1965
The Beatles

Nowhere Man

NOWHERE MAN ist eine akustische Popballade der Beatles und erschien 1965 auf der britischen Fassung des Albums Rubber Soul. Auf textueller Ebene löste sich der Titel als erster Song vollständig vom üblichen Love-Song-Klischee der Briten.

I. Entstehungsgeschichte

NOWHERE MAN wurde am 3. Dezember 1965 auf der britischen Fassung des sechsten Albums Rubber Soul veröffentlicht, welches als musikalischer Meilenstein in der künstlerischen Entfaltung der Beatles gilt (Lewisohn 1992: 182; Trynka 2004: 226). Der Song erschien als vierter Track. In den USA erfolgte die Veröffentlichung am 21. Februar 1966 als Single gemeinsam mit dem Titel “What Goes On” auf der B-Seite, welcher ebenfalls dem Album entnommen ist. Die Komposition wird John Lennon zugeschrieben und erinnert in Instrumentierung und Aufbau an Songs von The Byrds oder Bob Dylan. Textlich verarbeitet Lennon eine rein persönliche Thematik, die sein körperliches und psychisches Unwohlbefinden zur Entstehungszeit beschreibt (vgl. Hickey 2010: 65). Nach einer langen Nacht versuchte Lennon aufgrund seines Gemütszustands einen guten Song mit tieferer Bedeutung zu schreiben und widmete sich bis in die frühen Morgenstunden diesem Vorhaben. Er drohte daran zu scheitern und legte sich hin, um zu schlafen. Im Moment der sich anbahnenden Ruhe hatte er, so Miles, mit einem Schlag das gesamte musikalische und textliche Konzept für NOWHERE MAN fertig in seinem Kopf. Als Paul McCartney einige Stunden später bei Lennon erschien um mit ihm zu komponieren, fand er diesen schlafend auf einer Couch vor: mit einem fertigen Song. McCartney bezeichnet die Komposition in seiner Biografie als einen Anti-John-Song und sieht den Titel gleichzeitig als einen von Lennons besten (vgl. Miles 1999: 312).

Das Audiomaterial zur originalen Version wurde am 22. Oktober 1965 in den Abbey Road Studios aufgenommen. Die Produktion des Titels startete bereits am Vortag, wurde aber nach zwei Fehlversuchen abgebrochen (vgl. Lewisohn 1988: 65).

NOWHERE MAN war fester Bestandteil des Live-Repertoires der US- und Welttournee der Band im Jahr 1966. Ein gesamtes Beatles-Konzert im Circus Krone (München) wurde im Rahmen dieser Tour vom ZDF ausgestrahlt und kursiert heute ausschnittsweise im Internet. Die Performance enthält unter anderem den Song NOWHERE MAN.

II. Kontext

Der im Text besungene “Nowhere Man” (sinngemäß: Mann nach Nirgendwo) stellt, wie Lennon später angeben wird, ein Selbstporträt des Komponisten dar. Dies kann als ein großer Schritt in Richtung des persönlichen und Ich-bewussten Songwritings in der Popmusik gewertet werden. Dieser Zugang wurde nur wenig früher durch Bob Dylans Art der introspektivischen Textkomposition etabliert. Die Bezugnahme auf eine rein persönliche bzw. psychische Problematik, ohne inhaltlichen Bezug auf die übliche Liebesthematik, war ein Novum im Schaffen der Band. Bereits bei der Produktion von Rubber Soul rückte das Interesse der Gruppe, Songs speziell für Live-Auftritte vor Publikum zu schreiben, stark in den Hintergrund. Stattdessen konzentrierten sich die Musiker gemeinsam mit George Martin auf die Produktion im Studio. Dieses Vorgehen fiel musikalisch wie soundtechnisch äußerst experimentell und gleichzeitig innovativ aus. Die Verwendung von Bandschleifen und die bewusste Zusammenstellung von Mehrspuraufnahmen bzw. Overdubs waren neue Produktionswege, welche die Gruppe beschritt ‒ und die ihr die Plattenfirma einräumte. Heutzutage gelten die Beatles gemeinsam mit George Martin als Pioniere moderner Aufnahmetechnik. Kurze Zeit nach Rubber Soul zogen sie sich komplett von der Bühne zurück (vgl. Clayton u. a. 2002: 148).

