2013
Stromae

Papaoutai

PAPAOUTAI (Papa où t’es? (frz.); Papa, wo bist du?) ist ein 2013 erschienener Song des belgischen Künstlers Stromae, welcher der Frage nachgeht, was einen guten Vater ausmacht.

 

I. Entstehungsgeschichte

PAPAOUTAI wurde am 13. Mai 2013 in Belgien als digitaler Download veröffentlicht. Somit war der Song nach “Formidable” bereits die zweite Vorabsingle des im August 2013 erschienenen zweiten Studioalbums Stromaes, Racine carrée (Quadratwurzel).

Das Video zum Song ging am 6. Juni 2013 auf Youtube online. Der belgische Film-Artdirector Raf Reyntjens führte Regie und auch Stromaes Studienzeit am Institut National de Radioelectricité et Cinématographie dürfte mit verantwortlich dafür sein, dass seine Videoclips in den Medien als eigene Kunstform gelobt werden.

 

II. Kontext

Stromae wird am 12. März 1985 als Sohn einer belgischen Mutter und eines ruandischen Vaters als Paul van Haver in Etterbeek bei Brüssel geboren. Seinen Vater sieht er als Kind nur unregelmäßig, bevor dieser wieder zurück nach Ruanda geht, wo er 1994 dem Völkermord zum Opfer fällt. Bereits seit den 1960er Jahren gab es in Ruanda ethnische Differenzen zwischen den regierenden Hutu-Eliten und Angehörigen der Tutsi-Minderheit, die aus Angst vor Repression und Massakern in Nachbarländer fliehen mussten. Anfang der 1990er Jahre kam es zum Bürgerkrieg, der im April 1994 in einem Völkermord mündete. Dieser hatte verheerende Ausmaße: Ca. 800.000 Tutsi und ca. 200.000 moderate Hutu fielen ihm zum Opfer (vgl. Viebach 2016).

Der Künstlername Stromae ist ein Verlan (Jugendsprache aus Frankreich, bei der Buchstaben oder ganze Silben von Wörtern umgedreht werden) von Maestro. Ein zweites Verlan von Maestro findet sich in Stromaes Label Mosaert, das er 2009 mit anderen Kreativen ins Leben gerufen hat und dessen Hauptaugenmerk auf der Musikindustrie, dem audiovisuellen Sektor und der Kleidungsindustrie liegt.
Bereits als Kind hat Stromae an der Academie Musicale de Jette Schlagzeug spielen gelernt. In Interviews erzählt er, musikalisch zunächst ausschließlich an Hip-Hop interessiert gewesen zu sein. Inzwischen streift seine Musik jedoch viele Genres und bewegt sich zwischen House, Elektro, Eurodance, New Beat, Hip-Hop bis hin zum Kongolesischen Rumba. In den Medien wird Stromae wiederholt mit Jaques Brel verglichen, da er zu den wenigen Künstlern zählt, die ausschließlich auf Französisch singen und dennoch in vielen nicht frankophonen Ländern als großer Star gefeiert werden.

Auch wenn Stromaes erste Erfolgssingle “Alors On Danse” 2009 noch über das ‘klassische’ Medium Radio publik gemacht wurde, sind alle darauffolgenden Songs und auch Videos zunächst digital veröffentlicht worden. Die voranschreitende Digitalisierung zeigt hierin ihren Einfluss auf die Musikproduktion und -rezeption: Nicht nur der Videoclip ist längst von Sendern wie MTV oder VIVA ins Netz abgewandert (vgl. Jost 2014: 145).

 

III. Analyse

Der 03:52 Minuten dauernde Song ist im 4/4 Takt geschrieben und hat die Tonart Bb-moll. Die Songstruktur kann folgendermaßen beschrieben werden: Intro – Strophe 1 – Prechorus – Chorus – Zwischenspiel – Strophe 2 – Chorus – Zwischenspiel – Prechorus – Prechorus – Chorus – Zwischenspiel – Outro.

Bereits in den ersten ruhigen Takten des Songs mit 70 bpm wird durch Bending, das den letzten Ton eines Pianoakkordes nach unten verzerrt, subtil angekündigt, dass sich die Stimmung des Songs ändern wird. Nach vier Takten wechselt das Piano dann auch zu 120 bpm und ab dem Prechorus kommt zu den oft Staccato-artigen Pianoakkorden ein Synthesizer-Beat hinzu, der in den Zwischenspielen noch um eine Synthesizer-Melodiesequenz ergänzt wird. In Minute 02:28 wird das Piano kurzzeitig mit Einsatz des Prechorus von einem Gitarrenriff abgelöst, ab Minute 03:00 sind Piano, Gitarre und Synthesizer Beats dann bis zum Ende des Songs im Zusammenspiel zu hören.

