Der Song SCHREI NACH LIEBE stammt von der deutschsprachigen Punkrock-Band Die Ärzte und erschien 1993 auf dem Album Die Bestie in Menschengestalt.
I. Entstehungsgeschichte
SCHREI NACH LIEBE war der erste Song, den Die Ärzte nach ihrer Wiedervereinigung und ihrer fast fünf Jahre währenden musikalischen Abstinenz publizierten. Passend dazu war es auch der erste Song, der eine politische Botschaft transportierte. Die Ärzte galten zwar auch vorher schon als links orientierte Gruppe, dies wurde aber im ersten Abschnitt ihrer musikalischen Karriere, vor der Trennung der Band, in keinem ihrer Songs kommuniziert. Der Verzicht auf politische Inhalte war kein Zufall – die Abgrenzung zum Politpunk war eine bewusste. Der Spaßfaktor sollte den Mittelpunkt ihrer Musik bilden. Resultat dieser Nicht-Positionierung (und der Tatsache, dass Die Ärzte auf Deutsch singen) war allerdings, dass vereinzelt auch Rechtsradikale mit der Band sympathisierten, obwohl Die Ärzte in ihrem Song “Eva Braun” diese Ideologie äußerst ironisch betrachtet hatten. Auch um klarzustellen, dass rechte Sympathien das Letzte waren, mit dem Die Ärzte in Verbindung gebracht werden wollten, schrieben und veröffentlichten sie den Song SCHREI NACH LIEBE.
Der Hauptbeweggrund, der zum Sinnes- und Imagewandel der Band führte, war allerdings, dass eine kritische Auseinandersetzung mit Rechtsradikalismus nach den Vorfällen in Rostock, Solingen und Mölln aktueller denn je geworden war. Um sich von politisch engagierten Rockmusikern wie Herbert Grönemeyer oder Wolfgang Niedecken abzusetzen, erhielt der Song neben dem ernsten Hintergrund auch einen ironischen Anstrich.
II. Kontext
Hätte sich die Plattenfirma der Ärzte, Metronome, gegen den Willen der Band durchgesetzt, wäre nicht SCHREI NACH LIEBE, sondern “Mach die Augen zu” die erste Singleauskopplung geworden. Dieser Song wurde als massentauglicher angesehen. Die Bandmitglieder waren aber davon überzeugt, dass die politische Aussage von SCHREI NACH LIEBE wichtiger sei als die potenziell höhere kommerzielle Verwertbarkeit von “Mach die Augen zu” (als Kompromiss wurde dieser Song dann die zweite Veröffentlichung).
Entgegen den Erwartungen sowohl der Band als auch der Plattenfirma wurde das Lied äußerst häufig im Radio gespielt und zur bis dato erfolgreichsten Single der Formation. Ihr vormals erfolgreichster Song “Westerland”, den Die Ärzte 1988 veröffentlicht hatten, wurde 40.000 Mal als Single verkauft. Diesen Wert pulverisierte SCHREI NACH LIEBE: Mit 450.000 Verkäufen innerhalb kürzester Zeit kletterte der Song auf Platz 9 der deutschen Singlecharts.
III. Analyse
Das Kernthema des Songs ist das Verhalten eines nicht näher beschriebenen bzw. namentlich benannten Faschisten und dessen mögliche Ursachen. Der Text ironisiert die fadenscheinigen Gründe für das faschistoide Verhalten des Rechtsradikalen, zeigt aber gleichzeitig auf, wozu Vernachlässigung durch Erziehungsberechtigte, Lebenskrisen und eine gewisse Portion an Dummheit und Aggressivität führen können, wenn das entsprechend verlockende und vermeintlich Sicherheit spendende rechtsradikale Umfeld dazukommt. Dummheit und Brutalität sind aber nicht nur Ursachen, sondern auch Wirkungen der anderen Aspekte. Diese beiden Themen ziehen sich durch die ersten beiden Strophen, wohingegen die dritte reich an Ironie, trotzdem aber nah an der Lebensrealität ist. Berührungsängste werden dargestellt als Grund für Rassismus: “Weil du Probleme hast, die keinen interessieren. / Weil du Schiss vorm Schmusen hast, bist du ein Faschist. / Du musst deinen Selbsthass nicht auf andere projizieren. / Damit keiner merkt, was für ein lieber Kerl du bist.”
