1979
The Clash

London Calling

LONDON CALLING ist einer der größten Hits der britischen Rockband The Clash und zählt heute zu den Meilensteinen der Popkultur. Obwohl er ein düsteres Bild vom London der späten 1970er-Jahre zeichnet, wird der Song häufig in medialen Angeboten verwendet, in denen er auf die Funktion des “klanglichen” Erkennungszeichen der britischen Metropole reduziert wird.

I. Entstehungsgeschichte

LONDON CALLING ist der ersten Track auf dem dritten gleichnamigen Studioalbum von The Clash (erschienen am 14.12.1979). Der Song wurde außerdem als Single ausgekoppelt (mit der B-Side “Armagideon Time”, Release: 7.12.1979). Für Musik und Text zeichneten die Gitarristen und Sänger der Band, Joe Strummer und Mick Jones, verantwortlich. Die Begleitumstände der Albumproduktion schienen zunächst ungünstig, denn die Band war seinerzeit hoch verschuldet und ohne Management. Des Weiteren gestaltete sich anfänglich die Suche nach einem Tonstudio und einem geeigneten Produzenten schwierig. Letztgenannte Engpässe konnten alsbald überwunden werden und eine gleichermaßen produktive und kurze Aufnahmephase von wenigen Wochen begann. Das Songwriting wurde inspiriert durch einen Störfall im US-amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Island zu Beginn des Jahres 1979. Besagtes Ereignis veranlasste das Autorenduo, sich in die textliche Darstellung einer düsteren Weltsicht zu vertiefen – die Zeile “A nuclear error, but I have no fear” nimmt direkten Bezug auf die Beinah-Katastrophe.

II. Kontext

The Clash begannen ihre Karriere in der Hochphase des britischen Punk in den Jahren 1976/77 und galten bereits zu jener Zeit als Apologeten dieser musikalischen Bewegung. In den 1970er Jahren repräsentierte Punk eine Jugend- und Musikkultur, die gleichermaßen mit geltenden bürgerlichen und popkulturellen Normen brach. Ein Hauptanliegen des Punk bestand in der Rückbesinnung auf die Urkraft des Rock ‘n’ Roll – geradezu versinnbildlicht in musikalischen Merkmalen wie harmonische Simplizität, geradliniger Beat, prägnante Hooklines sowie in der Besetzung Gesang, Gitarre, Bass und Schlagzeug. In diversen Bands wurde ein musikalischer Dilettantismus zur Schau getragen, der nicht selten in aggressiven musikalischen Ausdruck umgemünzt wurde. Im Schnittfeld von Musikern, Journalisten und Fans wurden die “klassischen” Rock-Codes der “Rebellion, Echtheit und Wildheit” (Büsser 2002: 47) wiederbelebt. Es galt zudem, den Rock für neue Themenfelder und Formen der Weltwahrnehmung zu öffnen – ein Ansinnen, das in seiner ganzen Tragweite erst im Anschluss an den Punk-Hype im Jahr 1977 sichtbar wurde, beispielsweise in den Genres des New Wave und der New Romantics, in denen der (sprachliche) Modus der Introspektion sowie die kritische Auseinandersetzung mit den Entfremdungseffekten der modernen Industriegesellschaft wichtige künstlerische Ansätze darstellten. Musikalisch bedeutete das Einleiten der “Post”-Punk-Ärä eine Öffnung in Richtung “kalter” elektronischer Klangwelten (siehe New Order und Depeche Mode). Ebenso charakteristisch für die Spielarten des Post-Punk war der flexible Umgang mit Geschlechteridentitäten (siehe Boy George und Eurythmics). In diesem sich zunehmend öffnenden und diversifizierenden kulturellen Umfeld blieben The Clash mit LONDON CALLING den ursprünglichen Genre-Codes der “Rebellion, Echtheit und Wildheit” treu.

