1983
Udo Lindenberg

Sonderzug nach Pankow

Udo Lindenbergs Glenn-Miller-Kontrafaktur SONDERZUG NACH PANKOW ist ein musikalischer Meilenstein auf dem langen Weg des Abschieds der jüngeren Generationen von der starren Linie der Politik der Kalten Krieger. Der Song markiert letztlich den Kalten Krieg als Generationskonflikt und stellt ein selten deutliches Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen Popmusik und Realpolitik dar.

I. Entstehungsgeschichte

Die große Begeisterung jüngerer Fans in der DDR für Muttersprachliches aus dem Westen (BAP, Grönemeyer, Maffay, Lindenberg, Lage etc.) stellte eine bemerkenswerte Mischung aus Wollen und Sollen dar. Die Kulturpolitik der SED begünstigte als Teil des Projektes einer “sozialistischen Nationalkultur” deutschsprachige Popmusik (während im Westen hauptsächlich noch Englisch gesungen wurde) und forderte, wie in allen gesellschaftlichen Bereichen auch hier, politische oder soziale Positionierung. Die sprachliche Barrierefreiheit und das verordnete Engagement dürften das kritische Hinhören der Fans befördert haben. Von den Künstlern, auch von den Rockmusikern, wurde vom Rezipienten ein Austausch über jene Fragen erwartet, welche nicht immer befriedigend in den DDR-Medien zur Sprache kamen.

Lindenberg gehörte in der alten BRD zu den Veteranen deutschsprachiger Popmusik und hatte von daher immer auch eine breite Fanbasis in der DDR (erste deutschsprachige LP: Daumen im Wind, 1972; Durchbruch mit der LP Andrea Doria, 1973). Zudem war mit ihm, als einem in der Friedensbewegung aktiven Künstler, seitens der SED prinzipiell eine Zusammenarbeit denkbar.

Gerade weil den Bürgern im eigenen Lande anfangs mit mehr, später mit weniger Drohungen nahegelegt wurde, auf den Konsum von Westmedien zu verzichten, nahm die SED mit ihren Zensur-, Kontroll- und Überwachungsgremien, im Bewusstsein der Nichteinhaltung solcher Empfehlungen, Nachrichten aus dem Westen äußerst ernst. Als Udo Lindenberg im SFB am 5. März 1979 seinem bereits musikalisch in “Rock-n-Roll Arena in Jena” (1976) geäußerten Wunsch Ausdruck verlieh, auch vor seinen Fans in der DDR aufzutreten, wurde vier Tage später dem Kulturminister Kurt Hager eine wörtliche Abschrift des Interviews (Bundesarchiv, SMPO DY 30187) vorgelegt. Auf dieser notierte er: “Abt. Kultur. Auftritt in der DDR kommt nicht in Frage”.

Lindenberg ließ sich durch die Ablehnung seitens der SED nicht entmutigen und revanchierte sich vier Jahre später für die Zurückweisung seitens der Kulturadministration der DDR mit einem legendär respektlosen Text, dem er zur Melodie des “Chattanooga Choo Choo” schrieb. SONDERZUG NACH PANKOW erschien auf der Lindenberg-LP Odyssee und am 2.2.1983 als Single (B: Sternthaler).

