2011
Calle 13

Latinoamerica

Das Lied LATINOAMERICA zählt zu einem der bedeutsamsten Lieder der puerto-ricanischen Band Calle 13. Der Song behandelt die kulturelle, ethnische und sprachliche Vielfalt des lateinamerikanischen Kontinents und weist auf gesellschaftliche Missstände und die blutige Geschichte Lateinamerikas hin.

I. Entstehungsgeschichte

Mit dem Song LATINOAMERICA aus ihrem vierten Album Entren los que quieren beweist die puerto-ricanische Urban Hip-Hop-Band Calle 13 ihren Mut zur Gesellschaftskritik, vor allem vor dem Hintergrund der politischen Repression und Zensur, worunter lateinamerikanischen Künstler noch heute zu leiden haben.

Calle 13 besteht aus drei Mitgliedern: René Pérez Joglar, Eduardo José Cabra Martínez und Ileana Mercedes Cabra Joglar. Pérez (genannt el residente) ist für den Gesang verantwortlich, Cabra (el visitante) für das Instrumentale und Ileana Mercedes Cabra Joglar, genannt PG-13, ist die Schwester der beiden und die weibliche Stimme der Band.

Pérez und die Cabras kennen sich seit dem sie zwei Jahre alt sind, als Pérez Mutter und Cabras Vater als Paar zusammenkamen. Als sich ihre Eltern wieder trennten, zog Pérez in ein Haus in der dreizehnten Straße in Trujillo Alto, einer Vorstadt von San Juan. Vor dem Eintritt in das Gebäude wurde man von einem Sicherheitsmann gefragt, ob man “residente o visitante?” (dt.: Bewohner oder Besucher) sei, so entstanden Band- und Künstlernamen der beiden Stiefbrüder (vgl.: Rother 2010: 1-2).

Seit 2004 machen die beiden Brüder gemeinsam Musik und veröffentlichten 2005 ihr erstes Album Calle 13. Internationales Aufsehen erlangten die Stiefbrüder mit ihrem Song “Querido F.B.I.”, bei dem es um den Mord an dem puerto-ricanischen Unabhängigkeitskämpfer Filiberto Ojeda Ríos durch das FBI geht. Der Song wurde deshalb so bekannt, weil er nur 30 Stunden nach dem Mord an Ojeda Ríos von Calle 13 auf der Website des Unabhängigen Medienzentrums (IMC) von Puerto Rico veröffentlicht wurde. Der Song beschreibt die Frustration gegenüber dem Geschehen und fordert ein Ende des Sonderstatus von Puerto-Rico, das als Außengebiet der USA eine eigene Niederlassung des FBI im Land hat.

Der endgültige Durchbruch gelang der Gruppe 2005 mit ihrem ersten Album Calle 13, das sich weltweit über 450.000-mal verkaufte und mit dem sie 2006 drei Latin Grammy Awards gewannen.

LATINOAMERICA ist die fünfte Singleauskopplung ihres vierten Albums Entren los que quieran (dt.: Trete ein, wer eintreten will) und wurde am 27.09.2011 als Single zum Download ausgekoppelt. Anders als bei ihren vorherigen Alben (Calle 13, Residente o visitante, Los de atras vienen con migo) verarbeiten Calle 13 auf Entren los que quieran mehr lateinamerikanische und indigene Rhythmen sowie folkloristische Klänge (vgl. Rother 2010: 1-2) und entfernen sich damit von ihrem bisherigen Reggeaton-Image.

Der Song und die Idee zum Musikvideo entstanden 2006/07 während der Reise der beiden Brüder durch Südamerika. Um ihren eigenen Kontinent kennen zu lernen, bereisten sie unter anderem Guatemala, Peru, Venezuela und Kolumbien. Die daraus entstandene Dokumentation sin mapa (dt.: ohne Karte) hatte 2009 bei dem International Latino Film Festival in New York Premiere, sie zeigt die Reise der beiden Brüder durch Lateinamerika und ist genau wie das Lied “filled with scathing commentary about U.S. policy toward the region and their native Puerto Rico” (Junco 2009).

Geplant war, das Lied mit der argentinischen Folklore Sängerin Mercedes Sosa aufzunehmen, welche die Songwriter zum Schreiben des Liedes inspirierte. 2009 entstand dann die Idee, das Lied mit noch weiteren bekannten lateinamerikanischen Sängerinnen aufzunehmen. Jedoch verstarb Sosa kurze Zeit später. Schließlich bestätigen drei andere große lateinamerikanische Künstlerinnen das Mitwirken am Song: Susana Baca, Totó La Momposina und María Rita.

