1985
Sting

Russians

RUSSIANS ist ein Produkt der Kultur bzw. der Musik des Kalten Krieges. Stereotype Feindbilder zwischen Ost und West, mit der Betonung sowjetischer Kaltblütigkeit werden entworfen, die den Ängsten vor der atomaren Katastrophe entsprangen. Die kompositorische Basis stellt allerdings ein ausgedehntes Zitat aus einem Werk des russischen Komponisten Sergej Prokofjew, so dass RUSSIANS nicht nur als Crossover zwischen Kunst- und Popularmusik, sondern auch als Song mit ambivalenten Aussagen und Intentionen im Hinblick auf den ,potentiellen’ Aggressor im damaligen Ostblock gilt.

I. Entstehungsgeschichte

Als Spiegel seiner Zeit ist die Entstehung von RUSSIANS ebenso eng mit der vom Kalten Krieg geprägten Biographie Stings, bürgerlich Gordon Matthew Sumner, verknüpft. 1951 geboren, wuchs der Engländer mit der atomaren Bedrohung auf und wurde laut eigener Aussage vorrangig durch das Miterleben der Kubakrise 1962 nachhaltig geschockt. Diese Erfahrungen ließen ihn nachfolgend Autoritäten und gesellschaftliche Entwicklungen stets in Frage stellen (vgl. Sandford 2000: 23). Als weitere konkrete Inspiration führte Sting den Kontakt mit sowjetischen Medien sowie die gefühlte Bedrohung durch das atomare Wettrüsten an: “I was living in New York at the time [Beginn der 1980er Jahre, Anm. d. Verf.], and a friend of mine had a gizmo that could pull the signal from the Russian satellite. We’d go drinking and then watch Russian morning shows in the middle of the night. It was apparent from watching these lovingly made kids shows that Russians weren’t quite the automatons that we’d been told they were. The song was also precipitated by my son asking me if there was a bomb that existed that could blow up the world, and I had to tell him, ,Actually, yeah, there is.’ So he was introduced to that horror, the horror we’ve all lived with for most of our lives.” (Sting 1994).

RUSSIANS wurde zwischen 1983 und 1985 aufgenommen. Ursprünglich hatten Pläne existiert, das Lied gemeinsam mit dem Sinfonieorchester Leningrad einzuspielen, um eine kulturelle Annäherung anzustreben. Nach Stings Darstellung verhinderte die Bürokratie der UdSSR jedoch das Bestreben, da die Einreisevisa für ihn und die Band nicht rechtzeitig erteilt worden waren (vgl. Sting 1985: 5).

Das Album The Dream of the blue Turtles, auf dem RUSSIANS erschien, wurde am 1. Juni 1985 veröffentlicht; im selben Jahr wurde der Song am 1. November als Single ausgekoppelt.

II. Kontext

Sting hatte sich 1983 von seiner Band The Police nach einer erfolgreichen Tournee durch die USA getrennt. Seine eigenen künstlerischen Ambitionen verwirklichte er auf seinem ersten Solo-Album The Dream of the Blue Turtles. Darauf spielt Sting mit verschiedenen Stilen von Rock bis Jazz und versammelt namhafte Musiker um sich, darunter der renommierte Saxophonist Branford Marsalis oder Miles Davis’ Bassist Darryl Jones. RUSSIANS wurde als dritter Track auf The Dream of the Blue Turtles aufgenommen, einem Album, auf dem sich durchgängig Songs finden, die sich gegenwarts- und sozialkritisch äußern. Darin fügt sich auch RUSSIANS ein, das aus einer Phase des Kalten Krieges stammt, die besonders stark durch das polarisierende Blockdenken in Ost und West gekennzeichnet war. So gehört auch RUSSIANS zu jener Vielzahl von Liedern, die Anfang bis Mitte der 1980er Jahre aus einem Stimmungsgemisch zwischen Angst und Galgenhumor vor dem atomaren Schlag entstanden, wie beispielsweise “Cruise Missiles” von Fisher-Z (1981), “Pershings Zapfenstreich” von Die 3 Tornados (1982), “99 Luftballons” von NENA (1983), “Besuchen Sie Europa” von Geier Sturzflug (1983), “Forever Young” von Alphaville (1984) oder die Compilation Wir wollen Leben. Lieder Gegen den Untergang (1982) (vgl. Mecking/Wasserloos 2011: 201).

III. Analyse

Der Text von RUSSIANS setzt aufgrund zahlreicher Anspielungen und metaphorischer Wendungen ein hohes Maß an Allgemeinbildung oder ‚Insider-Wissen’ aus der Entstehungszeit voraus. Der Ost-West-Konflikt wird thematisiert, indem die ‚Hardliner’ der beiden politischen Seiten, Nikita Chrustschow als früherer Machthaber in der UdSSR und Ronald Reagan als damals Regierender in den USA gegenüber gestellt werden. Einem Zitat von Chrustschow (“Mr. Kruschev said ‚we will bury you'”) von 1956 wird die Schutzversprechung Reagans “We will protect you” entgegengesetzt, die jedoch als wenig glaubhaft von Sting kritisiert wird (“I don’t subscribe to this point of view.”). Im Zentrum des Bedrohungsszenarios steht die Atombombe und die Frage nach einem wirklichen Schutz vor ihrer zerstörerischen Kraft (“How can I save my little boy / From Oppenheimer’s deadly toy?”).