Der Refrain bündelt die Motive der Strophen und wirft sie dem (fiktiven) Faschisten buchstäblich ins Gesicht: “Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe. / Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit. / Du hast nie gelernt, dich zu artikulieren. / Und deine Freundin, die hat niemals für dich Zeit / Oh oh oh, Arschloch”. Als zusätzliche Reizung desselben lässt sich die auffällige Kombination von beleidigender Umgangssprache und “Fremdwörtern” (Attitüde, artikulieren) verstehen.
Die Fokussierung auf einen Einzelnen, der für eine größere Gruppe steht, fungiert nicht nur als wirkungsvolles Stilmittel, sondern kann auch als umgedrehte Kritik am oberflächlichen und vorurteilsbehafteten Menschenbild von Rassisten verstanden werden. Genauso verhält es sich mit der eingesetzten Ironie, die sowohl die Abwegigkeit darstellt, Faschismus zu rechtfertigen, als auch dem Faschisten vor Augen führt, dass seine ausgeübte Gewalt eben keine Begründung in etwaigen Motiven des Faschismus findet, sondern einzig und allein aus seiner Einsamkeit und seinem nicht vorhandenen Selbstwertgefühl resultiert. Der Teufelskreis beginnt mit der Gewalt. Die Sehnsucht nach Zuneigung ist zwar ein Grund für diese, aber mit dem Einsetzen gewalttätigen Verhaltens rückt sie in noch viel weitere Ferne. Der Frust wird größer, die Gewalt ufert aus und erscheint in einem übertragenen Sinn als Lamento über fehlende Anerkennung und wahre Liebe, die der Faschismus nicht zu bieten hat.
Im Arrangement von SCHREI NACH LIEBE werden E-Gitarre, Schlagzeug, akustische Gitarre, Geigen und E-Bass verwendet. Die Single-Version beginnt mit einem Ein-Ton-Achtelriff der E-Gitarre (im Oktavintervall gespielt), das zusammen mit einem langgezogenen “Aah” in ein kraftvolles Intro mit Power-Chords der E-Gitarren, Schlagzeug und E-Bass übergeht. Dabei erklingt auch das viertaktige melodische E-Gitarren-Riff von Farin Urlaub, welches Ohrwurmqualitäten besitzt und dementsprechend in allen instrumentalen Zwischenspielen zum Einsatz kommt. Die nachfolgende 1. Strophe und das 2. Intro sind ähnlich arrangiert und basieren auf derselben Akkordfolge: Dm – Bb – C. Der Strophentext wird sehr laut gesungen, fast geschrien, wobei zum Strophenende hin die Aggressivität, die Intensität der Sprachartikulation sowie die Lautstärke nochmals zunehmen und die Worte “saudumm” und “Attitüde” besonders hervorgehoben werden. Deutlich ruhiger, jedoch mit großer Eindringlichkeit von Bela B. gesungen, beginnt der Refrain, untermalt von Streichern (Akkordfolge: Bb – C – Dm – C – Bb – G – A). Nach der anfänglichen Reduktion von Dynamik und Expressivität folgt indes eine sukzessive Steigerung – forciert von einer anschwellenden Snare-Drum – innerhalb des 16-taktigen Chorus, nahezu explosionsartig mündend in dem lauthals geschrienen Wort “Arschloch”.
Die harmonisch-melodische Gestaltung der zweiten Strophe ist ähnlich derjenigen in der ersten, nach nochmaligem Refrain sowie einem weiteren Zwischenspiel mit E-Gitarren-Solo folgt die dritte Strophe mit Refrain, wo das vorherige Verhältnis der blockartigen Laut-Leise-Abstufung zwischen Strophe und Refrain umgekehrt ist.
Identisch mit dem Song-Intro endet SCHREI NACH LIEBE mit zwei Outros: Im ersten verstummen die Instrumente in einem Fade-Out, im zweiten Outro pfeift Farin Urlaub die Melodie des Refrains – lässig und zugleich mit bissig-ironischer Attitüde.
