POUPÉE DE CIRE, POUPÉE DE SON ist einer der bekanntesten Songs der französischen Sängerin France Gall. Geschrieben wurde er von Serge Gainsbourg, einem der einflussreichsten Popmusiker in Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
I. Entstehungsgeschichte
Für den Grand Prix Eurovision 1965 wurde der damals schon im französischen Sprachraum etablierte Komponist Serge Gainsbourg gebeten, den Beitrag für Luxemburg zu schreiben. Als Interpretin wählte er France Gall, für die er bereits 1963 einen erfolgreichen Titel komponiert hatte (“Laisse Tomber les Filles”). Das so entstandene Lied POUPÉE DE CIRE, POUPÉE DE SON konnte schließlich den Sieg erringen.
II. Kontext
Der Grand Prix Eurovision fand im Jahr nach dem Sieg von Gigliola Cinquetti am 20. März 1965 in Neapel statt. Der Erfolg von France Gall gilt als erster Sieg eines Popsongs, eines sogenannten “Chanson Yéyé”, beim Grand Prix Eurovision. Oft wird behauptet, France Gall hätte den naiven Zugang zum Lied deshalb so glaubwürdig umgesetzt, weil sie die tiefere Bedeutung des Textes gar nicht verstanden hätte. Und gerade deshalb wurde die Interpretation des Songs zu einem in der internationalen Fachpresse äußerst umstrittenen Thema, auch wenn es vermutlich allein die mangelnde Sprachkompetenz und die Skandalfigur des Komponisten waren, welche die wenig interpretationsbedürftige Deutlichkeit des Textes erheblich verkomplizierten.
III. Analyse
Wie aus der Werkbiographie des Komponisten und Texters Serge Gainsbourg nicht anders zu erwarten, weist auch POUPÉE DE CIRE frivole Zweideutigkeiten auf. Die Rezipienten der damaligen Printmedien wie der späteren Internetgeneration ignorierten diese keineswegs, sondern überinterpretierten den Kontrast zwischen dem rein wörtlichen Verständnis des Textes und der Ebene sexueller und weitgehend schlichtweg autoreflexiver Konnotationen. Die dafür ursächliche doppelte Lesart war dem Song jedoch von vornherein intentional als besonderes Erfolgsrezept eingeschrieben.
Im Titel erscheinen eine Wachspuppe (“poupée de cire”) und dann eine Puppe aus Ton, also eine aus klanglichen Lauten, womit eindeutig die Sängerin selbst bezeichnet wird, auch wenn “poupée de son” im Französischen auch als Strohpuppe (“son” bedeutet auch Kleie und erinnert daher an Sägemehl) verstanden werden kann. Gerade aber weil klanglich kein Unterschied zwischen “son” und dem vielleicht an dieser Stelle logischer erscheinenden Plural “sons” (“Töne”) besteht, und weil im weiteren Verlauf des Liedes die “poupée de chiffon” der Sängerpuppe gegenübergestellt wird, lassen sich beide Interpretationen gleichsam kombinieren: die wörtliche, in der es um verschiedene Puppen geht und die übertragene, in der die Puppe zum Synonym der Frau wird. Hinzu kommt, dass mit Wachs auch an die alten Schellackplatten erinnert wird und von vornherein eine Selbstreferenz auf Gesang und Musik mitschwingt.
Ob es sich also um traditionelle Kinderspielzeuge handelt, die einerseits in der Selbstbeschreibung schlicht, entflammbar und wenig prätentiös (die Wachspuppe) sind, anderseits schick und modisch, aber auch leicht verrottend (die Modepuppe), oder ob wir uns in der Welt des Marionettentheaters oder gar der Schaufensterpuppen bewegen, bleibt offen. Dass die Puppe eher als ein Synonym für ein Mädchen zu verstehen ist, wird im Text indes sehr schnell klar, wenn von den Jungen (“garçons”) gesprochen wird, deren übergroße Hitze gleichsam eine Bedrohung für das Wachspüppchen darstellt. Die sexuelle Aufladung des Liedes (“chaleurs” = Hitze = Geilheit) ist damit von vornherein gegeben, die Sängerin wird sicherlich auch zum potentiellen Äquivalent von Wachs in den Händen der Halbstarken und das Dahinschmelzen erinnert an das Verschmelzen im Sexualakt.
