KRISTALLNAACH ist ein politischer Song über Neofaschismus in Deutschland, der auch nach über 35 Jahren noch aktuell und populär ist. Der Song gehört zu den bekanntesten Songs der Band. Seit seiner Veröffentlichung 1982 steht der Song regelmäßig auf BAPs Konzertsetliste.
I. Entstehungsgeschichte
Wolfgang Niedecken hat den Song KRISTALLNAACH geschrieben. Ende der siebziger Jahre hatte sich der Musiker intensiv mit dem Thema Neofaschismus auseinandergesetzt, woraus der Song letztlich 1982 hervorgegangen ist.
Die Musikkultur in Deutschland befand sich zur Zeit der Veröffentlichung in einem starken Wandel. Vor den 1980er-Jahren gab es kaum deutschsprachige Populärmusik, die das heterogene Massenpublikum erreichte (vgl. Löding 2012). Ausnahmen waren einzelne Musikschaffende wie beispielsweise Udo Lindenberg, der zu einer genre- und szenenübergreifenden Musikentwicklung in Richtung Rock beigetragen hat (vgl. Wicke und Ziegenrücker 1985). Mit der Neuen Deutschen Welle haben sich Musikschaffende wie Herbert Grönemeyer, Wolf Maahn und eben auch BAP (weiter) in der Musiklandschaft etabliert und waren an dieser musikalischen Entwicklung beteiligt (vgl. Löding 2012). BAPs KRISTALLNAACH wurde im August 1982 veröffentlicht. Die Entstehung des Songs fällt damit in die Zeit dieser Musikentwicklung.
Auch gesellschaftlich hat während der Songveröffentlichung ein Wandel stattgefunden. KRISTALLNAACH kann zeithistorisch als Bestandteil einer Umbruchsphase bezeichnet werden (vgl. ebd.). In Westeuropa gründeten sich rechtspopulistische Parteien wie Front National in Frankreich und Lega Nord in Italien (vgl. Decker 2015: 58). Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) gab es zu dieser Zeit ebenfalls bereits; sie veränderte sich zu dieser Zeit in Richtung Rechtspopulismus (vgl. ebd.: 59). In Deutschland kam es außerdem zu immer mehr Gewalt und Verbrechen mit rechtsextremem Hintergrund (vgl. Pfahl-Traughber 2000: 81-85).
Der Song nimmt in der BAP-Bandgeschichte eine besondere Rolle ein. KRISTALLNAACH erschien auf dem Album Vun drinne noh drusse. Er wurde als Single am 24. August 1982 veröffentlicht und ist die einzige Singleauskopplung aus dem Album Vun drinne noh drusse. Eine Live-Übertragung im Rahmen der Sendung “Rockpalast” trug maßgeblich zum “endgültigen Durchbruch” der Band bei (vgl. Niedecken 2019). Die Band positionierte sich nicht nur mit dem Song KRISTALLNAACH politisch, sondern auch mit Auftritten, wie u.a. 1982 bei einem Konzert auf den Rheinwiesen in Bonn-Beutel, welches ein Zeichen gegen die Nachrüstung setzte (vgl. Niedecken 2019).
Viele der Songs von Vun drinne noh drusse stehen noch heute auf den Konzertsetlisten der Band. KRISTALLNAACH zählt zu den meistgespielten Livesongs der Band. Laut setlist.fm – einer Plattform zum Vergleich von Setlisten – soll KRISTALLNAACH, der insgesamt am zweithäufigsten live gespielten Song von BAP sein (vgl. setlist fm). Im Internet finden sich zahlreiche Videos zu dem Song. Darunter befinden sich diverse Mitschnitte von Liveauftritten aus unterschiedlichen Jahrzehnten.
II. Kontext
Der Song hat – durch seinen Namen KRISTALLNAACH – einen direkten Bezug auf die Reichspogromnacht in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Das nationalsozialistische Regime in Deutschland und Österreich hatte Gewaltmaßnahmen gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger organisiert und durchgeführt. Menschen wurden ermordet, Synagogen, Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe zerstört. Die Reichspogromnacht ist auch unter dem Ausdruck (Reichs-)Kristallnacht bekannt. Die Herkunft und Verwendung dieses Ausdrucks ist jedoch umstritten (vgl. Eitz / Stötzel 2007: 523-525). Er gilt als verharmlosend, zynisch und hämisch und wird dem NS-Sprachgebrauch zugeordnet (vgl. ebd.: 529). Deswegen hat sich inzwischen der Begriff “Reichspogromnacht” etabliert (vgl. ebd.: 529-530).
