1994
IAM

Je danse le Mia

IAM gilt als eine der renommiertesten Rap-Gruppen Frankreichs. Seit ihrem Debut …de la planète Mars von 1991 haben sie insgesamt fünf Studioalben veröffentlicht, aber auch eine Reihe von Solo-Projekten der einzelnen Künstler. Für das Kürzel IAM wurden im Laufe ihrer Bandgeschichte mehrere Bedeutungen in Umlauf gebracht, wie etwa “Invasion arrivant de Marseille”, “Indépendantistes Autonomes Marseillais” und “Imperial Asiatic Men”. Ihr mit Abstand auch kommerziell erfolgreichster Song JE DANSE LE MIA zelebriert die funkaffine Diskothekenkultur der 1980er Jahre und lässt im Videoclip eine mythische Figur der Popkultur Marseilles wiederauferstehen.

I. Entstehungsgeschichte

Zu IAM gehören die Rapper Akhenaton, mit bürgerlichem Namen Philippe Fragione, und Shurik’n, alias Geoffrey Mussard. Dazu gesellen sich DJ Khéops, der Musikproduzent Imhotep, der Tänzer und Gelegenheitsrapper Freeman sowie der künstlerische Berater Kephren. JE DANSE LE MIA wurde von IAM im Januar 1994 aufgenommen. Die Raps stammen ausschließlich von Akhenaton, der den Text auch verfasst hat. Die Regie für das dazugehörige Musikvideo übernahm Michel Gondry, der später durch Clips für Björk und The Rolling Stones wie auch durch Spielfilme international bekannt wurde.

II. Kontext

Der Song JE DANSE LE MIA wurde von IAM und ihrer Plattenfirma auserkoren, um die kostspielige Produktion des Doppelalbums Ombre est Lumière wieder einzuspielen. Es existieren drei Versionen von JE DANSE LE MIA. Im Vergleich mit der Albumversion fällt auf, dass nur die Radioversion die eingängige Melodie besitzt, die dem internationalen Diskofunkhit “Give me the Night” von George Benson entnommen ist. Mit diesem Sample erfüllten IAM die Vorgabe der Plattenfirma, die ursprüngliche Version radiotauglich zu überarbeiten (Deroin 1996: 77). Zudem sollte als Werbegag der Bezug des Liedes zur Heimatstadt der Rapper gestärkt werden. Nachdem diese Vermarktungsstrategie aufgegangen war, wurde für die Erfolgsmaxi die Version L’ultra Mia eingespielt, mit Sprechgesang im südfranzösischen Dialekt.

III. Analyse

JE DANSE LE MIA setzt Marseiller Diskotheken ein Denkmal, die in den 1980er Jahren Funkmusikabende für Jugendliche anbieten, denen aufgrund ihrer Herkunft der Eintritt zu regulären Clubs verwehrt blieb. Der Song erzählt in ironischer Manier von proletenhaften Diskogängern, die mit offenem Hemd und Goldkette zu amerikanischer Funkmusik tanzen und um Mädchen werben. Der Text lässt offen, ob es sich beim Mia um einen speziellen Tanz handelt oder um die Figur des Tänzers. Auch in zeitgenössischen Interviews legte sich Akhenaton auf keine Deutung des von ihm erfundenen Begriffes fest: Mal verstand er den Mia als Silbendrehung von “ami”, dann als jene von IAM (vgl. Davet 1998). In einer detailreichen Songanalyse hat der Musikwissenschaftler Jean-Marie Jacono den Mia etwa als nostalgischen Versuch gedeutet, über Tanz und Musik ein generationenspezifisches Universum zu rekonstruieren, in dem die Verbindung zu Marseille eine geringe Rolle spiele (vgl. Jacono 2004).

Der Erfolg des Liedes beruht zu großen Teilen auf dem Videoclip, in welchem Michel Gondry den Mia als kulturelle Figur versteht und verschiedene Mia-Typen erschafft. Akhenaton rappt etwa mit Schnauzbart und Lederjacke neben der Tanzfläche, auf welcher sich Freeman im Trainingsjacken-Outfit gekonnt um die eigene Achse dreht. Als hätte Gondry es darauf angelegt, den Liedtext eins zu eins in Bilder zu übersetzen, sitzen die Mitglieder von IAM im Renault 12 mit frottébekleidetem Lenkrad, tragen Ray Ban Sonnenbrille und Nackenpony, allesamt Attribute des Mia. Auffällig am Videoclip ist eine kurze Sequenz, die sich von der Diskoszenerie des Textes löst und eine Kneipenrunde von Männern zeigt, denen der wiederkehrende Chorus “Je danse le Mia” in den Mund gelegt wird, während sie sich ein Glas vom Marseiller Pastis einschenken lassen. Indem der Videoclip das Sprachsample “On français on dit guinche” diesem Kneipenmilieu zuordnet und es durch den Barmann mitsprechen lässt, wird auf einen Allgemeinplatz der Marseiller Popkulturgeschichte rekurriert. Denn das kurze Sample stammt aus dem Film Marius von Marcel Pagnol, dessen Marseille-Trilogie in den 1920er Jahren das Klischee einer idyllischen und exotischen Stadt etabliert, deren Bewohner in Kneipen rumhängen und sich wild gestikulierend und mit starkem Akzent unterhalten. Der vielzitierte Hang des Marseillers zur Wichtigtuerei und Großmäuligkeit fand sogar Eingang in seriöse Lexika – so bescheinigt ihm etwa das Dictoinnaire Littré von 1957 sinngemäß eine “umwerfende Exaltiertheit”. Auch Neuverfilmungen von Pagnols Werken in den 1990er Jahren und eine fortwährende Zitation der Trilogie – wie etwa im Asterix-Comic Tour de France – trugen ihren Teil dazu bei, dass der fremdartige Prahler und Kneipengänger weiterhin als typischer Vertreter der Marseiller Bevölkerung gilt. Somit stellt Gondrys Videoclip IAM und ihren Mia in eine Genealogie von Marseiller Witzfiguren, die seit Jahrzehnten in Komödien und Sketchen auftreten und sich als solche beim französischen Publikum großer Beliebtheit erfreuen.