Der Gesang innerhalb der Strophen ist beinahe gesprochen, im Prechorus wird er melodischer, und im Refrain wird das Klangliche der Sprache durch die stetige Wortwiederholung stark hervorgehoben. Stromae spielt darüber hinaus gezielt mit dem Klang der Stimme, lässt diese durch Artikulation, Intonation und Lautstärke zum Teil sehr weich und verletzlich klingen, aber auch wütend und verzweifelt.

Der Text des Liedes ist geprägt von der Frage: “Papa où t’es?” (Papa, wo bist du?). Dieser eine Satz bildet in unterschiedlichen Zusammensetzungen den kompletten Chorus. Das Thema des abwesenden Vaters findet sich ebenso in den Strophen und dem Prechorus wieder. Der Text ist in direkter Rede verfasst und richtet sich an unterschiedliche Adressaten. Zum Teil spricht Stromae den Rezipienten an, der Großteil des Liedes richtet sich allerdings direkt an den abwesenden Vater selbst. Die Frage “Où est ton papa?” (Wo ist dein Papa?) scheint sich an den Rezipienten zu richten, kann aber auch dahingehend gedeutet werden, dass der Sprechende selbst diese Frage sehr oft gehört hat und sie darum rezitiert.

Stromaes eigene Erfahrung mit seinem ruandischen Vater legt natürlich eine autobiographische Verarbeitung in PAPAOUTAI nahe. In einem Interview erklärt Stromae, dass er den Song vor allem als Frage sieht, was eigentlich gute Väter ausmacht: “Tout le monde sait comment on fait les bébés. Mais personne sait comment on fait des papas” (Jeder weiß, wie Babys gemacht werden. Aber niemand weiß, wie Väter gemacht werden). Außerdem spricht er vom Perspektivenwechsel, den ein Teenager als junger Erwachsener erleben kann: Ist man in der Pubertät noch wütend über die Unzulänglichkeiten des Vaters, realisiert man später, dass dieser nur sein Bestes versucht hat, genau wie man selbst.

Im Video zu PAPAOUTAI wird der Textinhalt auf narrative Weise visuell umgesetzt. Wir sehen einen Jungen, der mehrfach versucht, mit seinem Vater in Interaktion zu kommen, während dieser komplett erstarrt und regungslos, ähnlich einer Schaufensterpuppe, dasitzt. Das Setting ist eine beschauliche Wohnhaussiedlung der 1950er Jahre. Der Junge beobachtet vor dem Haus mehrere Vater-Sohn-Paare, die, dargestellt durch Tanzperformances, miteinander kommunizieren oder gemeinsam Dinge erleben. Sein Vater ist aber entweder immer arbeiten oder sitzt bewegungslos vor dem Fernseher. Daher ist anzunehmen, dass die Szene, in welcher der Junge mit seinem Vater, ebenfalls dargestellt durch gemeinsame Tanzbewegungen, doch plötzlich in Interaktion kommt, lediglich dem Wunschdenken des Jungen entspricht. Am Ende, so scheint es, resigniert der Junge und erstarrt in der gleichen puppenartigen Haltung neben seinem Vater auf der Couch.

Anhand des Videos lassen sich die drei verschiedenen Aspekte untersuchen, die Auslander (2006: 100-119) unter dem Begriff der “Musical Personae” vereint: Real Person, Performance Persona und Character. Zum einen gibt es die reale (Privat-)Person Paul van Haver, von der aber laut eigener Aussage nur etwa 20 Prozent in Stromae steckt (vgl. Stromae 2015 in www.teaser-magazine.com). Auch durch den Künstlernamen Stromae wird deutlich, dass die Rezipient*innen es nicht mit der Real Person, sondern mit einer “gemachten” Performance ?Persona zu tun haben, zu der u. a. ein gewisser Musik- und auch Kleidungsstil gehört.

Die Performance Persona Stromae verkörpert nun in dem Video zu PAPAOUTAI den Character des abwesenden Vaters. Der*die Rezipient*in nimmt diese beiden Personae dabei nie getrennt voneinander, sondern immer im Wechselspiel miteinander wahr, also Stromae, der einen Vater spielt (vgl. Auslander 2006: 102).

Der Junge, der im Video als homodiegetischer Erzähler auftritt (vgl. Martinez/Scheffel 1999: 82), ist die visualisierte Stimme des Liedtextes. Obwohl Stromaes Stimme die Liedzeilen singt, wird der Junge den Rezipient*innen deakusmatisiert als derjenige gezeigt, der die Frage stellt: “Papa, où t’es?”.

