1988
Die Toten Hosen

Hier kommt Alex

HIER KOMMT ALEX wurde 1988 auf dem Album Ein kleines bisschen Horrorschau veröffentlicht und leitete den kommerziellen Durchbruch der Toten Hosen ein.

 

I. Entstehungsgeschichte

Im Jahr 1988 hatten die Toten Hosen, die sich 1982 in Düsseldorf gründeten und aus der Punk-Formation ZK hervorgingen, bereits drei Studioalben mit eigenen Kompositionen, ein Livealbum und eine Langspielplatte mit Coverversionen bekannter Schlager veröffentlicht. Frontmann Campino zufolge war die Band dennoch dem Bankrott nahe und stand kurz vor dem Aus. In dieser kritischen Phase sei der Regisseur Bernd Schadewald mit der Bitte an die Band herangetreten, die Musik für eine Theaterinszenierung von A Clockwork Orange zu schreiben und diese während der Aufführungen auch live zu spielen (vgl. youtube.com). Ursprünglich als Roman von Anthony Burgess (1972 [1962]) veröffentlicht, erlangte A Clockwork Orange insbesondere durch die Verfilmung Stanley Kubricks (1971) große Bekanntheit. Nachdem die Band Schadewald ihre Zusage erteilt und sich einige Wochen dem Schreiben entsprechender Songs gewidmet hatte, soll der ehemalige Schlagzeuger und damalige Manager der Formation, Trini Trimpop, im Proberaum der Toten Hosen erschienen sein, um sich ein Bild über die aktuellen Fortschritte machen zu können. Nach dem Hören einiger Songs sei Trimpop geradezu enttäuscht gewesen. Daraufhin habe ihm die Band aus Verlegenheit noch einen letzten, im Grunde bereits verworfenen Song vorgespielt. Der Song, HIER KOMMT ALEX, soll der Band zu sehr nach Hardrock geklungen haben und zu langsam gewesen sein, Trimpop hingegen sei begeistert gewesen. Infolgedessen nahm die Band den Song für das Album Ein kleines bisschen Horrorschau auf und veröffentlichte ihn anschließend auch als Singleauskopplung (vgl. youtube.com).

 

II. Kontext

Die Toten Hosen entstammen der Düsseldorfer Punkszene der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre. Zusammen mit der Berliner Band Die Ärzte zählen sie seit dem Ende der 1980er-Jahre zu jenen deutschen Bands, deren Ursprünge im Punk liegen, die sich aber im Laufe ihrer Karriere musikalisch und inhaltlich für weitere Einflüsse öffneten und schließlich in den Kreis der bekanntesten Rock- und Pop-Acts des Landes aufstiegen. Nachdem das Album Never Mind The Hosen, Here’s Die Roten Rosen, dessen Titel auf das Debütalbum der britischen Punkband Sex Pistols anspielt, bereits ausschließlich Coverversionen von Schlagersongs beinhaltete, deutete auch die Mitwirkung an einer Theaterproduktion auf die Hinwendung zu Einflüssen jenseits des Punk hin.

Burgess’ A Clockwork Orange handelt von Alex, einem britischen Jugendlichen, der sich zusammen mit seiner Jugendgang, den Droogs, die Zeit vertreibt, indem sie Unschuldige verprügeln, ausrauben und vergewaltigen. Indes ist Alex ein großer Musikliebhaber, dessen Herz vor allem für die Beethovensche Symphonik schlägt – sowohl in Burgess’ Roman als auch in Kubricks filmischer Adaption spielt insbesondere die d-Moll Symphonie op. 125 eine herausragende Rolle (vgl. Schabram 2010: 146). Nachdem Alex wegen eines Morddelikts eine langjährige Freiheitsstrafe antreten muss, wird an ihm eine neu entwickelte Resozialisierungsmaßnahme erprobt: die sogenannte “Ludovico-Technik”. Dabei handelt es sich um eine Form der Aversionstherapie, im Laufe derer der Protagonist mit abstoßenden Gewaltszenen und Ausschnitten aus nationalsozialistischen Propagandafilmen konfrontiert wird und gleichzeitig ein Serum injiziert bekommt, das extremes körperliches Unwohlsein auslöst. Die gewünschte Konditionierung bewirkt, dass Alex selbst keine Gewalttaten mehr verüben kann (vgl. Sayed 2010: 154). Zudem wird der Musikliebhaber im entsprechenden Abschnitt des Romans mit dem Finale der Fünften Symphonie Beethovens konfrontiert, in Kubricks Film hingegen erklingen Ausschnitte aus der Neunten Symphonie, gespielt von einem Synthesizer (vgl. Schabram 2010: 147). Fortan kann Alex auch die Kompositionen Beethovens nicht mehr genießen, da sich automatisch Assoziationen zu extremer Gewalt und Bildern aus Konzentrationslagern in ihm regen.

