1990
Toto Cutugno

Insieme: 1992

Italiens zweiter Sieg beim Grand Prix de la Chanson de l’Eurovision besingt 1990 nicht zufällig eine entscheidende Etappe der europäischen Einigung, die Verträge von Maastricht. War Italien doch Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaft und folglich auch beim allerersten Grand Prix 1956 dabei gewesen. Und geradezu einschneidend sollte die Öffnung Europas auch für den Wettbewerb selbst werden, der bis heute als Eurovision Song Contest überdimensional gewachsen ist.

I. Entstehungsgeschichte

Toto Cutugno war 1990 ein europaweit bekannter Exponent der italienischen Canzone, der schon 1980 mit “Solo noi” das Festival von San Remo gewinnen konnte und spätestens mit “L’Italiano” 1983 einen großen Hit in ganz Europa landete. Dass er nach Zagreb zum “Eurofestival”, wie die Italiener den Grand Prix damals nannten, entsandt wurde, verwundert nicht, bedenkt man, dass Italiens bedeutendste Pop-Exporte dort bereits vor ihm aufgetreten waren: Ricchi e Poveri, Matia Bazar, Alice, Al Bano & Romina Power, Umberto Tozzi u.a. INSIEME: 1992 ist eine Komposition, die Cutugno selbst speziell für den Wettbewerb anfertigte. Somit wurde er auch zum ersten Interpreten, der als Texter und Komponist für sein Lied den für diese beiden Kategorien vergebenen Siegespreis persönlich entgegennehmen konnte.

II. Kontext

In mehrfacher Hinsicht war der Grand Prix in Zagreb und damit zum allerersten Mal – nach dem Vorjahressieg Jugoslawiens – in einem Land des kommunistischen Blocks, durchaus etwas Besonderes. Das Wende-Jahr 1990 inspirierte die Musikschaffenden Europas zu einer ganzen Reihe von politischen Beiträgen. Österreich sang von “Keine Mauern mehr”, Norwegen besang das “Brandenburger Tor”, Ralph Siegel komponierte für Deutschland “Frei zu leben”. Die Ereignisse in Osteuropa waren nicht spurlos an den Komponisten vorüber gegangen. Daneben gab es die klassischen Euroballaden wie Großbritanniens “Give a little love back to the world”, die aber zum Teil auch auf den Gedanken der zunehmenden Freizügigkeit zurückgriffen, so etwa der zweitplatzierte irische Beitrag “Somewhere in Europe”. Zudem begann eine ganz entscheidende Richtungsänderung im Grand Prix zu greifen: der französische, ebenfalls zweiplatzierte Beitrag, von Serge Gainsbourg komponiert, präsentierte die karibische Sängerin Joëlle Ursul, die ungewohnte ethnische Klänge mit ihrem White & Black Blues darbot, die Spanierinnen Azucar Moreno stellten mit “Bandido” einen zeitgenössischen Flamenco vor.

Italien hatte nach einer kurzen Durststrecke zu Beginn der 80er Jahre zwar noch Ambitionen auf vordere Plätze beim Wettbewerb, an das in Italien als Straßenfeger etablierte Festival von San Remo konnte der “gran premio dell‘Eurovisione” allerdings nie heranreichen. Hinzu kam, dass 1988 mit Luca Barbarossa (Platz 12) und 1989 mit dem Duett Ana Oxa und Fausto Leali (Platz 9) nur mäßige Platzierungen erreicht worden waren. Bezeichnend ist, dass nach Cutugnos Sieg Italien nur noch vier Mal in den 90er Jahren am Wettbewerb teilnahm und diesem bis zum furiosen Neueinstieg 2011 (mit einem zweiten Platz) fernblieb. Allein 1964 war ihnen ein Sieg geglückt (Gigliola Cinquetti mit “Non ho l’età”) und der verantwortliche Sender der RAI konnte sich zudem auch nie zu einem wettbewerbsbegleitenden Promotion-Programm durchringen, da auch hier das Festival von San Remo kein Konkurrenzprodukt in Form einer wie auch immer gearteten Vorentscheidung zuließ. Dass Modugnos Welthit “Nel blu dipinto di blu” dereinst (1958) nur auf dem dritten Platz gelandet war, mag bis in die 80er Jahre hinein auch die italienischen Musikexperten in ihrer nicht besonders guten Meinung vom Eurofestival bestärkt haben, das in Italien tatsächlich, auch im Gegensatz zu Frankreich und Spanien eine untergeordnete Rolle spielte und selbst in dem Land des politischen Postenschachers und der Politisierung des Alltag (“lottizzazzione”) keine vordergründige, repräsentative Rolle hinsichtlich der nationalen Selbstpositionierung spielte.