Des Weiteren ist bekannt, dass es bei der Soundgestaltung der E-Gitarren in NOWHERE MAN zu Konfrontationen mit den Technikern in den Abbey Road Aufnahmestudios kam. Die gedoppelten Soli und Interludes, gespielt mit einer Fender Stratocaster, erscheinen aus heutiger Sicht aufgrund ihrer Positionierung in der Struktur des Songs innovativ. Das kurze Solo fügt sich ideal in das Klangbild ein und erfüllt die Funktion einer Leadgitarre ohne dabei zu sehr ins Virtuose überzugehen (vgl. Trynka 2004: 193). Aus produktionstechnischer Sicht sind ebenfalls der höhenlastige Sound der E-Gitarren sowie der Flageolett-Ton am Ende des Gitarrensolos beachtenswert und als innovativ zu bewerten. Die erwünschten Höhen im E-Gitarrensound wurden erst auf Nachdruck von Seiten der Künstler realisiert. McCartney bezeichnet diese Auseinandersetzung zwischen den Musikern und den Technikern im Studio als durchaus typische Situation (vgl. Lewisohn 1988: 13f.).

III. Analyse

Gegenstand der Analyse ist die 2:45 Minuten lange Albumversion aus dem Jahr 1965. Auf textlicher Ebene lässt sich die Komposition Lennons als Aufarbeitung seiner damaligen Lebenssituation und seinem damit verbundenen geistigen Unwohlbefinden verstehen. Im Text wird der Protagonist ‘Nowhere Man’ besungen, über den Lennon später angab, dass es sich dabei um ihn selbst handelte (vgl. Hickey 2010: 65). Der besungene Protagonist wird von einer außenstehenden Perspektive beschrieben. Er befindet sich im Nirgendwo, wo er all seine Pläne schmiedet, die schlussendlich niemanden und nicht einmal ihn selbst betreffen. Die Beschränktheit seines Blicks lässt ihn über die wesentlichen Dinge hinwegsehen. Dabei weiß er selbst nicht, wohin sein Weg ihn führen soll und wird. Aufgrund seiner Teilnahmslosigkeit und Passivität hält sich der ‘Nowhere Man’ in der eigenen inneren Leere gefangen und verpasst dabei das Leben um sich herum. Gleichzeitig wird die Hauptfigur seitens der dritten Person aufgefordert, sich keinen Kummer zu machen. Mit gutem Zuspruch wird der Figur geraten, sich Zeit zur Selbstfindung zu nehmen, um das Leben nicht zu versäumen.

Der Song (komponiert im 4/4-Takt) lässt sich aufgrund von Form, Harmonie sowie Instrumentierung dem Genre Folk-Pop bzw. Folk-Rock zuordnen. Das Tempo liegt bei etwa 120 bpm. Es ergibt sich eine Unterteilung in Strophe, Refrain, Gitarrensolo und Outro, welche wie folgt strukturiert werden kann: Strophe (A), Refrain (B), Gitarrensolo (B’), Strophe (A) Refrain (B), Strophe (A), Refrain (B) und Outro (A’). Bis auf Strophe 1 (= 16 Takte) und Outro (= 9 Takte) sind alle Formteile 8 Takte lang.

Verglichen mit vorhergehenden Kompositionen der Beatles und den damals zeitgemäßen Strukturen von Popsongs erscheint NOWHERE MAN innovativ. Die Formteilabfolge ist eine modifizierte Ableitung des unvollständigen AABA-Schemas, welches in McCartneys und Lennons vorangegangenen Kompositionen oftmals Anwendung fand. Das Gitarrensolo, welches in vergleichbaren Kompositionen üblicherweise an der Stelle einer späteren Reprise positioniert ist, erklingt bereits nach dem noch typischen AAB-Durchlauf zu Beginn. Darüber hinaus deckt sich die darauffolgende AB-Alteration nicht mit der Formteilkonstruktion früherer Werke (vgl. Covach 2006: 43).

Harmonisch gesehen handelt es sich in der Strophe (A) um eine I–V–IV-Abfolge in E-Dur, gefolgt von einer I–IV–IVm–I-Progression, die wiederum in den anfänglichen Verlauf mündet. Vor jedem Formteil B leitet eine IIm–IVm–I-Bewegung mit dem Charakter eines Pre-Chorus den Refrain ein. Dieser pendelt dreimal zwischen den Stufen III#m und IV. Zur anschließend wiederkehrenden Überleitung auf die Strophe findet ein V7–I Akkordwechsel Anwendung. Der Song schließt mit der Wiederholung der letzten Textzeile, daher ergibt sich für das Outro ein hinzugefügter neunter Takt. Zusätzlich wechseln die Harmoniestimmen zur klanglichen Steigerung in eine höhere Lage. Darauf folgt eine fünftönige, absteigende Outro-Melodie der E-Gitarre mit abschließendem Crash.

