1971
John Lennon

Imagine

IMAGINE ist der Titelsong des gleichnamigen Albums von John Lennon, der eine gesellschaftlich Utopie entwirft und mit dem er seinen größten Single-Erfolg feierte.

 

I. Entstehungsgeschichte

IMAGINE entstand im Frühjahr 1971 bei der Vorbereitung des zweiten Solo-Albums von John Lennon (1940–1980). Als er am 23. Juni 1971 in seinem Privatstudio im englischen Tittenhurst Park, Berkshire, mit den Aufnahmen begann, brachte er auch den gerade fertig gewordenen Song mit, der dem Album seinen Titel geben sollte. Neben dem Text und der Melodie lagen die Akkordfolge und eine Arrangementskizze vor. Alles andere entstand im Zuge der Aufnahme. Angeregt worden war Lennon zu dem Stück von einem Buch seiner zweiten Ehefrau Yoko Ono (*1933), Grapefruit (1964), das als ein frühes Zeugnis der Konzeptkunst-Bewegung gilt. Jahre später räumte er ein, dass Yoko Ono auch einen direkten Anteil am Text des Songs gehabt habe und dieser eigentlich hätte ihr zugeschrieben werden müssen (vgl. Blaney 2007: 51). In einem seiner letzten Interviews offenbarte er dann, dass der Song stark von einem Buch mit christlichen Gebeten beeinflusst worden sei, das er von dem US-Bürgerrechtsaktivisten und Schauspieler Dick Gregory (*1932) geschenkt bekommen habe (vgl. Sheff [1981] 2000: 212 f.).

In Lennons Ascot Sound Studios entstanden die Basic Tracks. Vervollständigt wurde die Aufnahme des Songs dann im Juli 1971 in den New Yorker Recording Plant Studios. Hier sind auch die Streicherparts von einer Gruppe der New Yorker Philharmoniker eingespielt worden, der Lennon den Namen Flux Fiddlers gab. Als Produzent ist neben John Lennon und Yoko Ono auch der US Pop-Tycoon Phil Spector (*1939) ausgewiesen, der hinzugezogen wurde, weil Lennon mit seinem Solo-Album nicht nur ein künstlerisches und politisches Anliegen verfolgen, sondern auch kommerziell eine nachhaltige Wirkung erzielen wollte. Auf Spector, der seit seinem Wall-of-Sound-Konzept aus den frühen 1960er Jahren als Spezialist für Pop-Sounds galt, geht das Klangdesign des Albums zurück. Später hat sich Lennon davon dann allerdings distanziert und erklärt, dass Spectors Sound-Konzept der politischen und künstlerischen Aussage seiner Songs eher geschadet habe (vgl. Doggett 2009: 179).

IMAGINE erschien am 9. September 1971 im Rahmen des gleichnamigen Albums, die Singleveröffentlichung folgte am 8. Oktober 1971 in den USA, beides auf dem 1968 von den Beatles als Bestandteil von Apple Corps Ltd. gegründeten Label Apple Records. Eine im Dezember 1971 im Apollo Theater im New Yorker Stadtteil Harlem aufgenommene Live-Version des Songs – Lennon solo nur mit Akustikgitarre – wurde 1998 posthum auf dem Vierfachalbum John Lennon Anthology veröffentlicht. 1986 drehte der polnische Regisseur Zbigniew Rybczyński (*1949) ein viel beachtetes und mehrfach ausgezeichnetes Musikvideo zu IMAGINE.

 

II. Kontext

IMAGINE entstand zu einem Zeitpunkt, an dem sich sowohl das persönliche Verhältnis zwischen den vier Beatles an einem Tiefpunkt befand als auch die Entwicklung der Popmusik nach dem politisch-musikalischen Aufbruch der Jahre um 1968 ins Leere zu laufen drohte. Die Ikonen der Rockkultur Janis Joplin (1943–1970), Jimi Hendrix (1942–1970) und Jim Morrison (1943–1971) waren einen selbst verschuldeten frühen Tod gestorben. Die Euphorie der Flower-Power-Bewegung hatte angesichts der alles in sich aufsaugenden Kraft des Kommerzes einer tiefen Ernüchterung Platz gemacht. Der Glaube an die gesellschaftsverändernde Kraft der Musik, der unter dem Motto “Love, Music and Peace” im August 1969 in Woodstock, New York, von 400.000 Jugendlichen trotz der widrigen Umstände dort begeistert gefeiert worden war, erwies sich nicht zuletzt im Licht der tief gestaffelten Verwertungskette, die sich an das Festival anschloss und bis heute fortdauert, als ein Mythos. Andererseits führte dieser Glaube, je mehr Hindernisse sich ihm entgegenstellten, aber auch zu einer Radikalisierung von Musik und Musiker*innen, nicht zuletzt von Lennon selbst.