Eine weitere zentrale Rolle im Video nehmen die Tanzperformances der verschiedenen Vater-Sohn-Paare ein, bei denen diverse Tanzstile miteinander kombiniert wurden. Der Vater des dritten Tanzpaares (helle Anzüge) wird verkörpert von Tight Eyez, einem amerikanischen Street Dancer, der als Erfinder des Krumping gilt. Krumping ist eine Street Dance Art, die sich aus dem Clowning entwickelt hat. Typisch sind sehr schnelle, expressive und kraftvolle Bewegungen, die dazu dienen sollen, Aggressionen gewaltfrei loswerden zu können (vgl. Wrede 2010). Wissend um diesen Hintergrund bestätigt sich die Annahme, dass die Aggression gegen den abwesenden Vater, die auditiv bereits durch den Stimmgebrauch und visuell durch die Mimik und Gestik des Jungen deutlich wird, auch im Tanzstil abgebildet wurde.

Kulturwissenschaftlich betrachtet liefert Stromae mit Songs wie PAPAOUTAI und den zugehörigen Videos ideale Beispiele für das, was Homi K. Bhaba als “Hybride” oder “Dritter Raum” beschreibt (siehe zusammenfassend Müller-Funk 2016: 206–212). Bhaba glaubt nicht an jene binäre Sichtweise, bei der zwei gegensätzliche Welten sich gegenüberstehen, sondern ist überzeugt von der Existenz vieler Verbindungen, Verknüpfungen und Vermischungen (vgl. ebd.: 209). Diese Annahme wird in der Person Stromae auf vielen Ebenen bestätigt: Stromae selbst hat durch seinen Vater Wurzeln in Ruanda, ist aber in Belgien geboren und aufgewachsen. Dieser biografische Hintergrund hat bei ihm keineswegs das Bedürfnis hervorgerufen, seine kulturellen Wurzeln einer bestimmten Kultur zuordnen zu wollen. Vielmehr nutzt er die verschiedenen Einflüsse seiner Wurzeln in seiner Musik, um daraus etwas Eigenes, Neues zu kreieren. Betrachtet man die Vielschichtigkeit seiner Songs und auch seiner Videos, in welchen er verschiedenste Musikrichtungen und Tanzstile miteinander vermischt, kann man annehmen, dass er dem Konzept der Transkulturalität am ehesten zustimmen würde, das Kultur als ein vielschichtiges Netzwerk ansieht, in welchem besonders die Zwischenräume wichtig sind.

 

IV. Rezeption

PAPAOUTAI landete in Belgien und Frankreich kurz nach Veröffentlichung auf Platz 1 der Charts und wurde in Belgien sogar die bestverkaufte Single des Jahres. Bereits Ende 2009 hatte Stromae mit dem Song “Alors On Dance”, der unter anderem in Deutschland Platz 1 der Singlecharts erreichte, damit überrascht, einen komplett französischsprachigen Song weit über die Sprachgrenzen hinaus bekannt zu machen. Das zweite Album Racine Carrée feierte ebenfalls in ganz Westeuropa große Erfolge und die vorab erschienene Single PAPAOUTAI schaffte es u. a. in die Top 10 der deutschen Charts.

Das Video zu PAPAOUTAI hat auf Youtube aktuell über 400 Millionen Klicks (Stand: 15.05.2017) und das Album Racine Carrée hat sich millionenfach verkauft. Sowohl die Single PAPAOUTAI als auch das Album wurden mehrfach mit Platin ausgezeichnet.

Stromaes Songs werden aufgrund der tanzbaren Beats gerne in Clubs gespielt und gelten unter vielen Rezipient*innen als “Gute-Laune-Musik”. Einen starken Kontrast zu dieser Wahrnehmung bilden allerdings die ausnahmslos ernsten Texte, die von Einsamkeit, Enttäuschung, Aids oder, wie bei PAPAOUTAI, Vaterlosigkeit handeln.

2014 erschien eine Coverversion von PAPAOUTAI von der 5-köpfigen A-Cappella-Band Pentatonix aus Texas, USA. Die Band verwandelte den Song mit Hilfe von Youtube-Star Lindsey Sterling in ein packendes orchestrales Stück. 2015 folgte ein Cover der französischen Formation Kids United, einer Gruppe von fünf Kindern und Jugendlichen zwischen 9 und 16 Jahren, die den Song in ihr Album Un Monde Meilleur aufnahm.

 

STEPHANIE HARTMANN


Credits

Vocals: Stromae
Guitars: Papa Dizzy/Stromae
Piano: Aron Ottignon
Music/Writer: Stromae
Producer: Stromae, Papa Dizzy, Aron Ottignon
Label: Mosaert
Recorded: 2012
Published: 2013
Length: 03:52
Length video: 03:52
Video director: Raf Reyntjens

Recordings

  • Stromae. “Papaoutai”. On: Papaoutai, 2013, Universal Music France, 3741368, France (CD/Single/Promo).
  • Stromae. “Papaoutai”. On: Racine Carrée, 2013, Mosaert, 37479870, France (CD/Album).
  • Stromae. “Formidable”. On: Formidable/Formidable, 2014, Island France, 37923953, Europe (Vinyl 7”/Single).
  • Stromae. “Alors On Danse”. On: Alors On Dance, 2009, B1 Recordings, Belgium (File/AAC).