Die Aufnahme enthält Schlagzeug, gespielt von Ringo Starr, Bassgitarre der Marke Höfner, gespielt von Paul McCartney, eine Gibson Akustikgitarre, gespielt von John Lennon und eine Fender Stratocaster E-Gitarre, aufgenommen von George Harrison. Das Gitarrensolo und die Interludes wurde zusätzlich von Lennon, ebenfalls mit E-Gitarre, gedoppelt. Bis auf die E-Gitarren sind alle Instrumente während des Titels durchgehend hörbar.

Der Fokus liegt auf dem Gesang, welcher den Titel mit einer A-Capella-Passage eröffnet. Die Vocal-Parts lassen sich in Hauptgesangsstimme, Harmoniestimmen und Background-Chor unterteilen. Die Hauptgesangsstimme, gesungen von John Lennon, wurde mittels Doubletracking voluminöser gestaltet, was auch auf den Background-Chor von McCartney (höhere Lage) und Harrison (tiefere Lage) zutrifft. Die Harmonien zur Hauptstimme wurden in den Hintergrund gemischt (vgl. Babiuk 2001: 157). Eine Ausnahme dieser Lautstärkehierarchie stellt die letzte, abschließende Zeile dar, in welcher die Harmonien aus dem Hintergrund hervortreten. Der Refrain dieser Stelle ist mit einem zusätzlichen Background-Chor hinterlegt, welcher die Phrase “Ah-la-la-la” wiederholt und so den Formteilwechsel etabliert.

Die Bassgitarre nimmt im Fall des analysierten Songs wie auch insgesamt auf Rubber Soul eine komplexe Position ein, die sich am ehesten als zusätzliche melodische Dimension kennzeichnen lässt. Bei NOWHERE MAN verläuft die Bassline überwiegend in Achteln, was bei diesem Tempo ein rhythmisch bewegtes und unabhängiges Fundament bildet (vgl. Everett 2006: 80). Angesichts der einfach gehaltenen und geradlinigen Begleitung von Schlagzeug und Akustikgitarre wirkt dies nicht überladen, vielmehr treibt es den Song voran. Aus harmonischem Blickwinkel spielt McCartney wenig grundtonorientiert, mit Ausnahme des Refrains. Hier bewegt sich die Basslinie wiederholend in Achteln auf E bzw. F, verbunden mit Quartsprüngen. In den Strophen besteht die Begleitung überwiegend aus Arpeggien. Die Akustikgitarre ist in ihrer akkordischen Rhythmusfunktion einfach gehalten und wurde unter Zuhilfenahme eines Kapodasters eingespielt.

Ringo Starr bedient sich beim Schlagzeugspiel synkopationsfreier 4/4-Rhythmusfiguren unter Verwendung von Bassdrum, High-Hat und Snaredrum. Vor jedem Refrain kommt es zu einem Wirbel auf der Snaredrum.

IV. Rezeption

NOWHERE MAN zählt zu den bekanntesten Titeln der Briten und die Liste der Coverversionen ist wie bei vielen ihrer Songs lang. Bereits kurz nach Erscheinen des Albums veröffentlichten die Bands The Guitar And Orchestra Of Joe Pass (1965), The Three Good Reasons (1966) und The Settlers (1966) ihre Fassung des Songs. Übliche Instrumentalcovers wie z.B. Gershon Kingsley am Moog-Synthesizer (1969) folgten. In den kommenden Jahrzehnten wurden immer wieder Coverversionen veröffentlicht bzw. live gespielt. Einige populäre Bands verschiedenster Genres haben auf Live-Konzerten ihre Version präsentiert, unter anderem The Smashing Pumpkins.

Im Beatles-Film Yellow Submarine aus dem Jahr 1968 tritt eine psychedelische, tierähnliche Figur mit blauem, maskenartigen Gesicht auf. Der Charakter stellt sich als ständig in Reimen sprechender Universalgelehrter und Künstler vor, welcher das kaputte U-Boot der Reisenden repariert. Die Figur wird von John als “Nowhere Man” bezeichnet und stimmt den gleichnamigen Song mit der Band ein. Am Ende laden die Musiker den weinenden ‘Nowhere Man’ ein, gemeinsam mit ihnen ihre Reise fortzuführen.