II. Kontext

Der Song und seine Folgen sind gleichermaßen ein Beitrag zur Analyse wie ein Sinnbild der atavistischen Widersinnigkeiten des Kalten Krieges. 12 Tage nach der Veröffentlichung der Single schrieb Lindenberg in einem Brief an Erich Honecker, er solle doch endlich einmal einen “echten deutschen Klartext-Rocker” in der DDR auftreten lassen, sich menschlich-flexibel verhalten und Humor und Souveränität beweisen, indem er der “Nachtigall von Billerbeck” eine Tournee durch die DDR erlaube. Der Generalsekretär schien ob der Respektlosigkeiten weniger aufgebracht und deutlich humorvoller als manche seiner Genossen und setzte zu einer politischen Umarmung Lindenbergs an, die mit einem Auftritt mit vier Songs am 25.10.1983 beim FDJ Friedenskonzert vor 4200 handverlesenen Gästen im Palast der Republik ihren Anfang nahm. Lindenberg durfte u.a. neben Harry Belafonte auftreten, verzichtete auf Songs wie “Das Mädchen aus Ostberlin” und SONDERZUG AUS PANKOW und bekam dafür die ersehnte Tournee durch die DDR zugesagt, die jedoch im Februar 1984 nach einem Rückzieher von Egon Krenz abgesagt wurde. Reinhard Heinemann, Leiter des Büros des Festivals des politischen Liedes, hatte die Tour schriftlich zugesagt und berief sich auf das Ehrenwort von Krenz. Lindenberg hatte den Titel “Hallo DDR” bereits geschrieben.

Trotz vehementer dauernder Beaufsichtigung – während seines Ost-Berlin Aufenthaltes (die Veranstaltung wurde u.a. von 1615 Stasimitarbeitern überwacht), gelang Lindenberg ein kurzer Kontakt mit den Fans vor dem Veranstaltungsort und er ließ es sich bei seinem Auftritt nicht nehmen, sich gegen Aufrüstung in West und Ost zu wenden. Der launige Schlagabtausch zwischen Honecker und Lindenberg setzte sich fort. Als humorvollen, aber nicht minder ernst gemeinten Protest schickte Lindenberg 1987, nachdem die Ordnungskräfte gegen Ostberliner Fans, die einem Westberliner Open-Air Konzert zugehört hatten, hart vorgegangen waren, eine Lederjacke mit einem schriftlichen Appell zu mehr Toleranz und Offenheit (“Urbi et Gorbi”).

Honecker konterte mit einem Brief, in dem er dem Anlass des Schreibens ausweicht, aber zugleich Lindenbergs politische Überzeugungen für vereinbar mit der Linie der DDR erklärt, sich für die Jacke bedankte (“passt”), diese jedoch an einen echten Fan aus den Reihen der FDJ weiterzugeben gedachte und dem Rockmusiker eine Schalmei, jenes proletarische Laieninstrument, das Udo in seiner Jugend selbst gebespielt hatte, als Dankeschön übersandte (“viel Spaß beim Üben”). Noch im gleichen Jahr 1987 überreichte Lindenberg medienwirksam dem verblüfften Honecker bei seinem ersten Besuch in der BRD in Wuppertal eine E-Gitarre mit der Aufschrift “Gitarren statt Knarren”.

III. Analyse

Im Falle des Songs SONDERZUG NACH PANKOW ist die Grenze zwischen dem Kontext des Songs und seiner Analyse angesichts der schillernden intertextuellen Bezüge fließend.

“Chattanooga Choo Choo”, komponiert von Harry Warren, ist eine der bekanntesten Swing-Nummern überhaupt. Den ersten großen Charterfolg damit hatte Glenn Miller mit seinem Orchester 1941 (Goldene Schallplatte 2.1942); seitdem wurde das Stück in den unterschiedlichsten Genres gecovert (z.B. Bill Haley, 1954) bzw. mit einem neuen Text versehen, wobei jedoch immer Bezüge zum Originaltext erhalten blieben. Texter Mack Gordon hatte humorvoll reimend einen Song über die Vorzüge des schnellen Eisenbahnfernverkehrs in den USA gedichtet.

In Hitlerdeutschland war Swing zwar nicht konsequent verboten, unterlag aber erheblichen Repressalien. Daher wurde die Niederlage von 1945 von den Deutschen noch am ehesten musikalisch als Befreiung angesehen. Neben Lebensmitteln und anderer materieller Hilfe seitens der Alliierten, waren es sicherlich die Soldatensender, allen voran American Forces Network (AFN), die den Deutschen die ersehnte musikalische Unterhaltung und Ablenkung in Form von Swing und Jazz brachten. In der chaotischen unmittelbaren Nachkriegszeit, wo nicht wie im Falle des besungenen Schnellzugs namens “Chatanooga Choo-Choo”, das Transportsystem reibungslos funktionierte, schrieb der Berliner Schlagersänger Bully Buhlan einen neuen Text mit dem Titel “Kötzschenbroda-Express”. Kötzschenbroda war der einzige halbwegs funktionierende Bahnhof bei Dresden, den Reisende aus Richtung Berlin anzusteuern hatten, wenn denn die mannigfaltigen Hindernisse, die Buhlan besingt, eine Reise überhaupt zuließen.

Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Musikpolitik der DDR ließ sich Lindenberg von Buhlans Idee inspirieren und schrieb einen weiteren neuen Text. Millers lautmalerisches Arrangement ließ auch ihn auf die Eisenbahnthematik rekurrieren.

In seinem Text entwirft Lindenberg das Szenario, dass er einen Sonderzug ins Funktionärs-Ghetto im Ost-Berliner Stadtteil Pankow besteigt, um bei einer Flasche Cognac den Staatsratsvorsitzenden zu überzeugen, dass er doch in der DDR auftreten dürfe. Diesen duzt er konsequent, nennt ihn “Honey”, einen “sturen Schrat” bzw. den “Oberindianer” der DDR (interessante Parallele zu Metaphorik des Cold-War-Songs “Two Tribes” von Frankey Goes to Hollywood). Doch auch an Selbstironie spart Lindenberg nicht, empfiehlt sich als “den kleinen Udo”, das “Jodeltalent”, das es als ungerecht empfindet, dass nicht näher genannte “Schlageraffen” in der DDR ihren “Schrott zum Vortrag bringen” dürften – er aber nicht. Die Umarmung seitens der SED findet in Lindenbergs Text ihre Analogie in der Behauptung, dass Honecker doch eigentlich auch ein Rocker sei, der sich nicht nur heimlich die Lederjacke anziehe, sondern sich auch auf dem Klo einschließe, um Westradio zu hören. Nach einer minimalistischen Jodeleinlage zum Schluss, ist eine russische Bahnhofsansage zu hören, die besagt, dass der Oberste Sowjet nichts gegen einen Auftritt Lindenbergs in der DDR einzuwenden habe; was wie Ironie der Geschichte wirkt, da Udo Lindenberg tatsächlich 1985 in Moskau auftreten konnte.

Auf der LP-Fassung sind die raffinierten Arrangements von Miller auf ein paar relativ schlichte Keyboardriffs reduziert; live funktioniert der Song jedoch aufgrund seiner einfachen harmonischen Struktur einwandfrei als rockige Gitarrennummer. Wie bei nahezu allen Lindenberg-Songs ist das tragende Element der unverwechselbare Gesang in Wechselwirkung mit dem spezifischen Lindenbergslang.

IV. Rezeption

SONDERZUG NACH PANKOW ist der bis dato erfolgreichste Song von Udo Lindenberg. Im deutschsprachigen Raum dürfte er inzwischen bekannter sein als Millers “Chattanooga Choo Choo”.

Seine Wanderungen zwischen Ost und West, deren integraler Bestandteil der Song ist, ließen Udo Lindenberg zwischen die Fronten des Kalten Krieges geraten, wo schon derjenige, der mit der “anderen Seite” nur sprach, in den Verdacht geriet, dem eigenen System feindlich gegenüberzustehen. Die Stasi nahm SONDERZUG NACH PANKOW und seine Schwesterstücke als vehemente Bedrohung der DDR wahr. Seit 1971 führte sie über den “mittelmäßigen Schlagersänger” Udo Lindenberg ein Akte (Auslöser war ein kleiner Haschischfund bei einem Grenzübertritt, sowie die Kontakte zu Wolf Biermann). Die Einschätzung der Stasi lautete 1983: “Die zu seinem Repertoire gehörenden Lieder ‘Mädchen aus Ostberlin’ und SONDERZUG NACH PANKOW stellen eine grobe Diffamierung der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR und ihrer führenden Repräsentanten dar.” (Zit. nach Rauhut 1996: 99). SONDERZUG und die anderen Stücke, die sich mit deutsch-deutschen Fragen auseinandersetzen, waren in der DDR verboten; zwei DJs aus Guben wurden zu 5 Monaten Haft verurteilt, weil sie SONDERZUG gespielt hatten (vgl. Rauhut 1996: 81). Allein während des einzigen Auftrittes von Udo Lindenberg in der DDR wurden während und nach dem Konzert 44 Fans “zugeführt” (=festgenommen).