Insgesamt scheint die Musik den Songtext zu unterstützen und nicht umgekehrt. Es fallen die gleichen Gegensätze auf wie im Text: laut und leise – Aggressivität wechselt sich ab mit ruhigem Sound. Trotz dieser außergewöhnlich scharfkantigen Kontrastierung innerhalb eines Songs ist dieser äußerst eingängig, seiner merkwürdig euphorisierenden Wirkung kann man nur schwer widerstehen.
IV. Rezeption
Weil in dem Song mehrfach und lautstark “Arschloch” gerufen wird, boykottierten 1993 fast alle deutschen Radiosender den Titel vorerst. Die damalige Plattenfirma der Band drängte darauf, möglichst schnell die nächste Single “Mach die Augen zu” auf den Markt zu bringen, da sie in SCHREI NACH LIEBE einen Misserfolg vermuteten. Allerdings stellte sich der Erfolg schließlich doch noch ein. Einer Radiomoderatorin des Hessischen Rundfunks gefiel das Lied derart, dass sie sich schriftlich an eine große Zahl anderer Radioredakteure wandte und sie dazu aufforderte, die “Arschloch”-Rufe zu ignorieren und ein politisches Statement zu setzen.
Im Sommer 2015 initiierte Gerhard Torges die Aktion Arschloch, die SCHREI NACH LIEBE zu weiteren Höhenflügen verhalf und ein Statement gegen aufkeimende Fremdenfeindlichkeit und Ausschreitungen gegen Flüchtlinge darstellen sollte und eine Aufforderung für mehr Toleranz war. Abgeleitet aus dem damaligen Ziel der Band, sollte SCHREI NACH LIEBE wieder in die Charts gepusht werden. Die Aktion Arschloch forderte auf, den Song als Single auf CD zu erwerben, ihn downzuloaden oder online anzuhören, also für eine hohe Klickrate zu sorgen, ihn positiv zu bewerten und über alle zur Verfügung stehenden Social-Media-Kanäle zu verbreiten, um eindeutig Stellung gegen Rassismus zu beziehen. Im Zuge dieser Aktion kletterte der Song in Deutschland bis auf Platz 1 der Singlecharts, was ihm nicht einmal im Jahr seiner Erstveröffentlichung gelungen war. Am vierten Tag nach dem Start von Aktion Arschloch wurde SCHREI NACH LIEBE zum meistgeladenen Song des Tages und häufiger heruntergeladen als alle anderen Songs auf den Plätzen 2 bis 7 zusammen. Auch in Österreich und der Schweiz erreichte der Song erneute bzw. erstmalige Chartplatzierungen, und zwar die Plätze 1 und 2. Die Ärzte selbst unterstützten die Aktion, indem sie bekanntgaben, jegliche Einnahmen, die durch Aktion Arschloch generiert wurden, Pro Asyl zu überlassen.
SEBASTIAN BREDTHAUER
Credits
Gitarre, Leadgesang: Farin Urlaub
Schlagzeug, Leadgesang: Bela B.
Bass, Gesang: Rodrigo González
Lyrics: Bela B., Farin Urlaub
Produzenten: Die Ärzte, Uwe Hoffmann
Veröffentlichung: 10. September 1993
Label: Metronome
Spieldauer: 4:13
Recordings
- Die Ärzte. “Schrei nach Liebe”. On: Schrei nach Liebe, 1993, Metronome, 859 619-2, Germany (CD/Maxi-Single).
- Die Ärzte. “Schrei nach Liebe”. On: Die Bestie in Menschengestalt, 1993, Metronome, 521 017-2, Germany (CD/Album).
References
- Frommeyer, Denise: “‘Aktion Arschloch’ Musik gegen Fremdenfeindlichkeit”. URL: http://www.fr.de/kultur/netz-tv-kritik-medien/netz/aktion-arschloch-musik-gegen-fremdenfeindlichkeit-a-415672 [14.05.2018].
- Karg, Markus: Die Ärzte – Ein überdimensionales Meerschwein frisst die Erde auf. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2001.
- Anonymous: “Ärzte spenden Einnahmen von ‘Schrei nach Liebe'”. In: welt.de. URL: http://www.welt.de/kultur/article146032370/Aerzte-spenden-Einnahmen-von-Schrei-nach-Liebe.html [18.06.2017].
About the Author
All contributions by Sebastian Bredthauer
Citation
Sebastian Bredthauer: “Schrei nach Liebe (Die Ärzte)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/schreinachliebe, 03/2018.
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