Die Toten Hosen ließen sich infolgedessen auf die Mitwirkung an einer Theaterinszenierung ein, deren Vorlage lange vor den Ursprüngen des Punk in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre entstand, die stark von der Beethoven-Rezeption Anthony Burgess’ geprägt ist und die daher einen ‘Klassiker’ der europäischen klassisch-romantischen Musiktradition thematisiert. Im Song HIER KOMMT ALEX lassen sich sowohl Verweise auf A Clockwork Orange als auch auf die Beethovensche Symphonik feststellen.

 

III. Analyse

Der Song steht in d-Moll und weist bei einem Tempo von 133 bpm eine Dauer von 5:00 min auf. Formal folgen Intro, Verse und Chorus aufeinander, was in dieser Abfolge einmal wiederholt wird. Anschließend folgt eine Bridge, bevor ein verlängerter Chorus den Song zum Abschluss bringt. Im Intro sind zunächst nicht die Musiker der Toten Hosen zu hören, sondern der Beginn des Scherzos aus Beethovens Neunter Symphonie, die ebenfalls in d-Moll komponiert wurde. Nach einer knappen halben Minute wird ein lang gehaltener Schrei eingeblendet, während die Orchesterklänge sukzessive leiser werden, bis schließlich auch der Schrei verstummt. Anschließend erklingt das tragende Gitarrenriff des Songs, das auf dem ganztaktigen Wechsel der gebrochenen Akkorde Dm, Bb, C und G basiert. Zu den Akkorden Dm und Bb wird häufig der Ton e hinzugefügt, also die None (Dm) bzw. die verminderte Quinte (Bb). Nach einem Durchlauf der Akkordfolge setzt der Gesang ein, die instrumentale Begleitung wird im Folgenden fortlaufend erweitert. Zusätzlich zum Hauptgitarrenriff erklingen in den Verses ganztaktig gehaltene Akkorde der Gitarre, Grundtondopplungen des Basses im Achtelrhythmus, ein typischer Rockbeat des Schlagzeugs und abgedämpfte Achtel- und Sechzehntelakkorde weiterer Gitarren. Im Chorus lautet die Akkordfolge sodann Dm, Bb, Gm, C; die verzerrten Gitarren spielen hierbei nicht nur die Akkorde, sondern steuern zudem melodische Akzente bei, die den Gesang ergänzen. In der Bridge, die im Wesentlichen von abgedämpft akzentuierenden Gitarren geprägt ist, erklingen die Akkorde Am | Am | Bb | C | Am | Bb | C | F G. Campinos Gesang bewegt sich zwischen den Tönen a’ und e”, in den Verses im Wesentlichen in mittlerer Lage, die Spitzentöne werden vor allem im Chorus, teilweise am Ende der Bridge erreicht.

Die Verweise auf A Clockwork Orange werden primär durch den Songtext deutlich. Der erste Verse vermittelt den Eindruck, als handele es sich schlichtweg um die Schilderung eines standardisierten und von Langeweile geprägten Alltagstrotts. Die Zeile “Jeder Mensch lebt wie ein Uhrwerk” referiert indes auf die Inspirationsquelle, zudem werden die Droogs im ersten Verse genannt. Der Chorus lässt sich sodann als Vorstellung bzw. Ankündigung des Protagonisten Alex auffassen, für dessen “Horrorshow” der Vorhang zu öffnen sei. Anthony Burgess kreierte für A Clockwork Orange die Fantasiesprache “Nadsat”, die sich am Russischen orientiert und teilweise von Alex und den Droogs gesprochen wird. Die Vokabel “horrorshow” leitet sich vom russischen Wort “khorosho” – zu Deutsch: gut – ab und wird vom Protagonisten bisweilen verwendet. Der zweite Verse und die Bridge thematisieren sodann die rohe Gewalt, die von Alex und den Droogs in der Roman- bzw. Filmvorlage ausgeht.