III. Analyse

Der zweiteilige Titel verortet das Lied als typischen Beitrag zum Grand Prix d’Eurovision, als sogenannten “Eurosong”. “Insieme” (dt. zusammen) deutet auf eine Hymne hin, die der Nationalrepräsentation entspringen könnte. Einer National- oder Parteihymne gleich ruft “Insieme” zum Miteinander auf. Der Zusatz “1992” verweist im Jahr 1990 auf ein konkretes politisches Ereignis, das das Miteinander deutlich nuanciert: es geht um den dem Wettbewerb inhärenten Europagedanken, der durch die für 1992 ausgehandelten Verträge von Maastricht einen entscheidenden Schritt nach vorne gehen soll: Keine Grenzen mehr und das im Jahr des Umbruchs in Osteuropa.

“1992” taucht im gesungenen Lied gar nicht auf, stattdessen wird hier im italienischen Text im Refrain auf Englisch “United United Europae”, also die Glorifizierung des vereinten Europas verkündet. Dass der, das Englisch von Toto Cutugno nicht gewöhnte, Zuhörer eher “Unite Unite Europe” und damit ein Plädoyer für das noch zu vollbringende Werk der Gemeinschaftsstiftung vernimmt, gibt dem Lied eine interessante zusätzliche Stoßrichtung. Die Refrainzeile “Insieme – United United Europe” wird anfangs vom Chor intoniert, bevor Toto Cutugno begleitet von einem großen Orchester das Wort ergreift, bei dem das Schlagzeug im Fünfvierteltakt dominiert.

Das Sänger-Ich nimmt langsam und elegisch-getragen von Anfang an einen Dialog auf mit einem Du (“con te”), einem verloren gegangen geglaubten Freund (“amico che credevo perso”), mit dem er einen gemeinsamen Traum teilt (“sotto lo stesso sogno”). Italien in Gestalt von Cutugno spricht also hier zu jedem einzelnen Mitbürger und die Glaubwürdigkeit dieser Zeilen lebt auch sehr von dem Bild, das Toto Cutugno durch seinen Hit “L’italiano” in der europäischen Öffentlichkeit innehat: das des prototypischen Italieners – auch wenn “L’italiano” eher satirisch gemeint war und in die Tradition eines Bruce Springsteen und dessen ebenso kritisch zu lesendem “Born in the U.S.A.” zu stellen wäre.

Die zweite Strophe setzt die Nutzung von Stereotypen fort und knüpft fast schon in bester petrarkistischer Manier an das aus dem Munde eines Italieners besonders glaubwürdige Frauenlob an. Die Frau ohne Grenzen (“donna senza frontiere”), die das Sänger-Ich umwirbt, wird in Zukunft unter den gleichen Flaggen (“sotto le stesse bandiere”) und unter dem gleichen Himmel (“sotto lo stesso cielo”) leben. Während hier die Assoziation zur europäischen Flagge mit ihren Sternen naheliegt, die den Himmel symbolisieren könnten, erinnert dieser Liebesdiskurs mit Augenzwinkern durchaus an die italienischen Gastarbeiter und ihre Beziehungen zu Frauen des Gastlandes, die ihnen nur zu deutlich vor Augen geführt hatten, wie sehr sie als Ausländer in der Gastgesellschaft lange Zeit nicht so gerne gesehen waren.

