1991
U2

One

ONE ist ein Song der irischen Rockband U2. Seine Entstehung war für den kreativen Selbstfindungsprozess der Band zu Beginn der 1990er Jahre von entscheidender Bedeutung.

I. Entstehungsgeschichte

ONE ist der dritte Track auf Achtung Baby, dem siebten Studioalbum von U2 (erschienen am 19.11.1991). Der Song wurde am 6.3.1992 als dritte Single ausgekoppelt (mit der B-Side “Lady With the Spinning Head (UV1)”). Für die Musik zeichnete die gesamte Band verantwortlich; der Songtext ging auf das alleinige Wirken von Sänger Bono zurück. Die Entstehung von Song und Album stand zunächst unter keinem guten Stern. Nach der Produktion von Rattle and Hum (1988) und der anschließenden extensiven Tourneetätigkeit war das freundschaftliche Verhältnis der Bandmitglieder gestört. Die Band suchte zudem nach neuen Quellen der Inspiration und war bereit, Stil und Image zu hinterfragen. Doch mangelte es der Band zunächst an konkreten kompositorischen Einfällen, was dazu führte, dass alle an der Produktion beteiligten Personen zunehmend frustriert erschienen. Auch die anfänglichen Experimente mit Drum-Maschinen und Dance-Loops führten zu keinen zufriedenstellenden Ergebnissen. In diesem angespannten Arbeitsklima erwiesen sich die Aufnahmesessions zu ONE sowohl in künstlerischer als auch in atmosphärischer Hinsicht als Durchbruch. Aus heutiger Sicht ist die Entstehung des Songs als Schlüsselmoment des zu Beginn der 1990er Jahre eingeleiteten “Neuanfangs” der Band zu bewerten.

II. Kontext

Die künstlerische Neuausrichtung bedeutete eine Abkehr von den New-Wave- und Americana-Anleihen der 1980er Jahre. Mehr noch: Mit Achtung Baby wurde eine bewusste Distanzierung von der eigenen Bandhistorie vorgenommen, was U2 zu der humoristischen Selbstbeschreibung veranlasste: “It was the start of the chopping down of The Joshua Tree [das bis dato erfolgreichste Album der Band, Anm. d. Verf.]” (U2/McCormick 2008: 272). Es ging demnach um die Frage, welche Haltung U2 als Künstler einnehmen sollten. In Hinsicht auf die vorangegangene Schaffensperiode fällt vor allem die Nachdrücklichkeit auf, mit der U2 ihr künstlerisches Schaffen als sozial bzw. politisch motiviert präsentierten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Kongruenz zwischen der in den Musikprodukten (v.a. Album und Videoclip) forcierten Selbstdarstellung als engagierte, ernsthafte Künstler auf der einen Seite und den öffentlichen Aktivitäten der Band auf der anderen. So traten U2 im Jahr 1985 auf dem Live-Aid-Konzert in London auf, im gleichen Jahr nahm Sänger Bono an dem Anti-Apartheid-Projekt Sun City teil, und im Jahr 1986 spielte die Band auf der von Amnesty International initiierten Tournee A Conspiracy of Hope. Öffentliche Aktivitäten und Medienprodukte schienen von einem Gefühl der permanenten sozialen Engagiertheit durchdrungen zu sein. Diese künstlerische Haltung wich nun einem postmodernen Ästhetikverständnis, in dessen Zentrum die Verarbeitung von Themen wie die massenmediale Konstruktion von Wirklichkeit oder die Selbstreferentialität kultureller Praktiken sowie ein verspielt ironischer Umgang mit popkulturellen Inszenierungsformen angelegt waren. Der ehemals propagierte Topos der Ernsthaftigkeit und Echtheit wurde gewissermaßen ins Negative verkehrt.

