1991
R.E.M.

Losing My Religion

LOSING MY RELIGION ist einer der größten Hits der US-amerikanischen Band R.E.M. Seinerzeit erfuhr die Band durch ihn einen beachtlichen Popularitätsschub und avancierte zum weltweit gefeierten Mainstream-Act.

I. Entstehungsgeschichte

LOSING MY RELIGION ist der zweite Track auf Out of Time, dem siebten Studioalbum von R.E.M. (erschienen am 12.3.1991). Der Song wurde außerdem als erste Single ausgekoppelt (mit der B-Side “Rotary Eleven”; Release: 19.2.1991). Für Musik und Text zeichnete die gesamte Band verantwortlich. Nach einer einjährigen Pause im Anschluss an die Green-Tournee begannen R.E.M. im Sommer 1990 mit der Arbeit an Out of Time. Die vier Bandmitglieder stimmten von Anfang an darin überein, dass sich die neuen Songs von der “klassischen” Rock-Instrumentierung Gesang – E-Gitarre – E-Bass – Schlagzeug entfernen sollten. Die ersten kompositorischen Skizzen zu LOSING MY RELIGION gehen auf Gitarrist Peter Buck zurück, der zu Beginn der Produktionsphase eine Mandoline erwarb und seine ersten Gehversuche auf diesem Instrument aufnahm – hierunter auch das später eingespielte markante Einstiegsriff. Die Aufnahmesessions mit der gesamten Band gestalteten sich zunächst schwierig, da sich Peter Buck anstelle der Gitarre besagter Mandoline zuwandte, was zur Folge hatte, dass der mittlere Frequenzbereich der Aufnahme nicht hinreichend abgedeckt werden konnte. Die Band entschied daraufhin, ihren Tour-Gitarristen und -Keyboarder Peter Holsapple die Gitarrenspur mit einer akustischen Gitarre einspielen zu lassen. Später erhielt die Aufnahme noch durch einen Streicherpart einen wärmeren und volleren Sound.

II. Kontext

R.E.M. entstammen dem alternativ-kulturellen Territorium des Post-Punk und Alternativ-Rock, haben sich jedoch im Zuge des überaus großen Erfolgs von LOSING MY RELIGION und Out of Time zu einem Mainstream-Act entwickelt. Charakteristisch für die “alternativen” Spielarten des Rock ist der kritisch-reflektierte Umgang mit dem stereotypischen Stargebaren der Mainstream-Kultur (Posen, Machismo, Egozentrik). Exponierte Vertreter dieser “Gegenkultur” wie Michael Stipe – Frontmann der Band –, Kurt Cobain oder Eddie Vedder reicherten resp. reichern ihr Starsein mit der Zur-Schau-Stellung ihrer Aversion gegen ebendieses Starsein an. Angesichts dieses gegenkulturellen Ausdrucksmoments erscheint eine Verortung von R.E.M. innerhalb des Rock-Mainstreams problematisch. Argumentiert man allerdings im Sinne von Holerts und Terkessidis’ These des “Mainstreams der Minderheiten”, können R.E.M. gleichwohl dem Mainstream zugeordnet werden. Grundlegend für jene These ist eine musikkulturelle Entwicklung, die sich in den 1990er Jahren ausgehend von den USA herausbildete. Laut Holert und Terkessidis (1996: 6) konnte “die ganze Nation der USA […] sich plötzlich mit ‘alternativen’ Rebellenkulturen identifizieren und dafür im Reservoir der subkulturell produzierten Zeichen des ‘Underground’ aus dem Vollen schöpfen. ‘Underground’-Bands gingen zur Industrie, und diese erwartete zum ersten Mal nicht Glättung, sondern kompromisslose Abweichung”. Der Mainstream-Markt ließ von nun an das Anderssein nicht nur zu, sondern umarmte es und bot ihm eine Präsentationsplattform von großer Breitenwirkung. Spätestens mit Beginn der 1990er Jahren schlossen anhaltender kommerzieller Erfolg auf der einen Seite und verschrobenes Erscheinungsbild, provokative Attitüde sowie unkonventioneller Sound auf der anderen Seite einander nicht mehr aus.