Produziert wurde das Stück von Rafael Arcaute sowie den Brüdern René Pérez Joglar und Eduardo José Cabra Martínez im bolivianischen Bogotá. Die Aufnahmeleitung übernahm Eduardo Cabra Martínez.

Das Musikvideo wurde unter der Regie von Jorge Carmona und Milovan Radovic in verschiedenen Gegenden Lateinamerikas, u. a. in Perú, Bogotá und Puerto Rico, gedreht. Produziert wurde es von Patria Producciones, Alejandro Noriega und Calle 13.

II. Kontext

Der Song behandelt Fragen der kulturellen Identität Lateinamerikas und geht dabei auf die Problematiken ein, mit denen die lateinamerikanischen Gesellschaften in Zeiten des Postkolonialismus und der Globalisierung zu kämpfen haben. Der Song ist gleichzeitig eine Liebeserklärung der beiden Sänger an ihren Kontinent und repräsentiert den Stolz auf ihre Herkunft.

Calle 13 ist eine der bekanntesten puerto-ricanischen Bands und bekannt für ihre Mischung von traditionellen lateinamerikanischen Rhythmen und Melodien mit Hip-Hop, elektronischer Musik und Reggaeton. Sie zählen zwar zu den bekanntesten Vertretern des Reggaeton, ihre Musik lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres in dieses Genre einordnen.

Reggaeton ist eine Musikrichtung, die sich Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre in den mittelamerikanischen Ländern Panama, Puerto Rico und der Dominikanischen Republik entwickelte. Im Gegensatz zu Hip-Hop besitzt der Reggaeton keine “specificable place of origin […] in the sense of a hood or even national setting from which it sprang.” (Flores 2009: ix). Reggaeton ist ein Mix aus Reggae, Hip-Hop und verschiedenen karibischen Musikstilen (vgl. Marshall/Rivera/Pacini Hernandez 2009: 1). In der Regel wird er durch explizit sexuelle Lyrics und einen aufreizenden Tanzstil begleitet (vgl. ebd.). Calle 13 distanzieren sich jedoch von dem Bild einer klassischen Reggaeton-Band, denn im Gegensatz zu Künstlern wie Wilsin & Yandel oder Pitbull, deren Texte oft von Drogen und Gewalt handeln, sind die Texte von Calle 13 politisch und gesellschaftskritisch. In ihren Texten geht es häufig um die Frage der kulturellen Identität Lateinamerikas, einem Kontinent, der seit Beginn der Kolonialisierung durch eine eurozentrische Politik geprägt wird und sich nun in Zeiten der Globalisierung seinen Platz in der Welt bzw. Weltpolitik suchen muss. Pérez selbst sagt über die Musik von Calle 13: “We’re more like Urban Alternative. We don’t have a name, we just do whatever we feel like, and we want to do it good all the time. That’s why we mix live instruments and take a lot of time when we’re writing and why we travel a lot. Just to capture different things.” (“Calle 13 Cross Spanish Rap’s Musical Borders” 2007).

Calle 13 nutzen ihre Berühmtheit als Plattform für politischen Protest. So unterstützen sie beispielsweise UNICEF in der Kampagne im Kampf gegen Menschenhandel in Lateinamerika (vgl. “Calle 13 Joins UNICEF to Campaign against Human Trafficking” 2011). Auf ihrem Twitter-Account verkündeten sie 2012 während eines Generalstreiks in Spanien, dass sie allen Streikenden 20 Prozent auf die Ticketpreise ihrer Tour gewähren und solidarisierten sich so mit den Arbeitnehmern. Außerdem sind sie Unterstützer der puerto-ricanischen Unabhängigkeitsbewegung (vgl. Rother 2010).

III. Analyse

Die Leitthemen lateinamerikanische Geschichte, kulturelle Identität und Globalisierung ziehen sich durch alle drei Analyseebenen (Text, Musik, Video/Bild). Im Text werden diese sowohl durch eine symbolbeladene Sprache als auch durch die Anspielung auf Ereignisse der lateinamerikanischen Geschichte und auf kulturelle Identitätsmomente wiedergegeben. Ebenso werden aktuelle politische Problematiken angesprochen. In der Musik werden traditionelle lateinamerikanische Rhythmen und Stile wie Salsa, Cumbia und Tango verwendet und mit modernem Sprechgesang vermischt.