Covers

  • Pentatonix feat. Lindsey Sterling. “Papaoutai”. On: PTX , 2014, RCA, 88875020402, Europe (CD/Album).
  • Kids United. “Papaoutai”. On: Un Monde Meilleur, 2015, Play On, 5054196870928, France (CD/Album).

References

  • Auslander, Philip: Musical Personae. In: TDB/The Drama Review 50/1 (2006), T 189, 100119.
  • Jost, Christofer: Videoclips und Musik im Fernsehen. In: Populäre Musik. Geschichte, Kontexte, Forschungsperspektiven. Ed. by Ralf von Appen, Nils Grosch and Martin Pfleiderer. Laaber: Laaber 2014, 141153.
  • Martinez, Matias/Scheffel, Michael. Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 1999.
  • Müller-Funk, Wolfgang: Theorien des Fremden. Eine Einführung. Tübingen: A. Francke Verlag 2016.
  • Viebach, Julia: “Ruanda”. In: Bundeszentrale für politische Bildung, 2016 (aktualisiert: 30.12.2018). URL: http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54803/ruanda [27.02.2017].
  • Wrede, Jan: “Clowning und Krumping. Tanzstil aus L.A.” In: Wasistwas.de, 26.04.2010. URL: http://www.wasistwas.de/archiv-sport-kultur-details/clowning-und-krumping-tanzstil-aus-l-a.html [24.01.2017].

Links

  • Anonym: “Stromae Video – Urban Dance im Doppelpack”. In: keepondancinblog.com, 09.06.2013. URL: https://keepondancinblog.com/tag/krumping/ [24.01.2017].
  • Anonym: “Musikmarkt Frankreich 2014 + Was kostet Album Promo?”. In: OLJO Blog, 2014. URL: http://www.oljo.de/blog/musikmarkt-frankreich-2014/ [26.01.2017].
  • Anonym: “Stromae. ‘Racine carrée’ dépasse officiellement les 2 millions de ventes”. In: Pure Breack Charts, 06.08.2016. URL: http://www.chartsinfrance.net/Stromae/news-102251.html [27.02.2017].
  • Anonym: “Stromae. Beitrag in der ARD”. In: Universal Music, o.J. URL: http://www.universal-music.de/stromae/videos/detail/video:336065/beitrag-in-der-ard [24.01.2017].
  • Anonym: “Our Story”. In: Mosaert, o.J. URL: https://mosaert.com/about [24.01.2017].
  • Anonym: “Stromae”. In: Chatsurfer.de, o.J. URL: http://www.chartsurfer.de/artist/stromae/biography-nevn.html [26.01.2017].
  • Gilles Peterson: “Stromae English Interview With Gilles Peterson”. In: YouTube, 22.04.2014. URL: https://www.youtube.com/watch?v=vBuXVGh5Q6M [24.01.2017].
  • Irgendwas mit ARTE und Kultur: “Verdrehtes Französisch | Karambolage | ARTE”. In: YouTube, 21.08.2020. https://www.youtube.com/watch?v=VPvC1IlowpE [29.04.2021].
  • Koroma, Salima: “Watch Belgian Superstar Stromae Decode His Biggest Music Videos”. In: Time, 25.09.2014. URL: http://time.com/3426676/stromaemusic/ [25.01.2017].
  • Lehnartz,Sascha: “Der spinnt, der Belgier”. In: Welt, 05.12.2013. URL: https://www.welt.de/kultur/pop/article122599939/Der-spinnt-der-Belgier.html [25.01.2017].
  • Offizielles Musikvideo: Papaoutai, Stromae. Director: Adam Nael. In: YouTube, 06.06.2013. https://www.youtube.com/watch?v=oiKj0Z_Xnjc [24.01.2017].
  • Scott, Jason: “Pentatonix Do Their Best French With ‘Papaoutai’ Cover—Listen Now!”. In: Pop Dust, 18.09.2014. URL: www.popdust.com/pentatonix-do-their-best-french-with-papaoutai-coverlisten-now-1890066581.html [27.02.2017].

About the Author

Analysis written in a course of Prof. Dr. Fernand Hörner at the University of Applied Sciences Düsseldorf.
All contributions by Stephanie Hartmann

Citation

Stephanie Hartmann: “Papaoutai (Stromae)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/papaoutai, 07/2021.

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