IV. Rezeption

JE DANSE LE MIA wird zur bis dato erfolgreichsten Single der französischen Rapmusik. Mehrere Wochen stand sie an der Spitze der Top 50 und beschallte als Sommerhit Hochzeiten und Volksfeste. Die Single wurde insgesamt 600 000 Mal verkauft und der Videoclip lief im Musikfernsehen auf Heavy Rotation. Der Mia wurde daraufhin zu einer Pop-Ikone der Stadt: In Theaterstücken und Dokumentarfilmen zu Marseille hielt der Mia Einzug, aber auch in den Kriminalromanen von Jean-Claude Izzo, dessen Beschreibungen des Mia wortwörtlich dem IAM-Text entnommen sind. In den erfolgreichen Wörterbüchern zum Marseiller Slang, die im Zuge des Hits neu aufgelegt wurden, gilt der Mia als ein Verwandter des Càcou, der schon in älteren Nachschlagewerken als Hochstapler und Angeber beschrieben wird und in seiner Unbeholfenheit möglichst cool erscheinen zu wollen, nicht selten Anlass zur Belustigung gibt. Bald fanden die Rapper von IAM an ihrem Image als Gruppe von Marseiller Spaßvögeln keinen Gefallen mehr. Zudem sahen sie sich, angesichts ihres kommerziellen Erfolges, Sell-Out Vorwürfen aus der HipHop-Szene ausgesetzt. Alle Vorschläge, einen zweiten Teil von JE DANSE LE MIA einzuspielen, schlugen sie ebenso aus, wie das Angebot auf Kompilationen der erfolgreichsten Hits des Jahres zu erscheinen. Mit dem kurz darauf veröffentlichten Song “Je reste underground” machten sie sich daran, ihr ramponiertes Image in der französischen Rapszene aufzubessern. Auch ihr nächstes Album L’école du micro d’argent von 1997 verzichtete auf gutgelaunte Party-Songs und stellte sich stattdessen in die Tradition eines härteren und düsteren Sounds der US-amerikanischen Ostküste. Der französische Musikjournalist Olivier Cachin nannte es bezeichnenderweise ein “album quasi anti-Mia”. Zu einem Kassenschlager wurde das nunmehr HipHop-treue Album trotzdem: noch am Tag seiner Erscheinung erlangte es Gold-Status; eine Sell-Out Diskussion blieb diesmal aus. Es sollte insgesamt 13 Jahre dauern, bis sich IAM mit JE DANSE LE MIA wieder anfreunden sollten. Erst dann nahmen sie den Song wieder in ihr Live-Programm auf.

 

DANIEL TÖDT


Credits

Raps: Akhenaton
Beats, Scratching: IAM
Produzent: Dan Wood
Veröffentlichung: 1994
Länge: 4.39 (Single Version)
3.56 (Music Video)

Recordings

  • IAM. “Je danse le Mia”, Ombre est Lumière, 1994, Delabel, DE 7243, Frankreich (2xCD/Album).
  • IAM. “Je danse le Mia (Le terrible Funk Remix)”, Je danse le Mia, 1994, Delabel, DE 923422 Frankreich (CD/Maxi).
  • IAM. “Je danse le Mia”, Au Coeur d’IAM, 2004, EMI Music Video, 72435983190 9, Frankreich (DVD).
  • IAM. “Je reste underground”, Ombre est Lumière, 1994, Delabel, DE 7243, Frankreich (2xCD/Album).
  • IAM. L’école du micro d’argent, 1996, Delabel, 724384400026, Frankreich (CD/Album).
  • George Benson. “Give Me The Night”, Give Me The Night, 1980, Warner Bros. Records, HS 3453, USA (LP/Album).

References

  • Davet, Stéphane: “Le tchatche des rappeurs marseillais”. In: Le Monde, 09. August 1998.
  • Deroin, Didier et al.: IAM. Le livre. Toulon: Soleil Productios – Plein Sud 1996.
  • Jacono, Jean-Marie: “Ce que révèle l’analyse musicale de rap: l’example de Je danse le mia d’IAM”. In: Volume ! 3/2 (2004), 43-53. URL: http://volume.revues.org/1951 [26.11.2012].
  • Tödt, Daniel: Vom Planeten Mars. Rap in Marseille und das Imaginäre der Stadt. Münster: LIT Verlag 2012.

Films

  • Marius. Regie: Alexander Korda. Drehbuch: Marcel Pagnol. Paramount, 1931.

Links

  • Band-Homepage: http://www.iam.tm.fr/iam/iam.html [26.11.2012].
  • Band-Blog: http://groupe-iam.blogspot.de/ [26.11.2012].

About the Author

Daniel Tödt (M.A) works as a research assistent in the project "Politische Repräsentation in transnationalen Räumen afrikanischer Moderne" at the special research area "Repräsentationen sozialer Ordnung im Wandel" at the Humboldt University Berlin.
All contributions by Daniel Tödt

Citation

Daniel Tödt: “Je danse le Mia (IAM)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/jedanse, 08/2012 [revised 10/2013].

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