2010
Marteria

Neue Nikes

NEUE NIKES beschäftigt sich mit den Auswüchsen der Konsumgesellschaft wie etwa der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich.

 

I. Entstehungsgeschichte

Der Song NEUE NIKES von Marteria erschien 2010 auf dem Album Zum Glück in die Zukunft, der vierten Platte des Rostocker Rappers, der zweiten unter dem Künstlernamen Marteria. Zuvor hatte der Rapper, dessen bürgerlicher Name Marten Laciny ist, zwei Alben unter dem Pseudonym Marsimoto herausgebracht. Der Albumtitel ist zweideutig zu verstehen: “Zum Glück” beschreibt zum einen Marterias Hoffnung, auch in Zukunft Glück zu haben, zum anderen aber auch das Glück darüber, dass es vorwärts, eben in die Zukunft geht. Die Absicht des Rappers dahinter ist die Pointierung seiner Weiterentwicklung von “Marsimoto” zu “Marteria”. Die Arbeit an dem Album zog sich über zwei Jahre hin und überschritt das Budget, welches das Label für die Produktion zur Verfügung gestellt hatte. “Zum Glück” unterstützte der Produzent, The Krauts, mit dem Marteria gemeinsam an einem Album für Miss Platnum gearbeitet hatte, die Produktion mit finanziellen Mitteln. Auf dem Album finden sich auch Gastbeiträge von Künstlern wie Peter Fox, Jan Delay und Casper, deren Zusammenarbeit auf freundschaftlicher Basis basiert.

 

II. Kontext

NEUE NIKES beschäftigt sich mit einem populären sozialkritischen Thema, das auch von anderen Musikern, etwa Creme Fresh, immer wieder behandelt wird: die Konsumgesellschaft mit ihren Auswüchsen wie der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich oder der Auslagerung von Produktionsprozessen u. a. in Schwellen- und Entwicklungsländer und die damit verbundenen unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Trotz der hohen Verkaufspreise landet kaum Geld bei den Arbeitern in den Fabriken, der Gewinn verbleibt bei den Konzernen. NEUE NIKES setzt an dieser Stelle an, genauer: bei der Herstellung von Sneakers der Firma Nike. So wurde dieser in der Vergangenheit immer wieder Kinderarbeit und Ausbeutung vorgeworfen, u. a. zeigt dies der Filmemacher Michael Moore in seiner Dokumentation Der große Macher auf. Seit wenigen Jahren wird vermehrt versucht, Firmen rechtlich dazu zu verpflichten, ihre Arbeiter angemessen zu bezahlen und Kinderarbeit zu verhindern.

 

III. Analyse

NEUE NIKES beginnt mit einem Sample aus “Shut Em Down” von Public Enemy. In dem Song geht es um eine ähnliche Problematik, auch hier wird die Firma Nike thematisiert. Chuck D, ein Mitglied von Public Enemy, spricht seine Begeisterung für Nike-Produkte aus, appelliert aber auch an die schwarze Community, mehr Kapital in Firmen zu stecken, die schwarze Eigentümer haben. Marteria übernimmt den Vers “I like nike, but wait a minute” und leitet damit seinen Song ein.

Nach dem Intro folgt der erste Part: “Ich hab’ dem Teufel meine Seele verkauft und mir ein paar neue Nikes gekauft”. Wie im Intro angedeutet, haben diese Schuhe einen “Haken” (“Denn diese Schuhe haben den Haken einfach raus”). Damit ist nicht nur das Firmenlogo von Nike gemeint, sondern auch der fade Beigeschmack der fragwürdigen Produktionsbedingungen. “Meine Nikes stellen deine in den Schatten. Doch an meinen klebt Pech an den Hacken, Häuser stürzen ein, Straßen kriegen Risse. Es regnet Frösche, es hagelt Blitze. Die Erde fängt an zu beben”. Diese Passage greift die Sinnfigur des Teuflischen auf bzw. erweitert diese um den Topos Hölle. Brennendes Pech assoziierten die Menschen im Mittelalter vor allem mit der Hölle. Diese ‘klebt’ nun, in Form von Schuhkleber, an Marterias neuen Nikes. Die weiteren Zeilen spielen auf die zehn biblischen Plagen und die Apokalypse an, die diese Schuhe scheinbar bedingen.

Einige Zeilen später gibt es eine weitere doppeldeutige und gesellschaftskritische Andeutung: Marteria bezeichnet sich als “ge-brand-marktes” Kind. Die Anspielung kann einerseits im Sinne eines Anglizismus als Anspielung auf die Marke (engl. Brand) verstanden werden, andererseits – im Deutschen – als eine Form des Abstempelns: die Marke als Stempel für den Träger. Damit spielt Marteria auf die Bedeutung von Marken in der Konsumgesellschaft an. Diese werden immer wichtiger und zu einem Mittel der Selbstprofilierung. Marken sind ein Statussymbol, vor allem Kinder und Jugendliche fühlen sich oftmals unter Druck gesetzt, mithalten zu müssen. Sie sind, wie Marteria, gebrandmarkte Kinder.

