2011
Jean-Louis Murat

Sans Pitié Pour Le Cheval

SANS PITIÉ POUR LE CHEVAL thematisiert in der Form eines Chanson de Geste die Erfahrung eines Poilu (Bezeichnung eines Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg) und die Grausamkeiten der Soldaten im Krieg.

 

I. Entstehungsgeschichte

SANS PITIÉ POUR LE CHEVAL ist der zweite Titel von Jean-Louis Murats dreizehnten Album Grand Lièvre (2011), welches in nur wenigen Tagen in Südfrankreich aufgenommen und kaum überarbeitet wurde, so dass der Höreindruck dem einer Live-Aufnahme nahe kommt. In den Liedern stehen ernste Themen im Vordergrund, darunter das Alter und der Tod. Das Album Grand Lièvre wird einer verstorbenen Nancy gewidmet, ein weiteres Lied, “Alexandrie”, einer verstorbenen Alex. Auch im dritten Lied des Albums, Rémi Est Mort Ainsi, bleibt der Tod präsent. Der Tod als zentrales Thema mischt sich in dem Album mit weiteren Themen wie dem Alter, dem Gedächtnisverlust (“J’aurais d’ailleurs pu intituler cet album Alzheimer”, Vergeade 2011), dem materiellen Verlust, der Depression, der Erde und der Liebe.

SANS PITIÉ POUR LE CHEVAL wurde durch Murats bürgerlichen Namen inspiriert. Er trägt als Jean-Louis Bergheaud den Namen seines Urgroßonkels. 1918 stirbt dieser  im Ersten Weltkrieg (frz. “Grande Guerre”) an der Front; Murat wird als Kind und erstgeborener Sohn der Familie daran erinnert, dass er den Namen dieses ‘Helden’ geerbt hat. In Interviews wiederholt er vor diesem Hintergrund immer wieder, er komme mit seiner eigenen Identität nicht zurecht und er finde seinen Platz in der Gesellschaft nicht (vgl. Vergeade 2011). Der Name als Schlüssel zu den Erlebnissen und Erfahrungen der Menschen und zu den Ereignissen während des Ersten Weltkrieges lässt ihn zu der Erkenntnis gelangen, schon einmal gestorben zu sein.

 

II. Kontext

In Frankreich ist das öffentliche Gedenken an Siege und Niederlagen im Krieg traditionell stark im Bewusstsein des Volkes verankert. Sowohl der 8. Mai (Tag des Sieges Frankreichs 1945) als auch der 11. November (Tag des Waffenstillstandes im Jahre 1918) sind gesetzliche Feiertage und werden von dem Präsidenten Frankreichs feierlich als Gedenktag begangen. Darüber hinaus haben um 2010 weitere Gedenkfeiern zum Ersten Weltkrieg stattgefunden. Der letzte Poilu Frankreichs, Lazare Ponticelli, ist im März 2008 gestorben und wurde feierlich in einem Staatsakt zu Grabe getragen. Am 5. Mai 2011 starb der Brite Claude Choules, letzter Soldat des 1. Weltkrieges. Kurz darauf, am 11. November 2011, wurde in Meaux das Musée de la Grande Guerre eingeweiht. Nicolas Sarkozy erwähnte dabei die Notwendigkeit eines Devoir de Mémoire (Veröffentlichung zur Erinnerung; Sarkozy 2011). Murat betont, dass die Frage, wie es zu den beiden Weltkriegen kam, immer noch aktuell sei (vgl. Dana 2011).

 

III. Analyse

Am Anfang des in ultimas res einsetzenden Liedes beschreibt eine Stimme, die sich identitätslos in ein gequältes Frontsoldaten-Kollektiv einfügt, das Leiden, das den Krieg begleitet und schon die letzten Momente des Lebens ankündigt: “Voilà les derniers moments / Au détail de nos souffrances”. Kaum hat sich die Stimme einem einzelnen Individuum – einem wahrscheinlich noch sehr jungen lyrischen Du – zugewendet, das in seiner Verzweiflung gerade “Maman” gemurmelt hat (“Tu as murmuré Maman”), als sie schon wieder in den überpersönlichen Imperativ der ersten Person Plural überschwenkt: Sie ruft dazu auf, für alle zu beten, die schon durch die Granaten gestorben, ja verschwunden sind (“Prions pour les disparus / Tous emportés par l’obus”). Die Formulierung wirft dabei die Frage auf, ob die Zufluchtnahme im Gebet nicht unreflektiert-mechanisch erfolgt: Da das Bild des Verschwindens nicht mit einer jenseitigen Heilserwartung harmoniert, scheint ein Gebet für die Granatenopfer wenig Sinn zu haben.