Auch 1982 war der Begriff “Reichkristallnacht” schon umstritten. Der Song KRISTALLNAACH sollte aber nicht auf die Reichspogromnacht 1938 referieren, sondern vor neuen Pogromen warnen (vgl. Löding 2012). Diese Interpretation lässt sich vom Songtext und der damals vorherrschenden politischen Situation ableiten. Mit Ausdrücken wie Geld, Gier und Profit spielt der Song auf den materialistischen Faschismus an (vgl. Löding 2012). Gleichzeitig hat er Ähnlichkeit mit politischen Songs aus den 1970er-Jahren, die sich u.a. in textlichen Eigenschaften äußern (vgl. Löding 2010) (siehe unten).
III. Analyse
Musikalisch arbeitet KRISTALLNAACH auf eine Klimax hin. Der Song steigert sich von tiefen, synthetischen Sounds bis hin zu einem fast chaotisch wirkenden finalen Durcheinander.
Der Song beginnt mit tiefen, lang gehaltenen Synthesizer-Sounds, die nach einer Weile durch einzelne ausklingende Akkorde der E-Gitarre ergänzt werden. Hinzu kommt Wolfgang Niedeckens Gesang in tiefer bis mittlerer Lage. Nach etwa 50 Sekunden fällt das Wort “Kristallnaach” zum ersten Mal. In einem Zwischenspiel nach der zweiten Strophe setzt die Bass-Drum im Grundschlag ein, wodurch der Song gleichsam Fahrt aufnimmt. Im Übergang zur vierten Strophe erklingt auf der Snare ein marschartiger Rhythmus, was eine ‘dramatische’ Steigerung bewirkt. Danach entwickelt sich der Song zu einer rockigen Uptempo-Nummer. In der Coda, die gleichzeitig die Klimax des Songs, also das große Finale, markiert, gibt die ekstatische Solo-Gitarre den Ton an. Die Snare geht wieder in den marschartigen Rhythmus über, wodurch das oben erwähnte finale Durcheinander entsteht. Der Song endet abrupt in einem verhallten Tutti-Klang.
Textlich operiert der Song im Medium des Politischen, was bereits durch den Songtitel ersichtlich wird. Gleichzeitig hat er aber auch deutliche poetische Anteile. Außerdem werden im Text Franz Kafka und Künstler wie Hieronymus Bosch genannt. Letzterer ist beispielsweise bekannt für seine Darstellungen gequälter Menschen und Höllenschlünde (vgl. Steinz 2016).
Die Textpräsentation wirkt sehr emotional. Die Stimme von Wolfgang Niedecken steht unter Spannung und knarzt leicht. Bereits der Text ist emotionsbeladen. Er beinhaltet viele sprachliche Bilder und Beschreibungen von fiktiven aber realitätsnahen Situationen. So singt Niedecken in der dritten Strophe über einen Zorro, welcher sich um nichts kümmere und auch nichts an seinem Leben oder seiner Umwelt ändere. Das wird in der Songzeile mit dem Bild “Der pisst höchstens ein Z in den Schnee (eigene Übersetzung und Transkription)“ untermauert. Sehr präsent sind der kritische Blick auf ökonomische Zusammenhänge und die entsprechenden Begrifflichkeiten, wie etwa Neid und Gier. Im Text werden diese Begriffe benutzt, um die vorherrschende Gewalt und deren Ursache (bspw. Gier) zu begründen (vgl. Löding 2012).
Der Text ist im Kölner Dialekt – Kölsch – verfasst. Ungewöhnlich ist das Fehlen eines Refrains. Der Text besteht aus sechs Strophen, die jeweils mit dem Wort “Kristallnaach” enden. Damit hat der Song keinen eigentlichen Refrain, sondern ein lediglich wiederkehrendes Wortelement. Den thematischen Kern des Textes bilden die NS-Vergangenheit Deutschlands, der damalige Umgang damit sowie die laut dem Verständnis des Interpreten vorherrschende potentielle Wiederholungsgefahr der Ereignisse.
Die Gliederung des Songs hat Ähnlichkeit mit politischen Liedern aus den 1960er- und 1970er-Jahren und erinnert an Songs von Bob Dylan (vgl. Löding 2012). Letzterer habe – laut Wolfgang Niedecken selbst – KRISTALLNAACH sowie weitere BAP Songs beeinflusst (vgl. Klotz 1999: 122-123).
IV. Rezeption
Der Song ist inzwischen über 35 Jahre alt. Das Album Vun drinne noh drusse schaffte es seinerzeit auf Platz eins der deutschen Charts. Der Song KRISTALLNAACH erreichte Platz 25. Auffällig war und ist, dass der Song nicht auf hochdeutsch, sondern im Kölner Dialekt gesungen wird. Das bietet zusätzlich eine Möglichkeit der Identifikation mit dem Song für Menschen des Kölner Raums oder Menschen, die sich diesem geographischem Raum und seinem Dialekt verbunden fühlen. Kurios ist hingegen, wie Niedecken selbst anmerkt, die Aufführungssituation, denn das Publikum singe mit, ohne weiter darüber nachzudenken, was hinter den Zeilen stecke (vgl. Klotz 1999: 149).