In der Tat wird die Sängerin jedoch im Laufe der Textdarbietung eindeutig als durchaus selbstreflexiv präsentiert und damit die sexuelle Erwartung der Zuhörer gleichsam enttäuscht, wenn sich in den “poupées de chiffon” ein Gegenmodell findet, das schlichtweg für die prototypischen Musikfans steht. Die Modepüppchen, die zu den dargebotenen Liedern tanzen, seien, so erfahren wir im Text, schnell verführbar und eine leichte Beute für die Jungs. Während sich die Fans also bei der Musik verlustieren, wird diese nur zum Vehikel für ganz andere Vergnügungen und erleichtert sogar den jungen Männern ihre Eroberung. Das deprimiert zusätzlich noch, weil es die Schlagersängerin unglaubwürdig erscheinen lässt und gleichsam ihre romantische Botschaft konterkariert. Weder sie selbst als Sängerin noch ihre Botschaften von der wahren Liebe stehen im Mittelpunkt, sondern die krude Alltäglichkeit der Triebe trägt den Sieg davon. Die Idealität der Liebe wird eingeholt von der Realität der schnellen Sexualität. Die Darbietung wird zu einer Äußerung von Unzufriedenheit über die tatsächliche soziale Praxis, die so sehr die Romantik vermissen lässt.
Wenn durch die naive Aufrichtigkeit die Sängerin, deren Herzblut an den Liedern hängt, die tatsächlich an das Glück glaubt und dabei die rosarote Brille trägt (“Je vois la vie en rose bonbon”), damit einer “poupée de salon”, also einer eher distanzierten Idealistin oder gar einer der Blaustrümpfe (ein abwertender Begriff des 19. Jahrhunderts für emanzipierte Frauen) gleicht, so verkörpert sie ein romantisierendes und hier mit Augenzwinkern dekonstruiertes Konzept biographistischen Liedverständnisses. Die Vorstellung davon, dass das Leben genau dem entspricht, wovon sie singt (“Mes disques sont un miroir”), greift mit erkennbar kritischem Unterton die naiven Hörer an, die ihrerseits Sängerin und Text gleichsetzen und an mediale Scheinwelten glauben. Die Inszenierung von France Gall als brav und naiv trägt dabei noch das Ihrige zur Wirkung bei, denn die Desillusionierung wird damit gedoppelt: Die Sängerin selbst offenbart ganz unerwartete Wünsche und Gelüste und nicht nur das, was sie beobachtet, entbehrt jeglicher Liebesromantik eines naiven Schlagers, den sie so ja auch musikalisch nicht mehr realisiert.
Die Sängerin, so der Text, ist mit ihren Liedern omnipräsent, ihre Lieder werden gesungen, aber sie ist nicht glücklich und seufzt ob der Realität. Kennt sie doch die Liebe nicht so gut, wie es scheint. Wenn diese Sängerin über die fehlenden Kontakte zu den Jungs klagt, die sich lieber die leichte Beute sichern, so bietet das natürlich Anlass dazu, die unerfüllten sexuellen Wünsche hier zu thematisieren: Dergestalt wird die Selbstbezeichnung als Wachspuppe mit der Idee des Dahinschmelzens zum Synonym des Verschmelzens, die Tonpuppe hingegen wird, wenn man diesen Gedanken, wie es zahlreiche Interpreten getan haben, weiterführen will, vielleicht sogar zu einem Sexspielzeug, das Stöhnen erzeugen kann. Konkret verspricht sie aber nur, dass sie eines Tages das, was sie singt, auch leben wird, was offen lässt, inwiefern Romantik dabei eine Rolle spielen wird.
Die Selbstreferentialität und die Doppeldeutigkeit, vorgetragen von einem Girlie (baby-pop), verstärkten den oft geäußerten Eindruck, dass Gainsbourg hier mit einer jungen naiven Sängerin spielte. Nicht weit von der “Puppet on a String” einer Sandie Shaw (poupée de son bezeichnet so etwas wie einen Zappelphilipp), dem Grand-Prix-Siegertitel von 1967, trägt das für die Zeit und den Wettbewerb erstaunlich moderne Arrangement mit einem vorherrschenden pochenden Stakkato-Rhythmus zur Wirkung jugendlicher Frische erheblich bei. Mit einer eher mechanischen Monotonie und wenig Variation in der Tonhöhe wird die Puppenhaftigkeit noch unterstrichen und durch die Klanglichkeit der Plosive “p” (“poupée”) und dem Kontrast mit den “s”-Lauten die Eingängigkeit des Refrains dergestalt konturiert, dass sich von Anfang an ein Wiedererkennungseffekt einstellt, der den Schlager gleichsam in der Einfachheit übertrifft und damit dekonstruiert. Die im Wettbewerb vorhandene orchestrale Begleitung und vor allem auch der Einsatz der Querflöte als Intro sowie das instrumentale Intermezzo gestalten das einfache Lied zugleich raffiniert. Gainsbourg gelingt es somit, ein neues Genre in den Grand Prix Eurovision einziehen zu lassen, was ihm mit den Ethnoklängen des französischen Beitrags von Joëlle Ursull 1990 erneut glücken wird.