Im Video wiederum wird der Fokus auf Gegensätzlichkeit und Vielfalt gelegt – in Bezug auf Kultur, Menschen, Landschaften, Natur und Städte. Im Einzelnen thematisieren die Bilder die Gegensätze zwischen modern und traditionell, alt und jung, arm und reich, Vergnügen und Arbeit und weisen auf diese Weise nicht nur auf sozioökonomische Ungleichheiten hin, sondern auch auf kulturelle Brüche. Visuell inszeniert werden die Leitthemen durch Motive, die immer wieder auftauchen, so zum Beispiel durch ein pochendes Herz (0:31; 4:52 und 5:16), das womöglich den Herzschlag des Kontinents symbolisiert. Ein weiteres Element ist die Vielzahl an unterschiedlichen Einstellungen, die die Gesichter der Menschen zeigen, komplettiert durch mannigfache Landschaftsaufnahmen. Es sind, wie oben angedeutet, abwechselnd indigene (0:37) und weiße (0:39), junge (0:49) und alte (0:45), sich vergnügende (2:45) und arbeitende (3:02) Menschen sowie traditionelle (3:03) und moderne (3:06) Lebensweisen zu sehen. Neben diesen Montagen kommt es zur Kontrastierung von Natur und Zivilisation. Gezeigt werden staubige Straßen (0:09), bescheidene Äcker (1:13), graue Städte (1:02), Seen wie der Titicacasee in den Anden (1:08), ein roter Sonnenuntergang an einsamen Stränden (1:11) und amazonische Dschungellandschaften (1:17). Die Landschaften werden in Panoramaaufnahmen oder Total-Einstellungen gezeigt, wodurch eine atmosphärische Darstellungsebene erzeugt wird (vgl. Hickethier 1978: 4-10), die dem Zuschauer die gezeigte Welt als grandios und überwältigend, gleichsam als das Schicksal des einzelnen Menschen übertreffend, vermittelt.

Die Natur nimmt insgesamt eine wichtige Rolle im Video ein. Zu sehen sind Naturaufnahmen, in denen es um die Erzeugung wichtiger Grundnahrungsmitteln geht, wie Kartoffeln, Reis oder Getreide. Es werden auch Fischer bei ihrer Arbeit gezeigt (2:45) sowie Menschen bei der Zuckerrohrernte (4:04). Was aus diesen Lebensmitteln erzeugt wird, wird ab 3:26 in verschiedenen Szenen beleuchtet. Man sieht traditionelle lateinamerikanische Nahrungsmittel wie Maniok (3:26), Kaffee (3:38), der seinen Siegeszug über die Welt von Lateinamerika aus startete, sowie heißen Matetee (3:41), der vor allem in den Andenregionen getrunken wird. Aber auch moderne, importierte Lebensmittel wie Weißbrot (3:31) und Bier (3:45) werden gezeigt. Die Bedeutsamkeit der Natur wird ferner durch das filmische Mittel der Personifizierung herausgestellt. In Minute 4:44 verwandeln sich auf Grundlage von Animationstechnik die Füße eines kleinen Jungen in die Wurzeln eines Baumes. Durch einen Kameraschwenk nach oben verwandelt sich der Junge/Baum in eine gesichtslose Baumfrau, die sich im Wind wiegt und zu tanzen scheint. Diese Bedeutungsebene verstärkt der Text, indem es heißt “Tú no puedes comprar al viento / Tú no puedes comprar al sol / Tú no puedes comprar la lluvia …” (dt.: Du kannst nicht den Wind kaufen / Du kannst nicht die Sonne kaufen / Du kannst nicht die Kälte kaufen usw.). Angespielt wird auf die postkoloniale Situation, unter der Lateinamerika nach wie vor leidet. So werden noch immer Rohstoffe, Bodenschätze und Land von Akteuren und Organisiationen aus den USA oder anderen Regionen der Welt aufgekauft, wodurch vielen Menschen vor Ort die Lebensgrundlage entrissen wird.

Ein weiteres wiederkehrendes Element, das auch als Rahmenhandlung des Musikvideos beschrieben werden kann, nicht zuletzt da es die erste und die letzte Szene determiniert, sind die beiden Brüder Peréz und Cabra, die in einer Radiostation gemeinsam das Lied performen. In diesem Sinne kann das Musikvideo als eine Mischung aus Performance-Clip, narrativem Clip, da durch die verschiedenen Alltagsszenen eine Geschichte erzählt wird, und – angesichts der Naturaufnahmen – illustrativem Clip beschrieben werden.