III. Analyse

Der Song dauert sowohl in der Album- als auch in der Singleversion 3:18 Minuten. In ihm kommen Hauptgesang, Nebengesang, E-Gitarre (I und II), E-Bass und Schlagzeug zum Einsatz. Er ist im Viervierteltakt komponiert; sein tonales Zentrum ist Em. In Bezug auf den letztgenannten Punkt fällt auf, dass Moll-Tonalitäten nur vereinzelt im Schaffen der Band vorkommen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die harmonische Struktur, die sich aus der Moll-Tonalität heraus entspinnt. Denn es ist eine Abkehr von den “klassischen” Rock-Kadenzen im Tonika-Dominant-Subdominant-Gefüge zu verzeichnen, die charakteristisch für die Mehrzahl der The-Clash-Songs sind. In den Strophen handelt es sich konkret um die viertaktige Akkordfolge Em | F/E | Em/G | G, die dreimal wiederholt wird. Im Refrain wird in eine dreimalige Pendelbewegung zwischen Em und G (zweitaktig) gewechselt, die am Ende in einen D-Dur-Akkord aufgelöst wird. Der Formverlauf bewegt sich in einem für Pop- und Rocksongs typischen Spektrum. Er konstituiert sich konkret in der Anordnung: Intro, 1. Strophe, Refrain, 2. Strophe, Refrain, Zwischenspiel, Refrain und Outro. Bestimmend für das Instrumental-Arrangement des Songs ist die Akzentuierung der Viertelimpulse. So beginnt die Gitarre bereits im Intro mit Staccato-artigen Akkordanschlägen auf allen vier Zählzeiten (jeweils in Barré-Lage gespielt). Die Snare-Drum bewegt sich ebenso innerhalb dieser rhythmischen Struktur, folglich wird das für Pop- und Rocksongs typische Off-Beat-Gefüge zwischen Bass- und Snare-Drum ausgespart (es bestimmt einzig den Drumpart im Refrain). In der Folge entsteht eine rhythmisches Figur, die an die frühen Soul-Aufnahmen des Motown– oder des Stax-Labels erinnert. Durch die Viertel-Akzentuierung erhält der Song insgesamt einen aufpeitschend-aggressiven Ausdruckscharakter, welcher zusätzlich über die sprachliche Ebene transportiert wird. Der Songtext entwirft ein Endzeitszenario, dessen Ursachen in der (nicht weiter explizierten) Koinzidenz von Krieg (“Now war has declared”), Hungersnot (“Wheat is growing thin”), Nuklearunfall (siehe oben) und Naturkatastrophen (“The ice age is coming”, “London is drowning”) liegen. Der Songtitel rahmt diese düstere Grundstimmung im Sinne einer historischen Bezugnahme. Mit den Worten “This is London calling” eröffnete die BBC eine Vielzahl ihre Radioübertragungen während des Zweiten Weltkriegs. Die Worte sind noch heute Teil des kulturellen Gedächtnisses im anglophonen Sprachraum. Im Songtext finden sich außerdem mehrere Gegenwartsbezüge, wenn etwa gesungen wird “Phoney Beatlemania has bitten the dust”. Gemeint ist die allgemeine Punk-Euphorie, die an die einst von den Beatles ausgelösten Begeisterungsstürme erinnerte und im Jahr 1977 jäh zu einem Ende kam. Gegenwartsbezogen sind ferner die Zeilen “London calling, see we ain’t got no swing. Except for the ring of that truncheon thing”, mit denen auf die Schlagstöcke angespielt wird, die zu jener Zeit zur Standardausrüstung der Londoner Polizei gehörten. Geschildert werden die unterschiedlichen Ereignisse und Zustände aus der Perspektive eines Ich-Erzählers, der sich im Outro in informeller Weise an ein fiktives Gegenüber richtet (“London calling, yes, I was there, too. And you know what they said? Well, some of it was true”) und sich damit als in irgendeiner Form involviert in das beschriebene Geschehen zu erkennen gibt. Über die Ich-Schilderungen (vor allem in der Outro) wird letztlich das für die Punk-Bewegung typische Oszillieren zwischen Ironie, Sarkasmus und Nihilismus zum Ausdruck gebracht (“After all this, won’t you give me a smile”, “I never felt so much alike”). Die Gegenwart scheint aus der Sicht des Ich-Erzählers einer Ansammlung beängstigend irrsinniger Ereignisse gleichzukommen. Sänger Joe Strummer unterstützt das Bild einer aus den Fugen geratenen Welt zusätzlich dadurch, dass er im Zwischenspiel nach dem dritten Refrain in ein animalisches Jaulen und Heulen einstimmt. Das rückwärts abgespielte Kurz-Solo der Gitarre (ebenfalls Zwischenspiel) trägt seinerseits zur Erzeugung dieses Bildes bei.

