pauschalen und vereinfachenden – Aussagen eingenommen wird, ist bewusst keine intellektuelle, sondern die der einfachen Leute, des “einfachen Volks”. Aus dessen Perspektive wird eine Art fast mythischer Verhaftung mit dem Süden evoziert, wenn es am Beginn und am Ende, als Rahmung des Liedes, heißt: “Sud ind’a stu core staje sì comm’e ‘o sanghe ind’e vvene meje”. Auf Deutsch: “Süden, du bist in diesem Herzen, wie das Blut, das durch meine Adern fließt”. Das klingt für sich genommen fast wie die Parole einer “Blut und Boden”-Mentalität, lädt sich im Kontext des Liedes aber ganz klar mit einer anderen Bedeutung auf, denn die musikalische Öffnung zu anderen Kulturen sorgt dafür, dass sich der beschworene Süden eben nicht mit dem kleinräumigen “territorio” (ob Neapel, Kampanien oder Süditalien) identifiziert, sondern mit dem gesamten Mittelmeerraum oder gar mit einem metaphorischen “Süden der Welt”.

IV. Rezeption

SUDDD ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie dezidiert Almamegretta musikalische Einflüsse anderer mediterraner und “südlicher” Kulturen, besonders die arabisch-orientalische Musiktradition, in ihre Songs mit hereinholen. Für diese Tendenz gibt es quer durch die Alben der Gruppe hindurch etliche weitere Beispiele, so aus Animamigrante neben SUDDD auch der Titelsong, aus Sanacore (1995) “Pe’ dint’ ’e viche addo’ nun trase ’o mare”, aus Lingo (1998) “Gramigna” und “Fatmah” sowie aus Imaginaria (2001) wiederum der Titelsong und “Catene”. Ausgehend von solchen Liednummern wurde nicht nur durch die Musikkritiker von einer deutlichen Tendenz zur “Kontaminierung” und zur “Hybridisierung” (Plastino 1996: 85, Übersetzung GF) gesprochen. Goffredo Plastino schreibt zu der Musik von Almamegretta: “Der Akzent liegt auf der Authentizität, der Tradition, den Wurzeln in Verbindung mit einer musikalischen Dynamik der Hybridisierung, Überlappung, Kontaminierung” (Plastino 1996: 81-82, Übersetzung GF). Auch die Bandmitglieder selbst äußern sich dezidiert in diese Richtung. So heißt es etwa in einem Interview aus den Anfangszeiten der Band: “Die Rede von der Reinheit interessiert uns nicht; was uns interessiert, ist die Rede von der Kontaminierung” (zitiert in Plastino 1996: 85, Übersetzung GF).

Diese Linie wird in den letzten Jahren vor allem von Raiz, der 2003 eine Solokarriere startete, weiter verfolgt: Mit seinem Projekt “Musica immaginaria mediterranea” möchte er, durch die Imagination einer einzigartigen “pan-regionalen” Musik, eben jene Komponenten herausarbeiten, in denen die verschiedenen Musikkulturen des Mittelmeers sich ähneln. Dadurch soll indirekt auch eine Botschaft des Friedens, der gegenseitigen Anerkennung und des Respekts in diese von schmerzlichen Konflikten durchzogene Region gebracht werden. Und gerade Neapel könnte laut Raiz zum Mittelpunkt einer solchen symbolhaften Mittelmeerregion werden: “Neapel […] trägt von überallher ein wenig in sich, und indem ich das noch geringfügig übersteigere, lasse ich Neapel ins Zentrum all dessen rücken und singe dann auf neapolitanisch wie ein Sänger aus dem mittleren Osten.” (RomaToday [19. Dezember 2011], Übersetzung GF)

 

GERHILD FUCHS


Credits

Music & Lyrics: Giovanni Mantice / Gennaro della Volpe (“Raiz”)
Producer: Anagrumba S.R.L.
Label: BMG
Length 4:04 (Album Version)

Recordings

  • Almamegretta. “SUDDD”, Animamigrante, 1993, Anagrumba, 74321-18092-2 (CD).
  • Almamegretta. “SUDDD”, Almamegretta ‘Sanacore’ Tour 1.9.9.5. – Live In Napoli. 1995, CNI (Compagnia Nuove Indye), 8026467540554 (DVD).

References

  • Aiello, Peppe: Concerto napoletano: la canzone, dagli anni settanta a oggi. Con interviste e testi di Almamegretta, Sergio Bruni, Nino D’Angelo, Pino Daniele, Angela Luce. Lecce: Argo 1997.
  • Chambers, Iain: Migration, Kultur, Identität. Dt. Übers. von Gudrun Schmidt und Jürgen Freudl (= Stauffenburg discussion 3). Tübingen: Stauffenburg 1996.
  • Hall, Stuart: Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1423). Ed. by Karl-Heinz Hörning und Rainer Winter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, 393-441.
  • Leydi, Roberto: I canti popolari italiani (= Gli Oscar 140). Milano: Mondadori 1973.
  • Marengo, Renato / Pergolani, Michael: Song ’e Napule. Roma: RAI 1998.
  • Plastino, Goffredo: Mappa delle voci. Rap, Raggamuffin e tradizione in Italia (= Gli Argonauti 19). Roma: Meltemi 1996.

Links

  • Band homepage: http://www.almamegretta.net [19.12.2011].
  • Database: http://www.discogs.com/artist/Almamegretta [19.12.2011].
  • Download: http://itunes.apple.com/de/album/animamigrante/id269950466 [19.12.2011].
  • Lyrics: http://www.lyricsmania.com/almamegretta_lyrics.html [19.12.2011].

About the Author

PD Mag. Dr. Gerhild Fuchs teaches Romance Studies at the University of Innsbruck.
All contributions by Gerhild Fuchs

Citation

Gerhild Fuchs: “Suddd (Almamegretta)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/suddd, 12/2011 [revised 10/2013].

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