IV. Rezeption
Das Lied war bereits zeitgleich mit dem Sieg beim Wettbewerb weit oben in der französischen Hitparade notiert und bekam doch oder gerade deshalb keine Punkte aus den frankophonen Ländern Frankreich und Monaco zugesprochen. In Deutschland konnte es schließlich den dritten Platz in der Verkaufshitparade erobern. Von dem Lied wurden von France Gall selbst Versionen in sechs Sprachen, darunter auch in Japanisch, aufgenommen. Verschiedenste Coverversionen von Twinkle, Gitte und Karina in z. T. weiteren Sprachen hatten eher mäßigen bzw. regional begrenzten Erfolg. Spätere Einspielungen des Titels, die seine überzeitliche Prominenz beweisen, sind unter anderem auch von Die Aeronauten, Gölz Alsmann, Les Sans Culottes, Therion, Wizo und Stereo Total bekannt geworden.
Die deutsche Fassung “Das war eine schöne Party”, von France Gall selbst vorgetragen, nimmt die sexuelle Aufladung des Liedes deutlich zurück. Dass letztlich auch Jahre später France Gall auf Distanz zu ihrem Siegertitel ging, von dem sie allein in Frankreich 500 000 Singles verkaufen konnte, mag dann eher mit dem ebenfalls von Gainsbourg für sie komponierten Nachfolgehit “Les Sucettes” (1966) zu tun haben, der France Gall in Frankreich weitaus eindeutiger als sexuell frivol präsentierte, während sie in der Folgezeit insbesondere in Deutschland sehr biedere Schlager zum Besten gab.
CHRISTOPH MAYER
Recordings
- France Gall. “Poupée de Cire, Poupée de Son”. On: Poupée de cire, Poupée de Son/Le Coeur Qui Jazze, 1965, Philips, B 373 524 F, France (Vinyl 7”/Single).
- France Gall. “Das war eine schöne Party”. On: Das war eine schöne Party/Meine erste große Liebe, 1965, Philips, 373 556 BF, Germany (Vinyl 7”/Single).
- France Gall. “Les Sucettes”. On: Les Sucettes/Quand On Est Ensemble/Ça Me Fait Rire/Je Me Marie en Blanc, 1966, Philips, 437.229 BE, France (Vinyl 7”/EP).
- Joëlle Ursull. “White and Black Blues”. On: White and Black Blues, 1990, CBS, 655951 7, France (Vinyl 7”/Single).
- Sandie Shaw. “Puppet on a String”. On: Puppet on a String/Had a Dream Last Night, 1967, Pye Records/Hit-Ton Schallplatten, HT 300081, Germany (Vinyl 7”/Single).
Covers
- Gitte Henning. “Det kan väl inte jag rå för”. On: Det kan väl inte jag rå för/Glöm bort i morgon, 1965, His Master’s Voice, X 8660, Sweden (Vinyl 7”/Single).
- Karina. “Muñeca de Cera”. On: Muñeca de Cera/Terry/Goldfinger/Me Gusta la Geute, 1965, Hispavox, HH 17-321, Spain (Vinyl 7”/Single).
- Twinkle. “A Lonely Singing Doll”. In: A Lonely Singing Doll/Unhappy Boy/Tommy/So Sad, 1965, Decca, 457.077, France (Vinyl 7”/EP).
- Wizo. “Poupée de Cire”. On: Herrenhandtasche, 1995, Hulk Räckorz, Hulk 182, Germany (CD/Mini-Album).
- Die Aeronauten. “Poupée de Cire, Poupée de Son”. On: Weltmeister/Poupée de Cire, Poupée de Son/Früh-Spät, 1998, L’Age D’Or, lado 14014-7, Germany (Vinyl 7”/Single).
- Götz Alsmann. “Das war eine schöne Party”. On: Zuckersüß, 1999, Universal/EmArcy, 547 790-2, Europe (CD/Album).
- Stereo Total. “Je Suis Une Poupée”. On: Musique Automatique, 2001, Bungaloo, BUNG 093, Germany (Vinyl/Album).
- Les Sans Culottes. “Poupée de Cire”. On: Fixation Orale, 2004, Aeronaut Records, AERO 0020, US (CD/Album).
- Therion. “Poupée de Cire, Poupée de Son”. On: Les Fleurs du Mal, 2012, End of the Light, EOL 022, Sweden (CD/Album).
References
- Mangan. Des: This is Sweden Calling. Everything You’ve Ever Wanted to Know About the Eurovision Song Contest but were laughing too hard to ask! Milsons Point: Random House 2004.
- Roberts, Andy: Fying the Flag. The UK in Eurovision. A celebration and contemplation. Milton Keynes: Author House 2009.
- Hautier, Jean-Pierre: La Folie de l’Eurovision. Les Meilleures Anecdotes. Bruxelles/Paris: Éditions de l’Arbre 2010.
About the Author
All contributions by Christoph Oliver Mayer
Citation
Christoph Mayer: “Poupée de Circe, Poupée de Son (France Gall)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://songlexikon.de/songs/poupee-de-cire-poupee-de-son/, 07/2021.
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