IV. Rezeption

LONDON CALLING kann insgesamt als kommerzieller Erfolg für die Band verbucht werden, wenn auch sich der Erfolg im Wesentlichen auf Großbritannien – dort stieg die Single bis auf Platz 11 – beschränkte. Einzig die drei Jahre später erschienene Single “Should I Stay or Should I Go” erzielte höhere Verkaufszahlen. Seinerzeit von der Musikpresse wohlwollend besprochen, wird der Song heutzutage als Meilenstein der Rockmusik gehandelt. Seine Geltung lässt sich nicht zuletzt daran belegen, dass der Ausdruck “London Calling” – London kann wahlweise durch einen anderen Städtenamen ersetzt werden – zu einem geflügelten Wort geworden ist (siehe hierzu den Falco-Hit “Vienna Calling” aus dem Jahr 1985). Die anhaltende Popularität des Songs drückt sich u.a. in Form von hohen Platzierungen in listenförmigen Pop-Kanonisierungen wie den “500 Greatest Songs of All Time” (Rolling Stone Magazine, Platz 15) aus. Nicht minder groß ist die Anerkennung für das gleichnamige Album (Platz 8 unter den “500 Greatest Albums of All Time”, herausgegeben durch das Rolling Stone Magazine). Der Song fand Verwendung in diversen Film- und Fernsehproduktionen, so z.B. in Friends (4/23) (1998), Billy Elliot (2000) und James Bond: Die Another Day (2002).

 

CHRISTOFER JOST


Credits

Hauptgesang, E-Gitarre: Joe Strummer
Hauptgesang, E-Gitarre: Mick Jones
E-Bass, Nebengesang: Paul Simonon
Schlagzeug: Nicky Headon
Autor: Joe Strummer, Mick Jones
Produzent: Guy Stevens
Aufnahme: August bis November 1979
Veröffentlichung: 14. Dezember 1979
Länge: 3:18

Recordings

  • The Clash. “London Calling”, London Calling, 1979, CBS, S CBS 8087, CBS 8087, Europa (Vinyl/Single).
  • The Clash. “London Calling”, London Calling, 1999, Epic/Legacy, ES7 56935, USA (Vinyl/Single).
  • The Clash. “London Calling”, London Calling, 1979, CBS, CBS CLASH 3, S CBS CLASH 3, UK (Vinyl/Doppelalbum).
  • The Clash. “London Calling”, London Calling, 1980, Epic, E2 36328, USA (Vinyl/Doppelalbum).
  • The Clash. “London Calling”, London Calling, 1990, Epic, EGK 36328, USA (CD/Doppelalbum).
  • The Clash. “London Calling”, London Calling, 1991, CBS, 460114 2, Europa (CD/Doppelalbum).
  • The Clash. Should I Stay Or Should I Go, 1982, CBS, A112646, UK & Ireland (7″/Single).
  • The Clash. “London Calling”, Billy Elliot: Music From The Original Motion Picture Soundtrack, 2000, Polydor, 549 360-2, Europa (CD/Comp.).
  • Falco. “Vienna Calling”, Rock Me Amadeus, 1985, A&M Records, SP 12170, US (12″/Single).

References

  • Borchardt, Kirsten: Stop Making Sense. Supermarkt des Erhabenen: New Wave und Pop in den Achtzigern. In: “alles so schön bunt hier”. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute. Ed. by Peter Kemper, Thomas Langhoff and Ulrich Sonnenschein. Leipzig: Reclam 2002, 200-213.
  • Büsser, Martin: Gimmie Dat Old Time Religion. In: “alles so schön bunt hier”. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute. Ed. by Peter Kemper, Thomas Langhoff and Ulrich Sonnenschein. Leipzig: Reclam 2002, 38-48.
  • Jost, Christofer: Musik, Medien und Verkörperung. Transdisziplinäre Analyse populärer Musik (= Short Cuts | Cross Media 5). Baden-Baden: Nomos 2012.
  • Rolling Stone (Ed.): Rolling Stone’s 500 Greatest Albums of All Time. London: Turnaround 32006.
  • Wicke, Peter/ Ziegenrücker, Kai-Erik and Wieland: Handbuch der populären Musik. Mainz: Schott 42001.
  • The 500 Greatest Songs of All Time. In: Rolling Stone Magazine 963 (2004).

Links

  • Band homepage: http://www.theclash.com/ [05.08.2012].

About the Author

PD Dr. Christofer Jost is research associate at the Zentrum für Populäre Kultur und Musik, University of Freiburg, and teaches media studies at the University of Basel.
All contributions by Christofer Jost

Citation

Christofer Jost: “London Calling (The Clash)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/londoncalling, 08/2012 [revised 10/2013].

Print