Die Fans im Osten dankten Lindenberg seine schnörkellosen, mauerüberspannenden Statements à la “einfach nur zusammen sein”, die sich so wohltuend von der Rhetorik der westdeutschen Sonntagsreden (“Brüder und Schwestern im Osten”) abhoben.

Die Westmedien kanzelten ihn mehrheitlich wegen seines DDR-Auftrittes und seiner Kontakte zur SED und FDJ ab. Auch wenn der Austausch zwischen Lindenberg und Honecker (etwa die Wuppertaler Gitarrenschenkung) vielfach positiv aufgenommen wurde, zeigte sich beispielsweise Der Spiegel empört: “Beständiges Blasen: Der Rock-Senior Udo Lindenberg hat sich, über alle Ekelschwellen hinweg, in Honeckers Besuch gedrängt” (Der Spiegel 1987: 38). Das sah nach der Wende anders aus: Bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes wurde explizit auf Lindenbergs Ost-West-Aktivitäten anerkennend hingewiesen.

 

MATTHIAS TISCHER


Credits

Text: Udo Lindenberg
Musik: Harry Warren
Produzent: Udo Lindenberg
Veröffentlichung: 1983
Länge: 3:14

Recordings

  • Glenn Miller And His Orchestra. “Chattanooga Choo Choo”, Chattanooga Choo Choo, 1941, His Master’s Voice, B.D. 5720, Schweden (Schellack/10″).
  • Bill Haley And Haley’s Comets. “Chattanooga Choo Choo”, Chattanooga Choo-Choo, 1954, Essex Records, E-348-A (Single/EP).
  • Bully Buhlan. “Zug nach Kötzschenbroda”.
  • Udo Lindenberg. Daumen im Wind, 1972, Telefunken, SLE 14679-P, Deutschland (LP/Album).
  • Udo Lindenberg & Das Panikorchester. Alles Klar auf der Andrea Doria, 1973, Telefunken, SLE 14719-P, Deutschland (LP/Album).
  • Udo Lindenberg & Das Panikorchester. “Sonderzug nach Pankow”, Odyssee, 1983, Polydor, 2372171, Deutschland (LP/Album).
  • Udo Lindenberg & Das Panikorchester. “Sonderzug nach Pankow”, Sonderzug nach Pankow, 1983, Polydor, 810076-7, Deutschland (7″/Single).
  • Frankie Goes To Hollywood. “Two Tribes”, Two Tribes, 1984, ZTT, ZTAS 3, UK (7″/Single).

References

  • Brühdorn, Annette: Pop and Poetry – Pleasure and Protest. Udo Lindenberg, Konstantin Wecker and the Tradition of German Cabaret (= German Linguistic and Cultural Studies 13). Bern: Verlag Peter Lang 2003.
  • Rauhut, Michael: Schalmei und Lederjacke. Udo Lindenberg, BAP, Underground: Rock und Politik in den achtziger Jahren. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 1996.
  • N. N.: Beständiges Blasen. In: Der Spiegel 38 (1987), 277-278.

About the Author

Matthias Tischer (Prof. Dr. habil.) teaches Social Work, Esthetics and Communication with focus on Culture and Music at the University of Applied Sciences Neubrandenburg.
All contributions by Matthias Tischer

Citation

Matthias Tischer: “Sonderzug nach Pankow (Udo Lindenberg)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/sonderzug, 02/2012 [revised 10/2013].

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