Der Refrain setzt nach den eher langsam und leise vorgetragenen Strophen äußerst lautstark und mit voller Inbrunst ein. Die Hymne wird zum Freiheitsgesang, was schließlich eine ganze Kette von Traditionslinien eröffnet. Es wird das Motiv der ersehnten Freiheit in Form eines Realitätsversprechens (“non è più un sogno”) ausgesprochen: “sempre più liberi noi” (für immer freier), so wie auch das Miteinander die Einsamkeit beendet. Das Motiv vom Glück mit den Flügeln, vom gemeinsamen Fliegen, erhält zudem eigengeschichtliche Referenz auf einen italienischen Wettbewerbsbeitrag, durch die Analogie zu Italiens berühmtestem Grand-Prix-Lied, Domenico Modugnos Welthit “Nel blu dipinto di blu”, berühmt geworden unter der Titelzeile des Refrains “Volare”. Auch dort wird das Fliegen besungen. Wer auf der größten Bühne Europas von einem nicht mehr fernen Europa (“L‘Europa non è lontana”) singt, der versucht, und der Versuch war wohl sehr erfolgreich, wie der Wettbewerbsgewinn zeigt, Europa in diesem Moment zumindest emotional zu einen. Dass er hinzufügt, dass es sich um ein italienisches Lied für seine Zuhörer handelt (“c’e una canzone italiana…Per voi”) unterstreicht nochmals die Widmung seines Liedes an alle Europäer, für die er gleichsam eine zeitgemäße Europahymne vorträgt.

Das europaweit bekannte Arsenal von literarischen Topoi wird in einer weiteren Strophe fortgesetzt mit tausend Geigen am Himmel (“nel cielo mille vilioni”), mit der grenzenlosen Liebe (“amori senza confini”) und in das Du übergeführt. Er singt von den gleichen Idealen (“sotto gli stessi ideali”), den identischen Zielen. Die folgende Refrainpassage wird leicht verändert dargeboten und der Zustand der Gemeinsamkeit hierin als bereits hergestellt unterstrichen: Es handele sich schon nicht mehr um einen Traum (“non è più un sogno”) und es habe sich bereits das eingeforderte (“Dammi una mano”) Miteinander hergestellt (“noi non siamo più soli”), was dem Lied eine organische Entwicklung verleiht.

Die größere Einheit (“più uniti”), die zweifellos der Vertrag von Maastricht mit dem Abbau der Grenzen herstellen konnte, wird in einem variierten Refrain erneut mit dem Bild des Fliegens verbunden (“vedrai ché voli”). Einer rosigen Zukunft steht dabei nichts im Weg. Das Fliegen symbolisiert das Durchstarten, genauso aber assoziiert es sexuelle Erfüllung. Die Parallelisierung von privatem Glück und politischem Glück gelingt in dieser Hymne sehr gut. Schließlich wird abschließend auch die gemeinsame Fahne (“le nostre stelle una bandiera sola”) erwähnt, die Freiheit nochmals beschworen und die gemeinsame Stärke (“più forti”) untermauert. Die politische Wendung des Liedes wird eindeutig und mündet sogar in einen “protocommunitären” Patriotismus.

Italiens Beitrag (“una canzone italiana”) zur europäischen Einigung ist insofern auch eine Selbsteinlösung, da das kulturelle Erbe der Canzone, also der Gattung selbst, durchaus sich feiert als Bereicherung der europäischen Gemeinsamkeit. Das Motto der Einheit in der Vielfalt könnte nicht kongenialer umgesetzt werden. Der Gesangspart Europas, die Zuständigkeit für die Hymne, die in einer erneuten Wiederholung des Refrains kulminiert, wird für Italien reklamiert.