Im Anschluss greift Marteria das Thema der Kinderarbeit in Indien explizit auf: “Meine Schuhe sind kinderleicht. Meine Schuhe machen indische Kinder reich. Meine Schuhe machen kindische Inder reich”. Der Rapper bezieht sich hier eindeutig auf die Firma Nike, zeichnen sich doch viele Schuhmodelle des Unternehmens dadurch aus, dass sie besonders leicht sind. Nike entwickelte eine spezielle Stofffaser namens “Flywire”, um das Gewicht, gerade bei Laufschuhen, so gering wie möglich zu halten. Trotz der Kinderarbeit kauft sich Marteria, so wie viele andere, neue Nikes, denn: “Keiner will durch die Hölle barfuß gehen”. Die Hölle kann hier metaphorisch für den heutigen Alltag und als Kritik an der Konsumgesellschaft verstanden werden.

Im zweiten Abschnitt des Songs verstärkt Marteria die Bezugnahme auf Hölle und Teufel. Nike produziert viele Modelle der Sneaker als Limited Edition, welche dann mit einer Kennziffer gezeichnet sind. Dass Marterias lyrisches Ich ausgerechnet Modell 666 trägt, ist eine Anspielung auf die Offenbarung des Johannes, auf eine Bibelstelle, die von vielen Zahlenmystikern mit dem Teufel in Verbindung gebracht wird. Wie in der Hölle brennt auch die Luft in den Fabriken, Verletzungen sind bei den gefährlichen Arbeitsbedingungen an der Tagesordnung. Das hält aber die wenigsten davon ab, Nikes zu tragen. “Die paar Seuchen und Heuschreckenplagen halten mich nicht ab, den Teufel zu tragen. Ich tu es auch, wenns nur die Haut einer Kuh ist (Just do it!)” – solange man neue Nike-Schuhe habe, könne man dem Weltuntergang “mit erhobenem Glas entgegen sehen”.

Im Outro erklärt Marteria, dass er aus dem Vertrag mit Nike wieder ausgestiegen sei, der Teufel ihm seine Schuhe geklaut habe und er jetzt wieder Adidas, Gola und Reebok trage und seine Seele Coca-Cola gehöre. Das ist als ironische Auflösung der Geschichte zu verstehen, Marteria macht deutlich, dass Nike sicherlich nicht die einzige Marke ist, bei der die Rechte der Arbeiter und die Arbeitsbedingungen hinterfragt werden müssen. Dies führt zu dem grundlegenden Zwiespalt, der in diesem Song durchschimmert: Marken fungieren als Statussymbol, sind Teil von Modetrends und für viele ein Must-have. Durch den Konsum werden aber auch Firmen unterstützt, die ihre Arbeiter unter fragwürdigen Bedingungen ausnutzen. Und das gilt nicht nur für einzelne Unternehmen, sondern ist eine weit verbreitete ökonomische Praxis. Folgt man dem Outro, so ist es also in der heutigen Gesellschaft schwer, den Kauf von Produkten solcher Firmen zu vermeiden bzw. diese ganz zu boykottieren. Marteria behandelt in NEUE NIKES eine Thematik, die in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, und regt auf erfrischende Art und Weise zum Nachdenken an, indem er sich selbst nicht ausschließt. Er stellt sich nicht als besseren Menschen dar, gerade weil es fast unmöglich ist, die Produkte global agierender Unternehmen wie Nike im eigenen Alltag komplett zu meiden.

 

IV. Rezeption

Obschon der Song nur als Bonustrack auf der Limited Edition des Albums erschien, kann ihm eine gewisse Breitenwirkung unterstellt werden. So gehört er bis heute zum Live-Repertoire des Künstlers, ist auf der partizipativen Internetdatenbank genius.com mit einem Eintrag vertreten (mit aktuell annähernd 6.000 views, Stand: 17.05.2018) und wird über die Videoplattform Youtube extensiv geteilt (vor allem in Form von Handyclips von Konzerten, Audio-Clips und Lyric-Clips).

 

SABRINA THIELGEN


Credits

Lyrics: Marteria
Artwork: zentrale
Producer: The Krauts
Label: Four Music
Release: 20. August 2010

Recordings

  • Marteria. “Neue Nikes”. On: Zurück in die Zukunft, 2010, Four Music, FOR 88697445712, Germany (CD/Album/Ltd.).

References

  • “Marteria”. In: wikipedia.de. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Marteria [27.06.2016].
  • “Zum Glück in die Zukunft”. In: wikipedia.de. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Zum_Glück_in_die_Zukunft [27.06.2016].

Links

  • “Neue Nikes. Marteria”. In: Genius. URL: https//genius.com/Marteria-neue-nikes-lyrics [27.06.2016].

About the Author

Analysis written in a course of Prof. Dr. Thomas Krettenauer at the University of Paderborn.
All contributions by Sarina Thielgen

Citation

Sabrina Thielgen: “Neue Nikes (Marteria)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/neuenikes, 12/2020.

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