Als größte Provokation gegen die östliche Seite ist die Anzweifelung der Humanität der Russen zu verstehen. Dabei steht die Aussage im Vordergrund, dass der atomare Schlag nicht erfolgen wird, falls die Russen ihre Kinder lieben. Dieser unsicheren Haltung wird durch stete Wiederholung in der jeweils abschließenden Textzeile der drei Strophen besonderes Gewicht verliehen, indem sie in verschiedenen Varianten auftaucht: “If the Russians love their children too” bzw. “I hope the Russians love their children too” und in der Kulmination in der letzten Textzeile, in der Zweifel und Hoffnung gleichzeitig formuliert werden: “What might save us me and you / Is if the Russians love their children too”.
Die überkritische Aussage wurde von Sting allerdings kurz nach Erscheinen des Albums bzw. der Single überdacht und revidiert. Bis heute existieren verschiedene Fassungen der letzten Zeile. Während auf der LP- und der CD-Aufnahme sowie auf der offiziellen Sting-Homepage (www.sting.com/discography/lyrics/lyric/song/220 [26.03.2013]) der Text mit “What might save us, me and you / Is if the Russians love their children too” endet, findet sich im CD-Booklet die versöhnlich stimmende Variante, die nicht mit “if”, sondern mit “that” endet, also die Kinder- oder Menschenliebe der Russen bekräftigt: “What might save us, me and you / Is that the Russians love their children too”. Auch in den Jahren 2010 und 2011 sang Sting auf seiner Symphonicities-Tour betont “that” statt “if” (vgl. Wasserloos 2012: 323).

Kompositorisch verarbeitet RUSSIANS die “Romanze” aus Sergej Prokofjews Filmmusik zu Leutnant Kijé (1933) in einem Variationsverfahren. Beinahe das komplette melodische Material basiert auf dieser Vorlage. Einerseits stellt die Gesangsmelodie eine Variante der “Romanze” dar, andererseits wird in den Zwischenspielen das Originalmotiv von Prokofjew in einer anderen Instrumentierung zitiert (vgl. Custodis 2009: 196ff.). Es erklingen im Gegensatz zum Original bei Prokofjew Glocken und Gongschläge, die den Sound monumentalisieren und in der Musikgeschichte häufig mit Klängen der russischen bzw. vorsowjetischen Nationalmusik assoziiert wurden, wie etwa in “Das große Tor von Kiew” aus Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorgsky oder in der Krönungsszene aus dessen Oper Boris Godunov, in der die Glocken des Kreml imitiert werden.

Entscheidend für das kontextuelle Verständnis von RUSSIANS ist allerdings, dass es sich bei Prokofjews Werk um seinen ersten Beitrag zur sowjetischen Staatsmusik handelt, die identitätsstiftend auf die Bevölkerung wirken sollte. Sting bediente sich somit in seinem politischen Protestsong, der sich im Wesentlichen gegen einen Staat richtete, einer Musik, die speziell zur Konsolidierung dieses Staates komponiert worden war. Ob sich der Sänger dieser Dimensionen überhaupt bewusst war, sei dahin gestellt ‒ vermutlich geschah die Begegnung mit Prokofjews Werk eher beiläufig. Teile der Suite waren seinerzeit in England besonders im Winter überaus präsent, da das Motiv des ersten Satzes häufig zur musikalischen Untermalung von Schneebildern in den Weihnachtsprogrammen des britischen Fernsehens genutzt wurde (vgl. ebd.: 196).

IV. Rezeption

In den europäischen Singlecharts stieg RUSSIANS hoch auf. In Frankreich erreichte das Lied mit Platz 2 die höchste Platzierung und wurde mit über 500.000 verkauften Exemplaren durch den “Gold”-Status geehrt. Mit Platz 4 verbuchte Russians den größten Single-Erfolg des gesamten Albums in Deutschland. Ansonsten bewegten sich die Platzierung in der westlichen Hemisphäre ungefähr im Bereich der Top 15 (Niederlande (Platz 8), Irland (11), Großbritannien und USA (12), Schweiz (13) und Schweden (16)).

Die stilistische Breite der Cover-Versionen von RUSSIANS ist beachtlich. Ebenso wird das Motiv aus Prokofjews “Romanze” bis in die Gegenwart in verschiedenen Genres als Zitat benutzt, häufig jedoch mit dem irreführenden Hinweis, es würde sich um ein Motiv aus RUSSIANS handeln, beispielsweis bei “I Will Have That Power” (1999) von Hard Creation oder “Seven Days One Shirt” (2004) von Dirty On Monday.

