2014
Gentleman ft. Alborosie

Journey to Jah

2014 feierte der Dokumentarfilm Journey to Jah Premiere, dessen Protagonisten die europäischen Reggae-Künstler Gentleman und Alborosie sind. Der Film thematisiert einerseits die weit vorangeschrittene globale Verbreitung der jamaikanischen Popmusik, andererseits die Beweggründe internationaler Künstler, in die Kultur und Spiritualität der Karibikinsel einzutauchen. Der gleichnamige Titelsong, der als Kollaboration von Gentleman und Alborosie entstand, greift diese Themenkomplexe ebenfalls auf.

 

I. Entstehungsgeschichte

Die Geschichte des Films Journey to Jah reicht bis ins Jahr 2000 zurück, als der Regisseur Moritz Springer auf einer Äthiopien-Reise mit der Rastafari-Kultur in Berührung kam und anschließend auch in Deutschland mit Anhängern dieser Glaubensrichtung in Kontakt trat. Ihr Ursprung liegt auf Jamaika, wo sie für die dortige Kultur eine eminent wichtige Rolle spielt. So sei die Idee für einen Film entstanden, der Menschen auf der Suche nach Spiritualität in zunächst fremd erscheinenden kulturellen Kontexten porträtiert. Gemeinsam mit dem zweiten Regisseur Noël Dernesch konnte Springer den deutschen und auch auf Jamaika bekannten Reggae-Künstler Gentleman als Protagonisten für den Film gewinnen, der fortan mehrfach auf Reisen zur Karibikinsel begleitet wurde und der die Kontakte zu den weiteren Persönlichkeiten herstellte, die in der Produktion zu sehen sind – so auch zu dem in Italien geborenen und mittlerweile auf Jamaika lebenden Sänger Alborosie (vgl. Köhlings/Lilly 2014: 59). Der Song JOURNEY TO JAH wurde im Rahmen einer Kollaboration der beiden Künstler anlässlich des Dokumentarfilms erarbeitet, Teile des Entstehungsprozesses und der Aufnahmen sind in diesem dokumentiert. JOURNEY TO JAH ist mit dem zugehörigen Videoclip, in dem zahlreiche Ausschnitte des Films zu sehen sind, als Bonusmaterial auf der DVD enthalten, wurde jedoch nicht als eigenständige Single-Auskopplung veröffentlicht.

 

II. Kontext

Für die Genese der populären Musik sind interkulturelle Transferprozesse, die Aneignung, Weiterentwicklung und Reinterpretation musikalischer sowie textlicher Gestaltungsweisen seit jeher konstitutiv. So ist auch die Entwicklung der populären Musik Jamaikas von Bezugnahmen auf andere Stilbereiche der Popmusik bestimmt, sie wäre ohne ein dezidiert eklektizistisches Kunstverständnis vieler Musiker und Produzenten nicht denkbar. Mittlerweile stammen zahlreiche international bekannte Reggae-Musiker aus Europa, nicht selten sind diese auch auf Jamaika erfolgreich und kooperieren mit dort beheimateten Künstlern. Erstaunlich ist dies gerade im Falle von Musikern aus Nationen, in denen sich keine eigenständigen karibischen Communities herausgebildet haben, wie es aufgrund der kolonialen Vergangenheit beispielsweise in Großbritannien seit den 1950er Jahren zu beobachten ist. Zu diesen Ländern zählt auch Deutschland – Künstlern wie Gentleman ist es im Laufe der Zeit dennoch gelungen, sich Teile der jamaikanischen Kultur und Musik anzueignen und sich international Gehör zu verschaffen (vgl. ebd.: 72).