Das sich seit 1969 anbahnende persönliche Zerwürfnis der Beatles ist nicht zuletzt vor diesem Hintergrund zu sehen, denn es war mit einem künstlerischen Richtungsstreit verbunden, bei dem es um das “Wie weiter?” ging. Die Soundtracks zu dem Fernsehfilm Magical Mystery Tour (1967) und zu dem Zeichentrickfilm Yellow Submarine (1968) hatten ebenso gemischte Reaktion hervorgerufen wie die beiden letzten Alben der Beatles, Abbey Road (1969) und Let It Be (1970), die trotz ihres kommerziellen Erfolges bei der Musikkritik auch auf deutliche Ablehnung gestoßen waren. Lennon hatte sich nicht zuletzt in Folge der Begegnung mit Yoko Ono, die ihm auch künstlerisch neue Horizonte eröffnete, schon 1968 von den Beatles abzusetzen begonnen und im November 1969 die Band schließlich auch formell verlassen. Allerdings hatte er zugestimmt, die Öffentlichkeit zunächst nicht zu informieren, um den in heftige Turbulenzen geratenen Apple-Konzern, ein 1967 noch von ihrem damaligen Manager Brian Epstein (1934–1967) als Steuersparmodell gegründetes global agierendes Multimedia-Unternehmen, nicht weiter zu gefährden. Aber schon im November 1968 war mit Unfinished Music No. 1: Two Virgins das erste gemeinsame Album von John Lennon und Yoko Ono erschienen, was nicht nur durch die Tatsache, dass hier einer der Beatles erstmals eigene Wege ging, für Furore gesorgt hatte. Das Albumcover zierte beide Künstler nackt mit unbedeckten Geschlechtsteilen, was ihnen ein Höchstmaß an Publicity und in einer Reihe von Ländern nicht minder publicityträchtige Verfahren wegen Verstoßes gegen den Obszönitätsparagrafen einbrachte. Noch bevor 1970 Lennons erstes Soloalbum John Lennon/Plastic Ono Band erschien und das Ende der Beatles auch für die Öffentlichkeit offenbarte, hatte Paul McCartney (*1942) entgegen den Absprachen im April 1970 seinen Austritt aus der Band erklärt und deren Auflösung zum 31. Dezember 1970 gerichtlich in die Wege geleitet.

IMAGINE legte damit sowohl Zeugnis ab von der Hoffnung Lennons auf eine friedliche Beilegung des Streits mit seinen Musikerkollegen als auch von dem Fortbestehen seines Glaubens an die Kraft der Musik.

 

III. Analyse

IMAGINE ist ein dreistrophiger Song mit der Besonderheit, dass der vierzeilige Refrain (Chorus) erst nach der zweiten Strophe das erste Mal erklingt. Das rückt den Text mit seinen beiden zusammenhängenden ersten Strophen nahe an den erzählenden Gestus der Ballade, ohne doch die Architektur des Popsongs zu verlassen bzw. nach der zweiten Strophe in diese überzugehen. Lennon beschwört in seinem Text eine Welt herauf, die frei von Gegensätzen und Konflikten ist – kein Himmel, keine Hölle, keine Länder und keine Religionen und damit keine Gründe zu töten, kein Eigentum, kein Neid, kein Hunger, nur ein Land, eine Welt, ein Volk: “Imagine all the people, living life in peace”. Im Refrain kulminiert das in der Aussage, dass man dies zwar für Träumerei halten könne, aber dieser Traum von vielen geteilt werde, verbunden mit der Aufforderung, sich diesen Vielen anzuschließen: “You may say I’m a dreamer / but I’m not the only one / I hope someday you will join us / And the world will be as one.” Mit wenigen Worten gelingt Lennon hier eine Verbindung von Poesie und Politik, die weit über die Grenzen eines Popsongs hinausführt.

Musikalisch ist diese Vision einer globalen Harmonie durch eine auf die Harmonik abgestellte Gestaltung umgesetzt. Der Song kreist um den Dreiklang der Grundtonart C-Dur, der nur in den letzten vier Takten der zwölftaktigen Strophen mittels einer Kadenz über die Subdominante (F-Dur), die Subdominantparallele (d-Moll) und den Dominantseptakkord (G7) verlassen wird, um aber dadurch letztlich bestätigt zu werden. Das ergibt ein in sich ruhendes tonales Gebilde mit hoher Gravität. Dem wirkt als zentrales harmonisches Gestaltungsmittel die jeweils auf dem letzten Viertel der Takte (Strophe) dem C-Dur-Dreiklang hinzugefügte große Septime (Cmaj7) entgegen, die mit ihrer zum Grundton strebenden Auflösungstendenz den nach dem F-Dur-Akkord folgenden C-Dur-Dreiklang nicht als Wiederholung, sondern als Spannungslösung erscheinen lässt (ebenso vermag die Mediante E im Refrain eine gewisse Spannung zu erzeugen). So entsteht als musikalisches Charakteristikum des Songs der Eindruck von Ruhe und Bewegtheit in einem.