III. Analyse

Der Song dauert sowohl in der Album- als auch in der Singleversion 4:28 Minuten. In ihm kommen Hauptgesang, Nebengesang, Mandoline, akustische Gitarre, halbakustischer Bass, Schlagzeug und Streicher zum Einsatz. Sein tonales Zentrum ist Am; sein Formverlauf konstituiert sich in den Abschnitten Intro, 1. Strophe, 2. Strophe, Refrain, 3. Strophe, 4. Strophe, Refrain, Bridge, 5. Strophe (= 2. Strophe), Refrain (2x) und Outro. Das Intro gründet auf dem Instrumental-Arrangement des Refrains. Es zeigt sich, dass über die etwa viereinhalb Minuten des Songs eine gewisse Gleichförmigkeit im formalen Ablauf vorliegt (die Bridge dauert lediglich 15 Sekunde [= 8 Takte], unterbricht den Wechsel zwischen Strophe und Refrain also nur kurzzeitig). Am Formverlauf lässt sich ein weiteres Charakteristikum des Songs aufzeigen: die strophische Dominanz. Im Song sind fünf Strophen à 16 Takte angelegt, im Vergleich zu vier Refrain-Passagen à 8 Takte. Die strophische Dominanz weist auf eine hohe textliche Informationsdichte hin, so werden in der Strophe schwerpunktmäßig die narrativen Anteile des Songtextes transportiert. Jenseits quantitaver Dominanz-Effekte ist eine stark ins Kontrastierende gehende Handhabung des Strophe-Refrain-Prinzips erkennbar, d.h. narrativ-informativer Gehalt auf der einen Seite und Exklamation sowie Repetition (“I thought … I thought … I think I thought…”) auf der anderen Seite. Sonach konstituiert sich im Song ein Wechselspiel zwischen dem reduzierten Textmaterial im Refrain und den vielsilbigen ausgedehnten Strophen. Das oben erwähnte Moment der Gleichförmigkeit lässt sich außerdem auf der Ebene der Harmonien nachvollziehen. Diese Einsicht bezieht sich im Wesentlichen auf die harmonische Pendelstruktur in den Strophen (dreimaliger Wechsel zwischen Am und Em). Als über weite Strecken gleichbleibend erweist sich ferner das Instrumentalspiel, d.h. die Beats, Läufe, Hooks und Riffs von Gitarre, Mandoline, Bass und Schlagzeug. Klangliche Abweichung wird auf subtile Art und Weise über die Instrumentierung, konkret: den Einsatz der Streicher, erreicht (es handelt sich hierbei um einen zwei- bis dreistimmigen Satz in mittlerer Lage mit langen Notenwerten). So erklingen die Streicher zum ersten Mal in der zweiten Strophe, werden in der dritten Strophe ausgespart und sind dann wieder von der vierten Strophe bis zum Ende zu hören.

In sprachlicher Hinsicht liegt ein schildernder Stil vor. Im Fokus steht das Gefühlsleben des Ich-Erzählers, welches als Folge des Begehrens eines nicht weiter spezifizierten Gegenübers (“You”) präsentiert wird. Das im Verlauf des Songs wiedergegebene Grundgefühl der Aufwallung und Bitterkeit erschließt sich bereits aus dem Songtitel. “Losing my Religion” ist eine in den Südstaaten der USA gebräuchliche Redewendung, die zum Ausdruck bringen soll, dass man selbst gerade die Beherrschung oder die Geduld zu verlieren meint. Charakteristisch für die textliche Ausgestaltung dieses Motivs ist das Oszillieren zwischen abstrakten und bildhaften Darstellungsformen. Das bedeutet, dass sich kryptisch und vage gehaltene Wendungen wie beispielsweise die markante Eröffnung “Oh life, it’s bigger. It’s bigger than you. And you are not me“ mit metaphorischen Gefühlsbeschreibungen wie “That’s me in the corner. That’s me in the spotlight“ abwechseln. Auffallend ist, dass an keiner Stelle die Beziehung des Ich-Erzählers zum fiktiven Gegenüber als wechselseitig oder gar intim ausgewiesen wird. Es scheint, als handele es sich bei den Gefühlsschilderungen um die Aufarbeitung einer nicht erfüllten Liebe, eine Deutung, die durch den dritten Refrain und die Bridge sowie den vierten Refrain untermauert wird. Dort heißt es jeweils: “I thought that I heard you laughing. I thought that I heard you sing. I think I thought I saw you try. But that was just a dream”.