IV. Rezeption

Der Song wurde vom lateinamerikanischen Publikum sehr positiv aufgenommen und hat für nicht wenige Menschen den Status einer heimlichen Hymne Lateinamerikas. Bei der Verleihung der Latin Grammy Awards 2011 wurden Calle 13 mit ihrem Album Entren los que quieran in zehn Kategorien nominiert – sie gewannen neun Auszeichnungen (die Nominierung als Produzenten für Shakiras Album Sale el sol verloren sie gegen sich selbst bzw. ihr eigenes Album). Außerdem spielten sie ihren Song LATINOAMERICA zur Eröffnung der Preisverleihung. Inzwischen können Calle 13 19 Latin Grammys und zwei Grammys ihr Eigen nennen. Ihr Album Entren los que quieran stieg in den Billboard Charts in der Kategorie Latin Album im Dezember 2010 bis auf den sechsten Platz. Die ecuadorianischen Metalband AZTRA hat für ihr Album Raices Latinoamerica eine sechsminütige Coverversion des Liedes aufgenommen.

 

LOUISA DÖDERLEIN


Credits

Gesang: René Pérez Joglar (männlicher Part)
Gesang Refrain: Peruvian Susana Baca, Colombian Totó la Momposina and Brazilian Maria Rita
Musik: Eduardo Cabra und Rafa Arcaute
Songwriting: Rene Pérez
Schlagzeug: Ismael Cancel
Percussion: Héctor Barez, Marco Vinicio Oyaga
Ronroco: Gustavo Santaolalla
Kontrabass: David Van Hack
Bratsche: Edgard Marrero Cotte
Cello: José Daniel de Jesus
Geige: Yahaira Oneill, Arnaldo Figueroa
Bass: Jonathan González
Gitarre: Eduardo Cabra, Ernesto Snajer
Label: Sony Latin Music
Mixing: Circle House Studios Miami
Mastering: Zeitgeist Sound Studio, NY.
Aufnahme: Playbach Studio
Produktion: Eduardo Cabra, Rene Pérez, Rafa Arcaute
Release: 27. November 2011
Dauer: 4:58
Produktion Musivideo: Jorge Carmona & Milovan Radovic

Recordings

Calle 13 feat. Peruvian Susana Baca, Colombian Totó la Momposina and Brazilian Maria Rita. “Latinoamerica”. On: Entren los que quieran, 2011, Sony Latin Music, BPM, 88697 73431 2, USA (CD/Album).

References

  • “Calle 13 Cross Spanish Rap’s Musical Borders”. In: Latinrapper.com, 17 April 2007. URL: http://www.latinrapper.com/calle_13_interview.html [18.05.2017].
  • “Calle 13 Joins UNICEF to Campaign against Human Trafficking”. In: The Huffington Post, 21 November 2011. URL: http://www.huffingtonpost.com/2011/11/22/calle-13-unicef-human-trafficking_n_1108205.html [18.05.2017].
  • Flores, Juan: Foreward. What is all that noise about? In: Reggaeton. Ed. by Raquel Z. Rivera, Wayne Marshall and Deborah Pacini Hernandez. Durham, London: Duke University Press 2009.
  • Hickethier, Knut: Lexikon der Grundbegriffe der Film- und Fernsehsprache. In: Film- und Fernsehsprache. Texte zur Entwicklung, Struktur und Analyse der Film- und Fernsehsprache. Ed by Joachim Paech. Frankfurt a. M./Berlin/München: Verlag Moritz Diesterweg 1978, 45-57.
  • Junco, Maite: “Taste from 100-plus films screening at NYILFF”. In: Daily News, 23 July 2009. URL: http://www.nydailynews.com/entertainment/tv-movies/taste-100-plus-films-screening-nyilff-article-1.428680 [18.05.2017].
  • Marshall, Rivera, Pacini Hernandez: Introduction. Reggaeton’s Socio-sonic Circuitry. In: Reggaeton. Ed. by Raquel Z. Riviera, Wayne Marshall and Deborah Pacini Herandez. Durham, London: Duke University Press 2009, 1.
  • Rother, Larry: “Continuing Days of Independence for Calle 13”. In: New York Times, 8 April 2010. URL: http://www.nytimes.com/2010/04/11/arts/music/11calle.html?pagewanted=2&_r=1 [18.05.2017].

About the Author

Analysis written in a course of Prof. Dr. Fernand Hörner at the University of Freiburg.
All contributions by Louisa Döderlein

Citation

Louisa Döderlein: “Latinoamerica (Calle 13)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/latinoamerica, 06/2017.

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