In der zweiten Strophe wird durch eine Analepse der Anfang des Krieges beschrieben, Murat singt über die Soldaten, die im Gefühl des sicheren Sieges euphorisch an die Front zoge: “Quand nous partîmes à la guerre / Sûrs de vaincre au premier jour”. Aber die Euphorie wird mit der Grausamkeit kontrastiert, einer völlig unerwarteten Grausamkeit dieser Soldaten, die erbarmungslos auf die Pferde schossen: “Comme à coups de revolver / Sans pitié pour le cheval”. Nach dieser zweiten Strophe hört man in der Melodie das Schreien eines Pferdes. Historische Studien über den Ersten Weltkrieg berichten über die Situation der Tiere bzw. der Pferde im Krieg und erwähnen das abscheuliche Schreien der Tiere an der Front, wenn diese ins Feuer gerieten (vgl. Baldin 2007). Diese Bedingungen sind für die Soldaten unerträglich. Murat spricht von der Einsamkeit der Soldaten, die nur noch ihre Erinnerungen in sich tragen (“Souvenirs et solitude”).

In der dritten Strophe wird der Besitzer der Singstimme zum ersten Mal als Individuum fassbar und zwar in dem Moment, als sein Leben zu Ende geht. Der bevorstehende Tod lässt den Soldaten in den Heeresmassen an der Front plötzlich völlig allein, “abandonné”, dastehen. Zum ersten Mal wird hier ein Pronomen der ersten Person Singular verwendet: “Mon sang coule dans la boue”. Wer in seinem Blut liegt, der fällt aus dem Heereskollektiv heraus, der individualisiert sich vorübergehend, allerdings nur, um sein Leben alsbald an den schlammigen Untergrund zu verlieren. Erst als es zu spät ist, wird nach den Möglichkeiten eines ganzen, vollständigen, erfüllten Lebens gefragt: “Qu’est-ce qu’une vie intégrale”.

Wenn es in der vierten Strophe heißt “Tous les hommes de la Marne / tombent”, dann wird die Individualität des Einzelschicksals wieder zurückgenommen: Was dem Ich passiert, passiert allen im selben Frontabschnitt, in derselben umkämpften Region. Wie im mittelalterlich-frühneuzeitlichen Totentanz gibt es keinen, den der Tod nicht letztendlich ergreift. Es gibt keinen Ausweg mehr.

Der näher rückende Tod, das allenthalben stattfindende Sterben von geradezu apokalyptischen Ausmaßen, wird durch die Melodie verstärkt. Zu Beginn des Liedes wird durch die Melodie Aufmerksamkeit erzeugt: erst ein Arpeggio, das auf der Oktave des Grundtones endet, dann Einsetzen der Rhythmusgruppe in schleppendem Tempo mit starken Akzenten. Dadurch entsteht der Eindruck einer unausweichlichen Härte. Durch kleine auf- und absteigende Intervalle in der ganzen Melodie verstärkt sich der Ausdruck von Trauer. Die Solostimme wirkt in dieselbe Richtung wie die Instrumentalbegleitung von leeren Quinten, die Ausweglosigkeit vermitteln. Insgesamt enthält SANS PITIÉ POUR LE CHEVAL nur einen kleinen Tonumfang, was die bedrückende Enge in den Stellungen der Westfront des Ersten Weltkriegs widerspiegeln mag.

 

IV. Rezeption

SANS PITIÉ POUR LE CHEVAL ist das zweite Lied des von der Kritik gefeierten Albums Grand Lièvre. Es fügt sich harmonisch in den musikalischen Stil der anderen Lieder dieses Albums. Grand Lièvre bleibt in Frankreich sieben Wochen in der Hitparade und erreicht in der ersten Woche nach der Veröffentlichung im September 2011 den zwölften Platz.

 

MAXIME BLEUZE


Credits

Guitar/Vocals/Piano: JL Murat
Drums: Stéphane Reynaud
Bass: Fred Jimenez
Electric Piano/Organ: Slim Batteux
Choir: JL Murat, Christophe Pie, Fred Jimenez, Alain Bonnefont, Laure

Music/Writer/Songwriting: JLM Bergheaud
Producer: Aymeric Létoquart
Label: V2/Universal Music France
Recorded: 2011
Published: 2011
Length: 03:39

Recordings

  • Jean-Louis Murat. “Sans Pitié pour Le Cheval”. On: Grand Lièvre, 2011, V2, 277 5290, France (CD/Album).

References

About the Author

Analysis written in a course of Prof. Dr. Misia Doms at the University of Düsseldorf.
All contributions by Maxime Bleuze

Citation

Maxime Bleuze: “Sans Pitié Pour Le Cheval (Jean-Louis Murat)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://songlexikon.de/songs/sans-pitie-pour-le-cheval/, 07/2021.

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