Anlässlich der Neuveröffentlichung des Films 1999 erschien der zugehörige Soundtrack Yellow Submarine Songtrack, für welchen ein neuer Stereoremix des Originals von NOWHERE MAN erstellt wurde. Der Song erschien nicht auf der ursprünglichen Soundtrack-LP Yellow Submarine.

 

DANIEL REISINGER


Credits

Hauptgesang: John Lennon
Backgroundgesang: Paul McCartney, George Harrison
Akustikgitarre: John Lennon
E-Gitarre: John Lennon, George Harrison
E-Bass: Paul McCartney
Schlagzeug: Ringo Starr
Songwriting: John Lennon (nominell Lennon / McCartney)
Produzent: George Martin (Engineer: Norman Smith)
Label: Parlophone
Aufnahmedatum: 21.-22. Oktober 1965, Abbey Road 2 (London)
Veröffentlichungsdatum (UK-Album Version): 3. Dezember 1965
Länge: 2:45

Recordings

  • The Beatles. “Nowhere Man”, Rubber Soul, 1965, Parlophone, PMC 1267 (Mono), UK (LP/Album).
  • The Beatles. “Nowhere Man”, Rubber Soul, 1965, Parlophone, PCS 3075 (Stereo), UK (LP/Album).
  • The Beatles. “Nowhere Man”, Yellow Submarine Songtrack, 1999, EMI / Apple Records, 7243 5 21481 1 0 / 521 48 11, UK & Europe (Vinyl/LP/Compilation).
  • The Beatles. “Nowhere Man”, Yesterday… And Today, 1966, Capitol, T 2553, USA (LP/Album).
  • The Beatles. Nowhere Man / What Goes On, 1966, Capitol Records, 5587, USA (7’’/Single).
  • The Beatles. Yellow Submarine, 1969, Apple Records, PCS 7070, UK (LP/Album).

Covers

  • The Guitar And Orchestra Of Joe Pass. “Nowhere Man”, A Sign Of The Times, 1965, World Pacific, WPS-21844, US (Vinyl/LP/Album).
  • The Three Good Reasons. “Nowhere Man”, Nowhere Man, 1966, Mercury, MF 899, UK (Vinyl/7”).
  • The Settlers. Nowhere Man / Call Again, 1966, Pye Records, 7N.17065, UK (Vinyl/7”-Single).
  • Gershon Kingsley. “Nowhere Man”, Music To Moog By, 1969, Audio Fidelity, AFSD 6226, US (Vinyl/LP/Album).

References

  • Babiuk, Andy: Beatles Gear. San Francisco: Backbeat Books 2001.
  • Clayton, M./Gareth, T.: John Lennon. 1940-1980. New York u.A.: Parragon Books Ltd. 2002.
  • Covach, John: From “Craft” To “Art”: Formal Structure in the Music of the Beatles. In: Reading the Beatles. Cultural Studies, Literary Criticism, and the Fab Four. Albany: State University of New York Press 2006.
  • Everett, Walter: Painting Their Room in a Colorful Way: The Beatles’ Exploration of Timbre. In: Reading The Beatles. Cultural Studies, Literary Criticism, and the Fab Four. Albany: State University of New York Press 2006.
  • Hickey, Andrew: The Beatles in Mono. Leipzig: Amazon Distribution 2010.
  • Lewisohn, Mark: The Beatles Recording Sessions. London: The Hamlyn Publishing Group Ltd. 1988.
  • Lewisohn, Mark: The Complete Beatles Chronicle. New York: Harmony Books 1992.
  • MacDonald, Ian: Revolution In The Head – The Beatles’ Records And The Sixties. Chicago: Chicago Review Press 2007.
  • Miles, Barry: Paul McCartney – Many Years From Now. Berlin: Rowohlt 1999.
  • Trynka, Paul: Die Beatles. Ihre Geschichte – ihre Musik. London: Dorling Kindersley 2004.

Films

  • Yellow Submarine. Director: Dunning, George. Script: Brodax, Al/Mendelsohn, Jack/Minoff, Lee/Segal, Erich. MGM Home Entertainment GmbH / Apple Corps Ltd., 1999 (DVD/Z5 57508).

Links

  • Band Homepage: http://www.thebeatles.com/ [09.02.2014].
  • Allgemeine Informationen: http://www.beatlesbible.com/ [14.02.2014].

About the Author

Daniel Reisinger (MA) is a musicologist and audio engineer.
All contributions by Daniel Reisinger

Citation

Daniel Reisinger: “Nowhere Man (The Beatles)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/nowhereman, [revised 05/2014].

Print