IV. Rezeption

n Italien erreichte das Lied einen zwölften Platz in der Hitparade. In Deutschland war das Lied 20 Wochen lang in den Charts platziert, mit der besten Notierung am 4.6.1990 auf Platz 13, während es in Österreich (Platz 3) und der Schweiz (Platz 2), sogar in Frankreich (Platz 9) weitaus erfolgreicher war. Der Bekanntheitsgrad des Liedes ist allerdings sehr hoch einzuschätzen, gerade auch im Vergleich mit den Gewinnerliedern der Vorjahre (1988: Céline Dion „Ne partez pas sans moi“; 1989 Riva „Rock me baby“ wurden kaum als Lieder nach dem Wettbewerb wahrgenommen). Die deutsche Fassung von Roland Kaiser (Extreme) belegt überdies den Ohrwurm-Charakter des Liedes, das dort zur hymnischen Liebesschnulze auswächst.

Schließlich sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Cutugnos Lied Inspirationsquelle für Hymnen aller Art gewesen sein mag, zumindest aber sich große Analogien zu Berlusconis Parteilieder, insbesondere “Azzurra libertà”, der Hymne der Forza Italia, finden lassen. Ob Cutugno das goutiert hätte, bleibt fraglich.

 

CHRISTOPH OLIVER MAYER


Credits

Musik und Text: Salvatore Cutugno
Veröffentlichung: 1990 7″ Single; auf LP: Insieme 1992 (1990); Gli amori (1992); Greatest Hits (2002)
Original: EMI Italiana (EMI 20 3887 7 (EMI) [de,it] / EAN 5099920388775)
Länge: 4.00 min.

Recordings

  • Toto Cutugno. Solo Noi/ Liberi, 1980, CBS, 8392, Deutschland (7″/Single).
  • Toto Cutugno. L’Italiano, 1982, EMI, 1C 0062040237, Deutschland (7″/Single).
  • Toto Cutugno. Insieme: 1992II, 1990, EMI, 0062038877, Deutschland (7″‘/Single).
  • Toto Cutugno. “Insieme: 1992”. Auf: Insieme: 1992, 1990, EMI, 0647948711, Italien (LP).
  • Toto Cutugno. “Insieme: 1992”. Auf: Greatest Hits, 2002, Mint, 4874263, Deutschland (CD).
  • Simone. Keine Mauern Mehr, 1990, CBS, 6558156, Deutschland (12″).
  • Chris Kempers & Daniel Kovac. Frei zu leben, 1990, Jupiter Records, 8770487, Deutschland (7″/Single).
  • Emma. Give a little love back to the world, 1990, Big Wave, BWR 33, UK (7″/Single).
  • Azucar Moreno. Bandido, 1990, Epic, EPC 4667721, Spanien (LP/Album).
  • Céline Dion “Ne Partez Pas Sans Moi”/ Liam Reilley “Somewhere in Europe”. Auf: The Best Of Eurovision, 1994, Solid Records, SORTE CD 180, Irland (CD/Album/Comp.).
  • Kertil Stokkan. Brandenburger Tor (1990), 2011, Bare Bra Musik (Download).
  • Domenico Modugno. Nel Blu Dipinto Di Blu, 1958, Decca, 30677, US (7″).
  • Luca Barbarossa. Ti Scrivo, 1988, CBS, CBS 6515937, Europa (7″/Single).
  • Riva. Rock me Baby, 1989, Continental, 3006, Belgien (7″/Single).
  • Eurovision Song Contest Düsseldorf 2011, 2011, EMI, 50999, UK & Europa (2xCD/Album/Comp.).
  • Bruce Springsteen. Born in the U.S.A., 1984, Columbia, AS1959, US (12″/EP/Promo).

Covers

  • Roland Kaiser. “Extreme”, Nur das Beste – Die Größten Hits 1976-1998, 2000, Hansa, Deutschland (CD/Comp.).

References

About the Author

PD Dr. Christoph Oliver Mayer teaches Romance Studies at the TU Dresden.
All contributions by Christoph Oliver Mayer

Citation

Christoph Oliver Mayer: “Insieme: 1992 (Toto Cutugno)”. In: Songlexikon. Ecyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/insieme, 02/2012 [revised 10/2013].

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