 

YVONNE WASSERLOOS


Credits

Vocals: Sting
Bass: Darryl Jones
Keyboards: Kenny Kirkland
Musik: Sergej Prokofjew “Romanze” aus der Suite “Leutnant Kijé”/Sting
Text: Sting
Produzent: Pete Smith, Sting
Label: A&M Records
Aufnahme: Blue Wave Studios, St. Philip, Barbados; Le Studio, Morin Heights, Quebec, Kanada, 1983-1985
Veröffentlichung: 1. November 1985
Länge: 3:57

Recordings

  • Sting. “Russians”, The Dream of the Blue Turtles, 1985, A&M Records, DREAM 1, UK (Vinyl/LP/Album).
  • Sting. “Russians”, The Dream of the Blue Turtles, 1985, A&M Records, 393 750-2, Europa (CD/Album).

Covers

  • Osmager Group. “Russians”, Disco Branco, o.J., Brasidisc, 800.001, Brazil (Vinyl/LP).
  • Cicciolina. “Russians”, Muscolo Rosso / Russians, 1988, Boy Records, BOY-028-PRO, Spain (Vinyl/7”-Single).
  • Starink. “Russians”, Greatest Synthesizer Hits, 1989, Star Inc. Music, 683 417, NL (2 x CD Album).
  • K.R.B. “Russians”, Russians, 1993, K.R.B. S.L., K001, Spain (Vinyl/12”-Single).
  • Piropo. “Russians”, Russians, 1994, Bol Records, BOL 61.20, Spain (Vinyl/12”-Single).
  • Babooskha. “Russians”, Russians, 1995, Propio Records, PR 1026, Italy (Vinyl/12”).
  • Dave Molì & Lex Lyu. “Russians”, Russians, 1996, Garage Records (Italien), GAR 001, Italy (Vinyl/12”-Single).
  • Ermitage. “Russians”, Russian Memories, 1998, BMG Ariola Media, 74321 61884 2, Germany (CD/Album).
  • DJ Konik feat. Michelle Collins. “Russians”, Russians, 2000, Bit Music, 71-528, Spain (Vinyl/12”-Single).
  • Christof Lauer, Jens Thomas. “Russians”, Shadows in the Rain, 2001, The ACT Company, ACT 9297-2, Germany (CD/Album).
  • DJ Konik feat. Michelle Collins. “Russians” (A capella-Version), (Various Artists) Wanted Bit Special Acapellas E.P. Vol.1, 2001, Bit Music, 71-711, Spain (Vinyl/12”).
  • DJ Pildo. “Russians”, The Key to Unknown, 2001, Uptempo, UT7150MX, Spain (Vinyl/12”).
  • K&M. “Russians”, Russians RMX, 2001, ADN Hardcore, VLMX 678-3, Spain (Vinyl/12”).
  • Gigantor. “Russians”, Giant Robot Spare Parts Vol. 1, 2004, Golf, CD HOLE 114, UK (2 x CD).
  • Ouroboros. “Russians”, Lux Arcana, 2007, Sabbathid Records, hoof034, Japan (CD/Album).
  • Manic Movement. “Russians”, Dark Glitter, 2009, Shiver Records, SHR 115, Belgium (CD/Album).
  • Opium Dream Estate. “Russians”, (Various Artists) The Haunted Looking Glass, 2010, Seventh Crow Records, SCR007, France (File/WAV-Compilation/free download).
  • The Foreshadowing. “Russians”, Oionos, 2012, Metal Blade Records, 3984-15125-2, USA (CD/Album).

References

  • Custodis, Michael: Klassische Musik heute. Eine Spurensuche in der Rockmusik. Bielefeld: Transcript 2009.
  • Mecking, Sabine/Yvonne Wasserloos: “Russians” – Zwischen Pop und Militär. In: Militärmusik zwischen Nutzen und Mißbrauch. Ed. by Michael Schramm. Bonn: Bundesamt für Wehrverwaltung/Militärmusikdienst der Bundeswehr 2011, 196-208.
  • Sandford, Christopher: Sting. Die definitive Biographie. Höfen: Hannibal-Verlag 2000.
  • Sting: Interview. In: Record 6 (1985), 5.
  • Sting: Interview. In: Independent On Sunday 11 (1994). URL: http://www.sting.com/discography/index/album/albumId/182/tagName/studio_albums [26.03.2013].
  • Wasserloos, Yvonne: Kalter Krieg und Staatsmusik. Emotionalisierung und (Ent-)Politisierung in Stings “Russians”. In: Paradestück Militärmusik. Beiträge zum Wandel staatlicher Repräsentation durch Musik. Ed. by Peter Moormann, Albrecht Riethmüller, Rebecca Wolf. Bielefeld: Transcript 2012, 317-333.

About the Author

PD Dr. Yvonne Wasserloos teaches musicology at the Robert Schumann School of Music and Media and cultural history at the universities of Lüneburg and Copenhagen.
All contributions by Yvonne Wasserloos

Citation

Yvonne Wasserloos: “Russians (Sting)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/russianssting, 03/2013 [revised 07/2014].

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