2014
Sido

Liebe

LIEBE ist die dritte Singleauskopplung aus dem fünften Studioalbum 30-11-80 des Deutsch-Rappers Sido (bürgerlich: Paul Würdig), erschienen im März 2014.

I. Entstehungsgeschichte

“Ich war wütend, frech und rebellisch. Das bin ich aber nicht mehr”, sagt Sido (Lütticke 2013). Der einstige Berliner Rap-Rüpel ist erwachsen geworden, hat mit 35 Jahren seine Ruhe in der Ehe mit der TV-Moderatorin Charlotte Engelhardt und der Geburt des gemeinsamen Sohnes gefunden. Der frühere Hip-Hop-Schreck hat seine Bad-Boy-Attitüde abgelegt und sich dem deutschen Entertainment-Mainstream angenähert, ohne seine Hip-Hop-Wurzeln zu negieren. Diesen Sinnes- und Imagewandel spiegelt das 2013 entstandene Album 30-11-80 wider.

Das Album wurde größtenteils innerhalb von drei Wochen aufgenommen, gemeinsam mit dem Produzenten-Team DJ Desue, Marek Pompetzki, Paul NZA und Cecil Remmler in den Black Rock Studios auf Santorin. Musikergäste, die an dem Album mitgewirkt haben, etwa Helge Schneider und Mark Forster, wurden eigens auf die griechische Insel eingeflogen. Mark Forster begleitete Sido sowohl bei der zweiten Singleauskopplung des Albums, “Einer dieser Steine”, als auch bei “Irgendwo wartet jemand”. Für den finalen Titeltrack “30-11-80” schart der Berliner achtzehn befreundete Rapper um sich, die ihre Vokalparts in Eigenregie eingespielt haben, ihre Auftritte zur raptypischen Selbstdarstellung nutzen und konkrete thematische Bezüge zu Sido-Titeln oder zur Deutsch-Rap-Szene herstellen. Im Einzelnen sind dies: Eko Fresh, Lakmann One, Laas Unltd., Nazar, Frauenarzt, Manny Marc, Bushido, Blut & Kasse, Olli Banjo, Tarek, Smudo, Erick Sermon, MoTrip, Moses Pelham, Bass Sultan Hengzt, Afrob, Dr. Renz und B-Tight.

II. Kontext

30-11-80 ist Sidos erstes Solo-Album seit Aggro Berlin (2009), dazwischen erschienen das Live-Album mit Bushido MTV Unplugged Live aus’m MV (2010), 2011 der Soundtrack zu seinem Film Blutzbrüdaz und 2012 das Best-of-Album. Mit dem Albumtitel 30-11-80 spielt Sido auf sein Geburtsdatum an und thematisiert seine aktuelle Lebenssituation, seine Rolle als Vater sowie die Liebe zu seiner Frau. Im Unterschied zu früheren Album- bzw. Singleveröffentlichungen geht es dem Rapper mehr um die Bildhaftigkeit der Texte, weshalb er reimtechnische Aspekte eher in den Hintergrund stellt. So rekapituliert Sido im Opening-Track des Albums “Hier bin ich wieder” die persönlichen und musikalischen Erlebnisse seit seiner letzten Albumveröffentlichung. In “Papa, was machst du da” reflektiert der Rapper seine Verantwortung als Vorbild für seine eigenen Kinder, und in dem Song “Enrico”, der vom (Über-)Leben eines Sinti-Straßenmusikers in Berlin-Marzahn handelt, gibt er stellenweise Einblicke in seine Herkunft (als Sohn einer Sinti-Mutter). Darüber hinaus sind auf dem Album mit “Einer dieser Steine” und LIEBE zwei explizite Liebeslieder vertreten, wohingegen im Song “Maskerade” noch andeutungsweise Elemente des Subgenres Battle-Rap aus einer früheren Phase seiner Karriere offenbar werden.