Mehr noch als der zweite Protagonist des Films Journey to Jah, Alborosie, gilt Gentleman als zentrale Figur im Kontext der Internationalisierung des Reggae und im Besonderen als treibende Kraft hinsichtlich der Popularisierung dieser Musik in Deutschland. In der medialen Berichterstattung wird Gentleman häufig als Reggae-Künstler präsentiert, der Jamaika bereits als Jugendlicher häufig bereiste und dem es auf diesem Wege möglich wurde, kontinuierlich ein Verständnis für die dortige Kultur zu entwickeln und sich als Künstler zu etablieren. Tatsächlich ist Gentleman mittlerweile ein weltweit erfolgreicher Sänger sowie Songschreiber und genießt einen Status, der zu Beginn seiner Karriere nicht für möglich gehalten wurde (vgl. Hautmann 2013: 61). Auch Alborosie wird zugestanden, trotz seiner europäischen Herkunft auf Augenhöhe mit jamaikanischen Künstlern zu agieren (vgl. Köhlings/Lilly 2012: 93) und sich insbesondere durch einen versierten sowie glaubwürdigen Umgang mit zahlreichen stilistischen Ausprägungen der populären Musik Jamaikas auszuzeichnen (vgl. Barsch 2013: 7). Hieraus werden die Gemeinsamkeiten beider Künstler deutlich, die als Protagonisten des Films gewählt wurden: Den europäischen Musikern scheint es augenscheinlich gelungen zu sein, intensive kulturelle Aneignungsprozesse zu durchlaufen und als Vertreter einer Kunstform internationale Erfolge zu feiern, deren Ursprünge fernab ihres eigenen Kulturraums liegen. Als zentrales Kriterium für derlei interkulturelle Transfer- und Aneignungsprozesse im Kontext populärer Musik kann die Fähigkeit angesehen werden, bestehende Formen künstlerischer Äußerungen aufzugreifen, diese jedoch zur Kreation eigenständiger Kunst zu nutzen, um anschließend wiederum neue Anknüpfungspunkte zur Verfügung stellen zu können (vgl. Köhlings/Lilly 2014: 61). Gerade auch im Diskurs um die Internationalisierung des Reggae haben solche Ansichten Bestand: Es sei schließlich nicht zielführend, als in der Mittelschicht einer wohlhabenden Industrienation sozialisierter Europäer die eigene postkoloniale Sehnsucht nach Afrika zu besingen und sich als Teil eines ‘schwarzen’ Befreiungskampfes zu stilisieren. Vielmehr müsse eine eigene künstlerische Identität geschaffen werden, die den Blick auf jamaikanische Vorbilder – die derlei Themen regelmäßig behandeln – zwar nicht scheue, aber von schlichten Kopien der Originale absehe (vgl. Karnik/Philipps 2007: 170).

Die inhaltlichen Schwerpunkte des Dokumentarfilms Journey to Jah sind im Spannungsfeld solcher Themen angesiedelt. Zur Debatte stehen Fragen nach den Ergebnissen interkultureller Transferprozesse, ferner solche nach den Grenzen der Adaptierbarkeit, beispielsweise nach den Möglichkeiten der europäischen Aneignung spiritueller Inhalte des Rastafari-Glaubens (vgl. Köhlings/Lilly 2014: 59). Gemäß der ursprünglichen Intention Moritz Springers ist die Frage zentral, welche Auswirkungen das Eintauchen in eine ‘fremde’ Kultur und die Konfrontation mit der entsprechenden Spiritualität nach sich ziehen können. Der Song JOURNEY TO JAH ist in dieses Gesamtkonzept eingebettet, der Songtext widmet sich daher der spirituellen Suche nach Jah – d.h. Gott – und der kulturellen Grenzüberschreitung. In der Tat benennen beide Künstler im Verlauf des Films die Spiritualität als einen Grund für ihr Interesse an der jamaikanischen Kultur. Gentleman betonte überdies bereits in einem 2006 geführten Interview, in seinem Verständnis habe Musik eine dezidiert spirituelle Dimension und er habe mit seiner Kunst stets das Ziel verfolgt, Grenzen aufzubrechen (vgl. Karnik/Philipps 2007: 127).

 