IV. Rezeption

LOSING MY RELIGION markiert aufgrund seines überwältigenden kommerziellen Erfolgs eine entscheidende Wende im Wirken der Band. Der Song stieg 1991 weltweit in mehreren Charts bis auf Platz eins und erzielte ein überwiegend positives Presseecho. Im gleichen Jahr ließ MTV der Band die Ehre zuteil werden, im Rahmen der seinerzeit überaus populären Unplugged-Serie aufzutreten. Im darauffolgenden Jahr gewann der Song zwei Grammys (in den Kategorien “Best Short Form Music Video” und “Best Rock Performance by a Duo or Group with Vocal”). Aufgrund des Erfolgs von Song und Album galten R.E.M. fortan als Mainstream-Act, ein Tatbestand, der sich im Jahr 1996 in der Unterzeichnung eines Plattenvertrags in der bis dato nicht erreichten Höhe von ca. 80 Millionen Dollar manifestierte. Die anhaltende Popularität des Songs drückt sich u.a. in Form von Platzierungen in listenförmigen Pop-Kanonisierungen wie den “500 Greatest Songs of All Time” (Rolling Stone, Platz 169) aus. Offizielle Konzertmitschnitte sind auf den Live-DVDs Road Movie (1996), Perfect Square (2004) und R.E.M. Live (2007) enthalten. Es existieren diverse Coverversionen, u.a. von Abigail (1995), Scary Kids Scaring Kids (2006) und Lacuna Coil (2012).

 

CHRISTOFER JOST


Credits

Hauptgesang: Michael Stipe
Mandoline: Peter Buck
Halbakustischer Bass, Nebengesang: Mike Mills
Schlagzeug: Bill Berry
Akustische Gitarre: Peter Holsapple
Autor: R.E.M.
Produzent: Scott Litt, R.E.M.
Aufnahme: September bis Oktober 1990
Veröffentlichung: 12. März 1991
Länge: 4:28

Recordings

  • R.E.M. “Losing My Religion”, Losing My Religion, 1991, Warner Bros., W0015CD, 9362 40037-2, Europa (CD/Single).
  • R.E.M. “Losing My Religion”, Losing My Religion, 1991, Warner Bros., PRO CD 4707, USA (CD/Single).
  • R.E.M. “Losing My Religion”, Out of Time, 1991, Warner Bros., 7599-26496-2, 9 26496-2, Europa (CD/Album).
  • R.E.M. “Losing My Religion”, Out of Time, 1991, Warner Bros., 9 26496-2, USA (CD/Album).
  • R.E.M. “Losing My Religion”, Road Movie, 1996, Warner Music Vision, 7599-38443-2, Europa (DVD).
  • R.E.M. “Losing My Religion”, Perfect Square, 2004, Warner Music Vision, 2564 61327-2, Europa (DVD).
  • R.E.M. “Losing My Religion”, R.E.M. Live, 2007, Warner Bros., 9362-49925-3, (CD & DVD).

Covers

  • Abigail. “Losing My Religion”, Feel Good, 1994, ZYX Music, ZYX 20326-2, Deutschland (CD).
  • Lacuna Coil. “Losing My Religion”, Dark Adrenaline, 2012, Century Media, 9981322, Europa (CD).
  • Scary Kids Scaring Kids. “Losing My Religion”, Punk Goes 90’s, 2006, Fearless Records, FRL 30087-2, USA (CD/Compilation)

References

  • Buckley, David: R.E.M. Fakten und Fiktionen – eine kritische Biografie. Innsbruck: Hannibal 2003.
  • Büsser, Martin: Gimmie Dat Old Time Religion. In: „alles so schön bunt hier“. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute. Ed. by Peter Kemper, Thomas Langhoff und Ulrich Sonnenschein. Leipzig: Reclam 2002, 38-48.
  • Holert, Tom/ Terkessidis, Mark: Einführung in den Mainstream der Minderheiten. In: Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Ed. by Tom Holert und Mark Terkessidis. Berlin: Edition ID-Archiv 1996, 5-19.
  • The 500 Greatest Songs of All Time. In: Rolling Stone 963 (2004).

Links

  • Band homepage: http://remhq.com/index.php [15.11.2012].

About the Author

PD Dr. Christofer Jost is research associate at the Zentrum für Populäre Kultur und Musik, University of Freiburg, and teaches media studies at the University of Basel.
All contributions by Christofer Jost

Citation

Christofer Jost: “Losing My Religion (R.E.M.)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/losingmyreligion, 08/2012 [revised 10/2013].

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