Die überwiegend in Stufen und Tonrepetitionen geführte Melodik mit einem Ambitus von einer Terz bis einer Quinte, der nur am Ende der Strophen über die Sexte bis zur Oktave erweitert ist, hält sich eng an den Akkordaufbau des Stücks. Akkordfremde Töne sind nur als Durchgangstöne eingesetzt, sodass auch auf dieser Ebene die Harmonik dominant bleibt.

Im Aufbau folgt der Song, von der Anomalie der refrainlosen ersten Strophe abgesehen, dem Grundmuster der Strophenliedform. Dem viertaktigen Intro schließen sich die ersten beiden zwölftaktigen Strophen an. Die sechs Textzeilen der Strophen sind auf je zwei Takte verteilt, die sich melodisch leicht variiert wiederholen; nur die letzten beiden Zweitaktgruppen erweitern das melodische Material (a-a’-a”-a”’-b-b’). Auch der achtaktige Refrain basiert mit seinen vier Textzeilen auf Zweitaktgruppen, deren Abfolge diejenige der Strophen spiegelt (c-c’-c”-e). Dritte Strophe plus Refrain bilden den Schluss des Liedes, das mit seinem übersichtlichen Aufbau (Intro – A [Strophe]) – A – B [Refrain] – A – B) ganz auf die Wirkung des Textes abgestellt ist. Lediglich die Instrumentierung kaschiert die ansonsten tongenauen Wiederholungen der Formteile. Dominant und ohne Unterbrechung durch den Titel hindurch geführt ist die akkordische Pianobegleitung mit den auf den Grundtönen der Akkorde pendelnden Oktaven in der linken Hand. Dabei ist den Zweitaktgruppen in der Klavierbegleitung jeweils eine chromatische Dreitonfigur vorangestellt, sodass diese auftaktig erscheinen, ohne es doch wirklich zu sein. Erst am Ende der ersten Strophe, mit Beginn der letzten beiden Zweitaktgruppen, kommen Schlagzeug und Bass hinzu, das Schlagzeug den Backbeat markierend, der Bass mit den Grundtönen der Akkorde. Mit der zweiten Strophe setzt dann ein Streicherteppich ein, der seinerseits, ebenfalls bis zum Schluss geführt, den akkordischen Aufbau des Stücks noch einmal betont. Der über allem schwebende Charakter von John Lennons Singstimme entsteht durch Nahmikrofonierung des Gesangs mit wechselnd zugemischtem Hall, eines der Markenzeichen von Phil Spectors Klangdesign.

 

IV. Rezeption

IMAGINE erschien mit massiver Promotion-Unterstützung und dominierte so in Rekordzeit das Pop-Radio in den USA. Die Single erreichte Platz 3 der US-Single-Charts, platzierte sich u.a. in Kanada, Australien, Italien an der Spitze der Charts und sollte John Lennons bestverkaufte Platte werden. Der Song taucht in einer Vielzahl von Rankings und Bestenlisten auf. So findet er sich u. a. auf Platz 3 der 500 Greatest Songs of All Time des amerikanischen Musikmagazins Rolling Stone, auf Platz 30 der von der Recording Industry Association of America zusammengestellten bedeutendsten Songs des Jahrhunderts, erhielt 1999 den Grammy Hall of Fame Award und wurde im gleichen Jahr in die Rock and Roll Hall of Fame’s 500 Songs that Shaped Rock and Roll aufgenommen. IMAGINE gilt als einer der in den letzten 100 Jahren meistaufgeführten Songs. U. a. hat ihn Madonna (*1958) 2005 im Rahmen des Tsunami Aid: A Concert of Hope aufgeführt, Peter Gabriel (*1950) zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele 2006 im italienischen Turin, der Liverpool Philharmonic Youth Choir und der Liverpool Signing Choir während der Abschlussveranstaltung der Olympischen Sommerspiele 2012 in London und Lady Gaga (*1986) 2015 während der Eröffnungsveranstaltung der Europaspiele im aserbaidschanischen Baku.

Bislang sind mehr als 160 Coverversionen erschienen, darunter Versionen von Sarah Vaughan (1924–1990) und Diana Ross (*1944), von Joan Baez (*1941), Roger Whittaker (*1936), James Last (1929–2015), Liza Minelli (*1946), Ray Charles (1930-2004), Madonna (*1958) und als eine der bislang letzten im August 2015 eine Jazz-Version des finnischen Komponisten und Singer-Songwriters Iiro Rantala (*1970).