III. Analyse

JOURNEY TO JAH ist stilistisch dem Modern Roots zuzuordnen, einer zum Teil mit digitalen Sound-Effekten angereicherten und rhythmisch bisweilen leicht modifizierten neueren Variante des Roots Reggae der 1970er-Jahre. Der Song weist eine Länge von 3:25 Minuten auf, das Tempo beträgt ca. 80 bpm, das tonale Zentrum ist a-Moll. Die Instrumentierung setzt sich zusammen aus Schlagzeug, E-Bass, E-Gitarre, Piano, einem Saxophonsatz und einer Synthesizer-Stimme, die verschiedene Effekte beisteuert. Hinzu treten die Gesänge Gentlemans und Alborosies sowie mehrere Background-Sängerinnen. Der formale Ablauf konstituiert sich im Wesentlichen aus dem wechselseitigen Erklingen der achttaktigen Strophe und des ebenso lang andauernden Refrains, gelegentlich finden sich viertaktige Instrumentalpassagen. In den Strophen wird durchgehend Am gespielt, im Refrain hingegen die Harmoniefolge Am ǀ F Em. Die Strophen werden nacheinander je zur Hälfte von beiden Sängern bestritten, im Refrain erklingen die einzelnen Parts im raschen Wechsel. Die vokale Gestaltung zeichnet sich durch die Interaktion der Sänger aus, deren Stimmen sich vor allem hinsichtlich der Rauheit deutlich unterscheiden. Alborosies Stimmgebung ist sehr rau, nasal und durch Subharmonics gekennzeichnet, was nicht auf Gentlemans Stimme zutrifft. Im insgesamt sprechnahen Vortrag beider Sänger kommen verschiedene charakteristische Facetten des Reggae-Gesangs zum Vorschein, neben der Rauheit Alborosies setzt Gentleman im Refrain beispielsweise typische Falsettsprünge ein.

Die genannten thematischen Schwerpunkte des Films werden schließlich im Songtext verhandelt, der eine auf spirituellen Fragen basierende Reise skizziert. Die erste Strophe beschreibt ein Streben nach Aufbruch, ein persönliches Umdenken, um sich neuen Zielen widmen zu können, da die tägliche Hingabe keine Früchte zu tragen beginne (“Hundred percent devotion and you never give no less / And everyday you’re surrounded by stress”). Im anschließenden Refrain wird der Start der spirituell motivierten Reise besungen, im Rahmen derer es Grenzüberschreitungen zu forcieren und das Göttliche als leitendes Element zu betrachten gelte (“Crossing border, divine is the order / Now I’m on my journey, on my journey to Jah Jah”). Die zweite Strophe illustriert einen Zustand, in dem spirituelle Fragen im gewohnten Umfeld unbeantwortet bleiben, woraus sich als logische Konsequenz wiederum die Suche nach Inhalten in anderen Kontexten anbiete. Der Text dieser Strophe schließt an Äußerungen Gentlemans hinsichtlich seines eigenen Werdegangs an, der in dem bereits erwähnten Interview äußerte: “Musik war für mich immer auch ein spirituelles Ding, wo ich Wahrheit finden konnte. Was irgendwann in der Kirche aufgehört hat, habe ich dann im Reggae wiedergefunden” (Karnik/Philipps 2007: 127). Infolgedessen betont Gentleman in der dritten Strophe, Entscheidungen über die eigene Spiritualität müssten selbstbestimmter Natur sein. Auf diesem Wege sei letztlich geistige Freiheit zu erlangen, für die sich ein Blick über die Grenzen der vertrauten Kultur lohne (“Modern wisdom, ancient philosophies / It’s your decision and you choose who you want to be”). Der Part Alborosies plädiert schließlich für eine zukunftsgewandte spirituelle Haltung, die sich nicht ausschließlich auf Vergangenes beziehe, sondern Bestehendes weiterentwickle und tiefergehende Erkenntnis verspreche (“In a constant search of your lost identity / Look up ahead and you will see”).

Gentleman und Alborosie artikulieren die genannten Themenkomplexe rund um die Internationalisierung jamaikanischer Popmusik und die Aneignung spiritueller Inhalte in komprimierter Form. Die Künstler formulieren, sich angetrieben von spirituellem Erkenntnisinteresse auf die Inhalte einer zunächst fremd erscheinenden Kultur eingelassen, die dortigen Konventionen jedoch nicht schlichtweg reproduziert zu haben. Besonders die dritte Strophe reflektiert das übergeordnete Ziel, im Rahmen kultureller Aneignungsprozesse auch Weiterentwicklungen zu fokussieren, um zukünftige Anknüpfungspunkte schaffen zu können. Hier bietet sich die erwähnte Erwartungshaltung hinsichtlich des internationalen Reggaes als Referenz an: Die Erwartungen können erfüllt werden, sofern die Kreation einer eigenen künstlerischen Identität fernab unreflektierter Kopien als gelungen gilt – ein Verdienst, das sowohl Gentleman als auch Alborosie attestiert wird. In JOURNEY TO JAH spiegeln sich folglich zentrale Bausteine des Diskurses um die Internationalisierung jamaikanischer Popmusik, wenngleich die Suche nach spiritueller Erfüllung das übergeordnete Thema des Songtextes ist.