III. Analyse

Der Song besteht formal aus einer insgesamt viermal wiederholten Hook (= Refrain), mit der der Track nach einem kurzen zweitaktigen E-Piano-Vorspiel auch beginnt. Dazwischen folgen die drei Strophen (Part I – Part III), deren achtzeilige Struktur in der zweiten Strophe auf zwölf Verse ausgeweitet wird. Auffällig ist auch, dass reine Paarreime in den Versen (“Kuss – muss”; “hast – hasst”; “runterfahren – hundert Jahren”) in der Unterzahl sind und unreine bzw. nicht reimende Versenden überwiegen. Die strukturelle Geschlossenheit des Songs bzw. zwischen Hook und Strophe wird sowohl durch textpoetische als auch durch musikalische Gestaltungsprinzipien hergestellt: etwa durch die 40-malige Repetition des titelgebenden Worts “Liebe”, das in beiden Songteilen niemals (mit Ausnahme von Part II: “sich beim Liebe machen nicht zu beeilen”) von Sido, sondern von einer gesampelten, grotesk verfremdeten Frauenstimme gesungen wird. Zur Geschlossenheit trägt weiterhin bei, dass sich in Hook und Strophe durchgängig dieselbe zweitaktige Akkordfolge wiederholt, mit der das Stück auch instrumental beginnt: Takt 1 Tonika (b-Moll), Takt 2 Tonika-Parallele (Ges-Dur), gefolgt – auf der synkopisch vorgezogenen Zählzeit 3 – vom Tonika-Gegenklang (Des-Dur). Ebenso wenig ändert sich die reduzierte Instrumentalbegleitung, die aus einem klanglich dominanten Achtel-Schlagzeug-Groove, Bass, E-Piano und Keyboard besteht. Da die Tonika-Parallele und der Tonika-Gegenklang kein besonderes harmonisches Spannungsverhältnis zur Grundtonart b-Moll erzeugen, sondern diese lediglich variieren, verharrt der Song – passend zur Textaussage – in der Stabilität der Tonika-Sphäre.

Musikalisch unterschiedlich ist in der Hook- und Strophengestaltung hingegen Sidos Einsatz seiner Stimme: Während er den Strophentext des Songs (Tempo: 80 bpm) im genretypischen Sprechgesang rezitiert, wechselt er in der Hook in einen melodischen Gesangsvortrag mit geringem Tonumfang, harmonisch unterstützt von einer dezenten weiblichen Background-Stimme (Celina Bostic). Im Verhältnis zum gesamten Soundbild des Songs wirkt die Stimme Sidos eher verhalten und kontrolliert, sie hat die Attitüde des provokanten Rap-Rebellen verloren und passt sich dynamisch stimmig dem Gesamtklang an (bzw. ist dergestalt abgemischt worden). Einzig störend – und das sicher beabsichtigt – ist die automatenhafte Wiederholung des weiblichen Stimm-Samples “Liebe”, die den rhythmischen Sprechfluss des Rappers mit einer Mickey-Mouse-artigen Stimmfärbung permanent unterbricht, den Song aber nie zu einem Liebesduett werden lässt. Dieser Sachverhalt lässt aus Sicht des Hörers verschiedene Lesarten zu, zumal der Rapper dadurch das zentrale Schlüsselwort des Songs quasi nie selbst formuliert.

Ein weiteres Gestaltungselement, das gleichermaßen formale Kohärenz erzeugt und eine gewisse Zäsur in der Songdramaturgie setzt, sind die beiden Schlusszeilen der Strophen: “Liebe, is’ mal leise mal laut, das weiß ich jetzt auch / Darum schrei ich es raus, dass ich dich (liebe).” Bei allen Glücksgefühlen, die das lyrische Ich bzw. der Rapper Sido erfährt, die ihm ein “Kribbeln im Bauch” verursachen und das Gefühl geben, “im siebten Himmel zu sein”, weiß der sichtlich gereifte Künstler von der Fragilität und Wechselhaftigkeit der Liebe. Deshalb wird dieses Liebesbekenntnis dreimal lautstark hinausgeschrien, auch um sich selbst und anderen Mut zu machen. Demgegenüber folgt die musikalische Begleitung diesem Schrei, den Sido stimmlich dynamisch wenig abstuft, mit derselben Gleichförmigkeit, nur die kurzen Schlagzeugbreaks im Schlusstakt signalisieren eine Art Gedankenzäsur, bevor die vokale Zweistimmigkeit der Hook wieder in den emphatischen Lobgesang partnerschaftlicher Liebe einstimmt. Dieses Liebesgefühl dominiert atmosphärisch und hat Sido allem Anschein nach verändert: “Guck ma’, was sie mit mir gemacht hat.”

Die Figur des Songs und seine Frau sind offenbar betrunken vor Liebe zueinander und brauchen dafür “keinen Tropfen Alkohol”. Aber dieses berauschende Gefühl wie “nach dem ersten Kuss” kann auch überschattet, “mal laut, mal leise” sein. Es wird getragen von Gleichberechtigung (“wenn wir beide auf gleicher Stufe stehen”), Rücksicht (“der Schlüssel zu ‘nem glücklichen Leben”), der Bereitschaft, “alles zu teilen”, und Vertrauen. Bürgerliche Sehnsüchte sind erfüllt, das Leben wird dadurch scheinbar “schöner (…) als jeder Traum”. Das offizielle Video zum Song zeigt bildhaft, dass das Liebesbekenntnis textlich zwar Sidos Frau gilt (die er zum Schluss des Clips umarmt; beide sieht man am Ende mit Kinderwagen und Hund auf einem Waldweg spazieren), die Erfüllung der menschlichen Ursehnsucht nach Liebe, Nähe und Verständnis ist indes übertragbar: auf alle hetero- und homosexuellen Liebespaare, Geschwister, Eltern, Großeltern, Freunde, Schwangere, Mutter-Kind-Beziehungen, Narzissten …