Der zugehörige Videoclip ist ein Performance-Video, das die Band bei der vermeintlichen Aufführung des Songs und in wechselnden Einstellungen auf einem Schrottplatz, in einer Fabrikhalle und auf einem Gebäudedach zeigt. Insofern ist kein unmittelbarer visueller Bezug zum Songtext oder zur Inspirationsquelle zu erkennen. Das Cover des Albums Ein kleines bisschen Horrorschau zieren indes das farblich verfremdete Konterfei Beethovens und ein zweitaktiger Ausschnitt aus der Partitur des vierten Satzes der Neunten Sinfonie.

 

IV. Rezeption

Die Singleauskopplung erzielte moderate Erfolge in den Verkaufscharts und hielt sich 19 Wochen in den Top 100 (offizielle-charts.de). Das zugehörige Album hingegen erreichte Platz 7 und war insgesamt 53 in den Charts vertreten (offizielle-charts.de). Der Song gehört bis heute zum festen Liverepertoire der Band, die 2005 im Zuge der MTV-Unplugged-Reihe auch eine Akustikversion von HIER KOMMT ALEX veröffentlichte. Am Anfang dieser Version erklingt nicht Beethovens Neunte, sondern der Beginn der Klaviersonate Nr. 14 op. 27 Nr. 2, besser bekannt unter dem Titel “Mondscheinsonate”.

 

BENJAMIN BURKHART


Credits

Gesang: Campino (Andreas Frege)
Gitarre: Andreas von Holst, Michael Breitkopf
Bass: Andreas Meurer
Schlagzeug: Wolfgang Rohde
Text: Campino (Andreas Frege)
Musik: Andreas Meurer
Label: Virgin
Aufgenommen: 1988
Veröffentlicht: 1988
Dauer: 5:00

Recordings

  • Die Toten Hosen. “Hier kommt Alex”, Ein kleines bisschen Horrorschau, 1988, Virgin, 0777 7 86763 2 4, Deutschland (CD/Album).
  • Die Toten Hosen. “Hier kommt Alex”, Hier kommt Alex, 1988, Virgin,        661 686, Deutschland (CD/Maxi-Single).
  • Die Toten Hosen. “Hier kommt Alex”, Nur Zu Besuch. Unplugged Im Wiener Burgtheater, 2005, Jochens Kleine Plattenfirma (JKP), JKP 77, Deutschland (CD/Album).

References

  • Burgess, Anthony (1972 [1962]): A Clockwork Orange. London: Heinemann.
  • Die Toten Hosen. Ein kleines bisschen Horrorschau. In: Offizielle Deutsch Charts. URL: https://www.offiziellecharts.de/album-details-810 [04.07.2018].
  • Die Toten Hosen. Hier kommt Alex. In: Offizielle Deutsch Charts. URL: https://www.offiziellecharts.de/titel-details-6827 [04.07.2018].
  • Popsplits. Die Toten Hosen. Hier kommt Alex. In: YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=XppbtJlAe7s [04.07.2018].
  • Sayed, Aron: Kein Missverständnis: Stanley Kubricks Beethoven-Rezeption in A Clockwork Orange. In: Kieler Beiträger zur Filmmusikforschung 6 (2010), S. 153–163.
  • Schabram, Kai: “Just Music” – Anmerkungen zu Anthony Burgess’ Beethoven-Rezeption in Napoleon Symphony und A Clockwork Orange. In: Kieler Beiträger zur Filmmusikforschung 6 (2010), S. 137–152.

Films

  • A Clockwork Orange, Stanley Kubrick, Warner Bros. Pictures 2008.

About the Author

Benjamin Burkhart is senior scientist at the Institute for Jazz Research at the University of Music and Performing Arts Graz.
All contributions by Benjamin Burkhart

Citation

Benjamin Burkhart: “Hier kommt Alex (Die Toten Hosen)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/hier-kommt-alex, 12/2022.

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