III. Analyse

Der Song hat sowohl in der Album- als auch in der Singleversion eine Dauer von 4:29 Minuten. In ihm kommen Hauptgesang, Nebengesang, E-Gitarre, Westerngitarre, E-Bass, synthetische Streicher und Schlagzeug zum Einsatz. Sein tonales Zentrum ist Am; sein allgemeiner Ausdruckscharakter lässt sich am ehesten als balladenhaft umschreiben. Der Formverlauf orientiert sich an dem für Pop-Songs typischen Wechsel zwischen Strophe und Refrain inkl. C-Teil (Bridge). Konkret bedeutet dies folgende Form: Intro, 1. Strophe, Refrain, Zwischenspiel, 2. Strophe, Refrain, Zwischenspiel, 3. Strophe, Refrain, Bridge, Refrain und Outro. Zwei Akkordfolgen bestimmen das harmonische Konzept des Songs: Am (sus4) | D 5 | Fmaj7(6) | G (sus4) in Intro, Zwischenspiel und Strophe – die in Klammern stehenden harmonischen Erweiterungen ergeben sich aus dem Spiel der E-Gitarre – und C | Am | F | C in Refrain und Outro. Durchbrochen wird der Wechsel zwischen diesen beiden Akkordfolgen einzig in der Bridge (C | Am | C | Am | C | G | G | F | F ). Interessant ist, wie in der ersten Hälfte des Songs eine klangliche Steigerung durch den schrittweisen Einsatz der Instrumente bzw. der Stimme erreicht wird. So beginnt das Intro in der “intimen” Besetzung E-Gitarre (I und II), Westerngitarre und Schlagzeug (nur Hi-Hat). In der 1. Strophe setzt der Gesang ein – in dieser Besetzung erklingt auch der Refrain. Im ersten Zwischenspiel kommt eine weitere E-Gitarre hinzu und das Schlagzeug wechselt in eine Spielfigur basierend auf Snare-Drum, Bass-Drum, Toms und Hi-Hat. In der darauf folgenden 2. Strophe steigt der Bass ein. Diese Besetzung bleibt bestehen bis in der 3. Strophe die Synthesizer-Streicher einsetzen. Die beschriebene klangliche Steigerung wird durch die Ebenmäßigkeit des formalen Ablaufs bis zur Bridge kontrastiert. Auch die melodischen Konturen von Gesang und Gitarre sind ebenmäßig gestaltet, zudem werden sie nur marginal variiert. Zusammengenommen bedeutet dies, dass in der ersten Hälfte des Songs auf nuancierte Art und Weise eine klangliche Entwicklung vollzogen wird, die schließlich in der Bridge ihren Höhepunkt erreicht. Dass die Bridge als eine Art Song-Klimax fungiert, wird zum einen dadurch deutlich, dass hier die Spitzentöne der gesanglichen Darbietung (g’) angelegt sind (“You say love is a temple, love the higher love”), und zum anderen dadurch, dass das bis dahin bestimmende harmonische Gefüge aufgelöst wird (siehe oben). Im Anschluss an die Bridge wird wieder in den Refrain und das Outro, welches auf der Akkordfolge des Refrains aufbaut, gewechselt, also in bereits eingeführtes musikalisches Material. Während des Outros bleibt die instrumentationsbedingte klangliche Dichte erhalten. Eine der Gitarren geht in eine solistische Spielfigur über, welche gesanglich ergänzt wird durch kurze Vokalisen-Motive.

In textlicher Hinsicht wird die Sinnfigur Liebe behandelt. Bestimmend hierfür ist die interpersonale Perspektive. So wird in den drei Strophen ein fiktives Gegenüber mit diversen, z.T. anklagenden Fragen konfrontiert (“Is it getting better or do you feel the same?”, “You act like you never had love and you want me to go without?”, “Have you come here for forgiveness?”). Im ersten Refrain gibt der Ich-Erzähler Auskunft über die Ansichten des Gegenübers (“You say one love, one life / When it’s one need in the night”). Es entspinnt sich in der Folge eine Art innerer Monolog über den universellen Charakter von Liebesbeziehungen. Im zweiten Refrain übernimmt der Ich-Erzähler die Ansichten des Gegenübers (“We’re one, but we’re not the same / We get to carry each other, carry each other“), bevor er sich im dritten Refrain in pessimistischen Aussagen vertieft (“We’re one, but we’re not the same / Well, we hurt each other, then we do it again”). In der Bridge wird die Auseinandersetzung mit der Liebesthematik bzw. dem fiktiven Gegenüber auf den Aspekt der Erniedrigung hin verdichtet (“You ask me to enter, but then you make me crawl”). Der Songtext endet in versöhnlichem Ton, konkret: mit der Unterstützungs-Metapher aus dem zweiten Refrain (“We get to carry each other”).