Mit der ersten Veröffentlichung 1982 wurde der Song bekannt. In den 1990er-Jahren griff die Band den Song erneut auf. Das explizite Ziel dabei war es, ein Zeichen gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass zu setzen, und zwar im Rahmen der Kölner Initiative Arsch huh, Zäng ussenander (vgl. Arsch huh 2019). Eine weitere Version des Songs stammt vom Rapper Samy Deluxe. Im Rahmen der Fernsehsendung Sing meinen Song – Das Tauschkonzert 2017 wurde eine neue Version aufgenommen. Diese Version ist auf hochdeutsch. Die grundlegende Nachricht hinter dem Text hat sich aber nicht verändert.
Eine weitere hochdeutsche Version hat Niedeckens BAP 2017 veröffentlicht. Dies fand im Rahmen des Projekts Demotapes zum Wahljahr 2017 statt. In diesem Kontext haben Musikschaffende Musik mit sozialer und politischer Relevanz gebündelt und (neu) veröffentlicht, mit dem Ziel, ein Statement für Demokratie, Toleranz, friedliche Vielfalt und fröhliche Wehrhaftigkeit zu setzen (vgl. Eichten 2019). Die Relevanz und der Grundgedanke von KRISTALLNACH bleiben so bis heute bestehen.
LENA BAUER
Credits
Guitar, Mandolin, Vocals: Klaus Heuser
Vocals, Liner Notes: Wolfgang Niedecken
Chorus: Birgit Van Der Most, Gunne Wagner, Ina Deter, Marianne Langfeldt
Bass: Steve Borg
Piano: Steve Borg
Percussion, Drums, Vocals: Manfred Boecker
Drums: Wolfgang Boecker
Keyboard, Vocals: Alexander Büchel
Strings: Frederike Zumach, Jens Oppermann, Steve Borg, Ulrike Kleine
Sound engineer, Percussion, Vocals: Hans Wollrath
Sound engineer: Helmut Rüßmann
Music/Songwriting: BAP, Wolfgang Niedecken
Producer: Helmut Rüßmann*
Label: Musikant (EMI)
Recorded: 1982
Published: 1982
Length: 4:56
Recordings
- BAP. “KRISTALLNAACH”. On: Vun drinne noh drusse, 1982, Musikant/EMI, 1C 064-46 639-A1, Deutschland (CD).
- Niedeckens BAP. “KRISTALLNAACH”. On: Die Beliebstesten Lieder Vol. 1 1976 – 1998., 2017, Universal Music, Vertigo/Capitol, 578 835 1, Deutschland (LP/Compilation).
References
- Armin Pfahl-Traughber, Armin: Der organisierte Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945. Zur Entwicklung auf den Handlungsfeldern Aktion, Gewalt, Kultur Politik. In: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz. Ed. By Wilfried Schubrath and Richard Stöss. Bonn 2000, pp. 71-100.
- Arsch Huh e.V.: Arsch huh (2019). URL: http://www.arschhuh.de/arschhuh/ [14.02.2019].
- bab.de. URL: https://www.bap.de/start/musik/geschichte [14.02.2019].
- Decker, Frank: Rechts- und Linkspopulismus in Westeuropa. In: Jahrbuch Extremismus und Demokratie (27 Jahrgang). Ed. by Uwe Backes, Alexander Gallus and Eckhard Jesse. Baden-Baden: 2015, pp. 57-72.
- Eichten, Torsten: Demotapes Projekt (2019). URL: https://www.demotapes.org/das-projekt/ [14.02.2019].
- Eitz, Thorsten/Stötzel, Georg: Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch. Hildesheim: Georg Olms 2007.
- Klotz, Jörg-Peter: Wolfgang Niedecken und BAP. In eigenen Worten. Heidelberg: Palmyra 1999.
- Löding, Ole: Deutschland Katastrophenstaat. Der Nationalsozialismus im politischen Song der Bundesrepublik. Bielefeld: transcript 2010.
- Löding, Ole: “…Täglich KRISTALLNAACH. Ns-Vergangenheit und bundesdeutsche Gegenwart in einem Song von BAP (1982) “. In: Zeithistorische Forschungen. URL: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2012/id%3D4589#pgfId-1036704 [14.02.2019].
- Setlist.fm. URL: https://www.setlist.fm/stats/bap-4bd60f92.html [14.02.2019].
- Steinz, Pieter: Die altniederländische Malerei. Bosch und Bruegel. In: Typisch Europa: Ein Kulturverführer in 100 Stationen. München: Albrecht Knaus 2016.
- Wicke, Peter und Ziegenrücker, Wieland: Rock – Pop – Jazz – Folk. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1985.
About the Author
Analysis written in a course of Prof. Dr. Fernand Hörner at the University of Applied Sciences Düsseldorf.
Citation
Lena Bauer: “Kristallnaach (BAP)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/kristallnaach, 12/2019.
Print