Die im Song- und Filmtitel genannte Reise ist schließlich auch ein zentrales Element des Videoclips: Dieser beginnt mit Aufnahmen, die aus einem Flugzeug heraus das Ankommen auf Jamaika zeigen. Während der Großteil des Clips Ausschnitte aus dem Film versammelt, geht die Reise am Ende wieder zurück nach Deutschland. Dort führen Gentleman und Alborosie JOURNEY TO JAH auf der Hauptbühne des Kölner Summerjam-Reggae-Festivals auf. Dieses besteht seit 1986 und hat sich mittlerweile zu einem Großereignis mit jährlich über 30.000 Besuchern entwickelt, wohlgemerkt tausende Kilometer entfernt von Jamaika – die letzten Szenen des Clips sind somit programmatisch für den Dokumentarfilm und den Song JOURNEY TO JAH.

 

IV. Rezeption

Da JOURNEY TO JAH nur auf der DVD des gleichnamigen Dokumentarfilms veröffentlicht wurde, beziehen sich die öffentlichen Reaktionen vorwiegend auf den Film, in dessen Kontext der Song jedoch untrennbar eingebunden ist. Zudem bewirkte der Kinofilm, dass die Reggae-Thematik auch von Medienvertretern aufgegriffen wurde, die sich dieser Musik für gewöhnlich nur selten widmen. So finden sich neben fachnahen Rezensionen (Philipps 2014) auch Besprechungen in bekannten und überregionalen Medien wie dem Tagesspiegel (Müller 2014) oder auf den Internetseiten des Schweizer Radio und Fernsehen (Wyrsch 2014), die erwartungsgemäß einer tiefergehenden analytischen Betrachtung entbehren und den Song JOURNEY TO JAH nicht thematisieren, sich jedoch weitestgehend wohlwollend zur Umsetzung des Films äußern.

 

BENJAMIN BURKHART


Credits

Vocals: Gentleman, Alborosie
Songwriting: Gentleman, Alborosie
Label: good!movies, Zorro Medien
Recorded: 2013
Published: 2014
Length: 3:25

Recordings

Gentleman ft. Alborosie. “Journey to Jah”. On: Journey to Jah, 2014, Zorro Medien, Germany (DVD).

References

  • Barsch, Volker: Alborosie. The Vintage Godfather. In: Riddim 5 (2013), 7.
  • Hautmann, Markus: Gentleman. Memories. In: Riddim 3 (2013), 60–63.
  • Karnik, Olaf/Philipps, Helmut: Reggae in Deutschland. Köln: KiWi 2007.
  • Köhlings, Ellen/Lilly, Pete: The Evolution of Reggae in Europe with a Focus on Germany. In: Global Reggae. Ed. by Carolyn Cooper. Kingston: Canoe 2012, 69–93.
  • Köhlings, Ellen/Lilly, Pete: Journey to Jah. Mehr Fragen als Antworten. In: Riddim 1 (2014), 59–61.
  • Philipps, Helmut: Journey to Jah. In: Riddim 6 (2014), 92.

Links

  • Müller, Andreas: “Dokumentarfilm: ‘Journey to Jah’. Die Reggae-Stars Gentleman und Alborosie in Jamaika”. In: Der Tagesspiegel. Artikel vom 23.03.2014. URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/dokumentarfilm-journey-to-jah-die-reggae-stars-gentleman-und-alborosie-in-jamaika/9651914.html [06.09.2015].
  • Wyrsch, Georges: “Reggae-Doku ‘Journey to Jah’: Dreadlocks und der Sinn des Lebens”. In: Schweizer Radio und Fernsehen. Artikel vom 19.03.2014. URL: http://www.srf.ch/kultur/film-serien/reggae-doku-journey-to-jah-dreadlocks-und-der-sinn-des-lebens [06.09.2015].

Films

  • Journey to Jah. Directors: Noël Dernesch, Moritz Springer. Zorro Medien, 2014 (DVD).

About the Author

Benjamin Burkhart is senior scientist at the Institute for Jazz Research at the University of Music and Performing Arts Graz.
All contributions by Benjamin Burkhart

Citation

Benjamin Burkhart: “Journey to Jah (Gentleman ft. Alborosie)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/journeytojah, 10/2018.

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