IV. Rezeption

Der Release des Albums 30-11-80 erfolgte im November 2013; es stieg direkt auf der Spitzenposition ein (vordere Plätze erzielte es auch in der Schweiz [Platz 1] und in Österreich [Platz 2]). Die Single zu LIEBE stieg bis auf Platz 13 und konnte sich insgesamt 36 Wochen in den deutschen Charts halten. Anfang 2014 vergab der Bundesverband der Musikindustrie die Goldene Schallplatte für 100.000 registrierte Albumverkäufe. Ende desselben Jahres folgte die Platin-Auszeichnung für den Longplayer (200.000 Einheiten) in Deutschland und Österreich.

Die Reaktionen von Fachwelt und Fans waren geteilt. Manche Journalisten (und Fans) respektierten oder bewunderten den Reifungsprozess des einstigen ‘bad boys’, vermissten aber den echten, rebellischen Sido, der zwar vorgab, noch immer der “Krasseste” zu sein (“Hier bin ich wieder”), im Song “Es war einmal” aber selbstironisch eingesteht: “Viele hätten gern den alten Sido zurück / doch während sie das sagen, entfern’ ich mich wieder ein Stück”. Weiterhin groß ist – so der Tenor – die Wertschätzung für Sidos Fähigkeiten des präzisen Beobachtens von Alltagsbegebenheiten, seine Kunst des Storytelling, das von Offenheit und Direktheit gekennzeichnet ist, sein Gespür für Ohrwurm-Hooks sowie die Treffsicherheit, mit der der 33-jährige Familienvater Personen sprachlich pointiert skizziert. Manche Feuilletonisten ließen mehr oder minder offen durchklingen, dass es der Gut-Mensch-Attitüde (“Der gute Hirte”, Pilz 2013), die Sido nun propagiere, an Glaubwürdigkeit fehle, was jedoch generell dem Umstand geschuldet sei, dass Deutschrap längst im Pop-Mainstream angekommen sei und die früheren Spannungs- und Machtverhältnisse innerhalb der Szene durch die Bildung einer deutschen Hip-Hop-Großfamilie entkräftet worden seien.

 

SARAH BONK


Credits

Hauptgesang: Sido
Background-Gesang: Celina Bostic
Produzenten: Marek Pompetzki, Paul NZA & Cecil Remmler
Veröffentlichung: 29. November 2013
Label: Urban (Universal)
Studio: Black Rock Studios Santorin
Spieldauer: 3:15

Recordings

  • Sido. “Liebe / Liebe (instrumental)”. 2014, Urban, 3777567, Germany (CD/Single).
  • Sido. “Liebe / Bei mir läuft”. 2014, Urban, 3781238, Germany, Austria and Switzerland (Vinyl/Single).
  • Sido. “Liebe”. On: 30-11-80, 2013, Urban/Vertigo, 0602537531493, Germany (CD/Album).

References

  • Friese, Julia (2015): “Sag mal Sido, ist das Christenpop oder was?” In: welt.de, 05.09.2015. URL: http://www.welt.de/146054287 [01.04.2016].
  • Haas, Thomas (2013): “Arrogant, provokant bis aufs Blut … es war einmal”, laut.de-Kritik, 29.11.2013. URL: http://www.laut.de/Sido/Alben/30-11-80-91903 [01.04.2016].
  • Lütticke, Florian (2013): “Der einstige Rüpel-Rapper Sido besingt die Liebe: Sein neues Album ’30-11-80′ kommt heute in den Handel”. In: neckar-chronik.de, 29.11.2013. URL: http://www.neckar-chronik.de/Nachrichten/Der-einstige-Ruepel-Rapper-Sido-besingt-die-Liebe-Sein-neues-Album-30-11-80-kommt-heute-in-den-100955.html [01.04.2016].
  • Pilz, Michael (2013): “Sido ist die linke Antithese zu Bushido”. In: welt.de, 30.11.2013. URL: http://www.welt.de/122402008 [01.04.2016].

About the Author

Analysis written in a course of Prof. Dr. Thomas Krettenauer at the University of Paderborn.
All contributions by Sarah Bonk

Citation

Sarah Bonk: “Liebe (Sido)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/liebe, 05/2018.

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