 

Peter Wicke


Credits

Gesang, Piano: John Lennon
Bassgitarre: Klaus Voormann
Schlagzeug: Alan White
Streichinstrumente: The Flux Fiddlers
Komposition und Text: John Lennon
Produktion: John Lennon, Yoko Ono, Phil Spector
Toningenieure Ascot Sound Studios: Eddie Beer, Eddie Klein, Eddie Veal, Eddie Offor, Philip McDonald
Toningenieure Record Plant Studios: Jack Douglas, Roy Cicala, Shelly Yukus

Recordings

  • John Lennon. “Imagine”. On: Imagine, 1971, Apple Records, PAS 10004, 1E 064 04914, UK (Vinyl/Album).
  • John Lennon. “Imagine”. On: Imagine / It’s So Hard, 1971, Apple Records 1840, US ‎(Vinyl/Single).
  • John Lennon. “Imagine (live)”. On: John Lennon Anthology, 1998, Capitol Records, C2 7243 8 30614 2 6, US (4xCD/Album).
  • John Lennon. “Imagine”. On: Imagine, 2000, Capitol Records, CDP 7243 5 24858 2 6, US (Remastered & Remixed, CD/Album).
  • John Lennon. “Imagine”. On: Imagine, 2010, Apple Records, 5099990650222, UK (Remastered, CD/Album).

Covers

  • Sarah Vaughan. “Imagine”. On: Sweet Gingerbread Man / Imagine, 1972, Mainstream Records, MRL 5512, US (Vinyl/Single).
  • Diana Ross. “Imagine”. On: Touch Me in the Morning, 1973, Motown, M 772L, US (Vinyl/Album).
  • Joan C. Baez. “Imagine”. On: The Best of Joan C. Baez, 1977, A&M Records, SP-4668, US (Vinyl/Compilation).
  • Roger Whittaker. “Imagine”. On: Imagine, 1978, RCA, AFL1-3077, US (Vinyl/Album).
  • James Last. “Imagine”. On: Leave the Best to Last, 1985, Polydor, 827393-2, Germany (CD/Album).
  • Liza Minnelli. “Imagine”. On: Live from Radio City Music Hall, 1992, Columbia, CK 53169, US (CD/Album).
  • Ray Charles. “Imagine”. On: The Definitive Ray Charles, 2001, Atlantic Records, 8122 73556-2, US (2xCD/Compilation).
  • Madonna. “Imagine”. On: I’m Going to Tell You a Secret, 2006, Warner Bros. Records, ‎WPZR-30163-4, JP (CD/Compilation).
  • Madonna. “Imagine”. On: Are You Feeling Satisfaction?, 2008, Apocalypse Sound, AS 143, Europe (DVD/Unofficial Release).
  • Herbie Hancock. “Imagine feat. Pink, Seal, India.Arie”. On: The Imagine Project, 2010, Sony Music, 88697748612, Australia (CD/Album).
  • Iiro Rantala. “Imagine”. On: My Working Class Hero, 2015, ACT, ACT 9597-2, Germany (CD/Album).

References

  • Blaney, John: Lennon and McCartney. Together Alone. London: Jawbone Press 2007.
  • Doggett, Peter: You Never Give Me Your Money: The Beatles After the Breakup. New York: Harper 2009.
  • Grossma, Samantha: “Watch Lady Gaga Perform a Powerful Cover of ‘Imagine’. In: Time, 17.06.2015. URL: https://time.com/3925252/lady-gaga-jon-lennon-imagine-european-games/ [28.04.2021].
  • Sheff, David/Golson, G. Barry (Ed.): All We Are Saying. The Last Major Interview with John Lennon and Yoko Ono. New York: St. Martin’s Griffin 2000.
  • Ono, Yoko: Grapefruit. Tokyo: Wunternaum Press 1964.
  • Poggioli, Sylvia: “Olympic Games Kick Off with Art, Fashion, Dance”. In: National Public Radio, 10.02.2006. URL: https://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=5201016&t=1559291469474 [28.04.2021].

Links

  • Offizielles Musikvideo: Imagine, John Lennon. Director: Zbigniew Rybczyński. In: YouTube, 21.10.2019. URL: https://www.youtube.com/watch?v=tnXoJ3suYNU [29.04.2021].

About the Author

Prof. Dr. Peter Wicke is a retired professor of musicology. From 1992 to 2016 he held the chair for "Theory and History of Popular Music" at the Humboldt University Berlin.
All contributions by Peter Wicke

Citation

Peter Wicke: “Imagine (John Lennon)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/imagine, 07/2021.

Print