IV. Rezeption

ONE war seinerzeit eine kommerziell überaus erfolgreiche Single der Band und wurde von der Musikpresse wohlwollend bis euphorisch besprochen. Heutzutage steht der Song in einer Reihe mit “Klassikern” der Band wie “Pride (In the Name of Love)”, “Where the Streets Have No Name” oder “Beautiful Day“. Sein anhaltende Popularität drückt sich nicht zuletzt in Form von hohen Platzierungen in listenförmigen Pop-Kanonisierungen wie den “500 Greatest Songs of All Time” (Rolling Stone, Platz 36) aus. Ähnlich groß ist die Anerkennung für das Album Achtung Baby (Platz 62 unter den „500 Greatest Albums of All Time“, herausgegeben durch den Rolling Stone). Besondere Aufmerksamkeit erzielte der Song dadurch, dass U2 ihn bzw. die Single als Benefiz-Aktion zugunsten der AIDS-Forschung auswiesen. Zum Song wurden drei Videoclips veröffentlicht, gedreht von jeweils unterschiedlichen Regisseuren. Die erste Version von Anton Corbijn zeigt die Band in Frauenkleidern, was letztlich der Auslöser dafür war, dass der Clip alsbald zurückgezogen wurde. U2 wollten den Eindruck vermeiden, als stellten sie einen Zusammenhang zwischen AIDS und der gemeinhin als homosexuell konnotierten Welt der Transvestiten her. Die zweite Version, gedreht von Mark Pellington, stützte sich auf das Motiv gejagter Büffelhorden und wurde von der Band als in seiner künstlerischen Aussage unklar empfunden und ebenso zurückgezogen. Schließlich sollte sich eine konventionell gehaltene Version von Phil Joanou, mit performativen und situativen Darstellungen von Frontmann Bono, als offizielles Musikvideo zu ONE durchsetzen. Der Song wurde auf allen U2-Touneen seit 1990 gespielt. Offizielle Konzertmitschnitte sind auf den Live-DVDs Elevation 2001: Live from Boston (2001), U2 Go Home: Live from Slane Castle (2003), Vertigo 2005: Live From Chicago (2005) und U2 360° at the Rose Bowl (2010) enthalten. Es existieren diverse Coverversionen, u.a. von Johnny Cash (2000), Joe Cocker (2004) und Mary J. Blige (zusammen mit U2) (2005).

CHRISTOFER JOST


Credits

Hauptgesang: Bono Vox
(E-)Gitarre, Nebengesang: The Edge
E-Bass: Adam Clayton
Schlagzeug: Larry Mullen Jr.
Autor: U2, Bono Vox
Produzenten: Daniel Lanois, Brian Eno
Veröffentlichung: 19. November 1991
Länge: 4:29

Recordings

  • U2. “One”. On: One, 1991, Island Records, 665 164, Europa (CD/Single).
  • U2. “One”. On: One, 1991, Island Records, 422-866 533-2, USA (CD/Single).
  • U2. “One”. On: Achtung Baby, 1991, Island Records, CIDU28, 510347-2, Europa (CD/Album).
  • U2. “One”. On: Achtung Baby, 1991, Island Records, 314-510 347-2, USA (CD/Album).
  • U2. “One”. On: Elevation 2001: Live from Boston, 2001, Island Records, 586 543-9, Europa (DVD).
  • U2. “One”. On: U2 Go Home: Live from Slane Castle, 2003, Island Records, 9813513, Europa (DVD).
  • U2. “One”. On: Vertigo 2005: Live From Chicago, 2005, Island Records, 9874637, Europa (DVD).
  • U2. “One”. On: U2 360° at the Rose Bowl, 2010, Island Records, 2735525, Europa (DVD).

Covers

  • Mary J. Blige (with U2). “One”. On: The Breakthrough, 2005, Geffen Records, 0602498796870, Europa (CD).
  • Johnny Cash. “One”. On: American III: Solitary Man, 2000, American Recordings, 314 586 792-2, Europa (CD).
  • Joe Cocker. “One”. On: Heart & Soul, 2004, EMI, 07243 8 66402 2 2, Europa (CD).

References

  • Chatterton, Mark: U2. The Ultimate Encyclopedia. London: Firefly 2004.
  • Cogan, Višnja: U2. An Irish Phenomenon. New York: Pegasus Books 2008.
  • Harris, Paul: U2’s Compositional Process: Sketching Achtung Baby in Sound. In: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 24/2 (2009), 137-162.
  • Flanagan, Bill: U2 at the End of the World. New York: Random House Publishing Group 1996.
  • Jost, Christofer: Musik, Medien und Verkörperung. Transdisziplinäre Analyse populärer Musik (= Short Cuts | Cross Media 5). Baden-Baden: Nomos 2012.
  • Rolling Stone (Ed.): Rolling Stone’s 500 Greatest Albums of All Time. London: Turnaround 32006.
  • Stokes, Niall: U2. Into the Heart. The Stories Behind Every Song. New York: Thunder’s Mouth Press 2005.
  • The 500 Greatest Songs of All Time. In: Rolling Stone 963 (2004).

Links

About the Author

PD Dr. Christofer Jost is research associate at the Zentrum für Populäre Kultur und Musik, University of Freiburg, and teaches media studies at the University of Basel.
All contributions by Christofer Jost

Citation

Christofer Jost: “One (U2)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/one, 08/2012 [revised 10/2013].

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