1962
Freddy Quinn

Heimweh nach St. Pauli

Obwohl in Österreich geboren, bilden vorwiegend Seemanns- und Hafenlieder das künstlerische Image von Freddy Quinn. HEIMWEH NACH ST. PAULI, der Titelsong aus dem gleichnamigen Musical von Lotar Olias aus dem Jahre 1962, gehört neben “Junge, komm bald wieder” oder “Die Gitarre und das Meer” zum festen Repertoire des Sängers. Erstmals veröffentlicht wurde der Titel auf Polydor zusammen mit anderen Liedern aus dem Bühnenwerk auf Vinyl kurz nach der Premiere.

I. Entstehung

Der Komponist Lotar Olias (vormaliges NSDAP-Mitglied) ließ sich nach Kriegsende 1945 in Hamburg nieder und schrieb fortan neben Filmmusiken, Schlagern und Kabarettchansons auch Operetten und Musicals. Im Februar 1954 brachte er im Operettenhaus die Revue-Operette Heimweh nach St. Pauli heraus, mit einem Libretto von Gustav Kampendonk und Heinz Bruck und Liedtexten von Kurt Schwabach, Walter Rothenburg, Georg Büsing, Heinz Woeze, Ernst Bader, K. Peter Möser, Erik Wallnau und Stephan Weiss. Produzent war Walter Hochtritt, ebenfalls ehemaliges NSDAP-Mitglied, der in der NS-Zeit u.a. den Admiralspalast in Berlin geleitet hatte. Der Text des Titelsongs stammte von Kurt Schwabach, einem jüdischen Remigranten, der 1948 aus Palästina zurückgekehrt war und wie Olias und Hochtritt in Hamburg lebte. 1956 erzielte Freddy Quinn mit einer Dean Martin-Coverversion von “Memories are made of this” unter dem Titel “Heimweh” einen Überraschungshit. Olias nahm ihn daraufhin als Manager unter Vertrag und ließ ihm 1960 mit der angeblichen Autobiografie Lieder, die das Leben schrieb (Quinn 1960) eine weitgehend erfundene Lebensgeschichte verpassen. Sie enthielt all die Bausteine “für eine brauchbare Mediengeschichte: Der Jugendliche, der von zu Hause ausreißt wegen des bösen Stiefvaters, erst zum Zirkus geht und dann auf Tramptour durch Europa, bis in die Fremdenlegion nach Algerien, schließlich als Seemann anheuert, mit Stationen in Mexiko, New York und Irland, bis er endlich in Hamburg an Land geht, wo er mit seinen wehmütigen Liedern zur Gitarre in einer Hafenbar auf St. Pauli entdeckt wird – dabei immer einsam und allein” (Kraushaar 2006). (Selbst das Haus der Geschichte in Bonn übernimmt die Angaben ohne Kommentar [19. Dezember 2011]). In Ansätzen entsprach diese Geschichte der Operetten-Handlung von Heimweh nach St. Pauli. Was lag also näher als das abgespielte Bühnenstück neu herauszubringen? 1962 war Premiere der Musicalfassung, die nunmehr auf die (vermeintliche) Lebensgeschichte von Freddy Quinn stärker konzentriert wurde und seinen Erfolg als Schlagersänger optimal nutzte. Erst jetzt wurde der Titelsong ein Hit. Song und Image des Interpreten waren in Übereinstimmung gebracht.

II. Kontext

Das Lied HEIMWEH NACH ST. PAULI steht als Bestandteil eines Bühnenwerks in einem konkreten szenischen Zusammenhang. In dem Musical geht es um den Hamburger Seemann Hein Steinemann, der von Zuhause wegrennt, zur See geht, nach einigen Umwegen in den USA landet, dort als Sänger Karriere macht, in die Fänge skrupelloser Manager gerät, prompt in Jimmy Jones umbenannt wird und bald schon als glamouröser Star die Konzertsäle füllt. Doch unverhofft bekommt er Heimweh. Das New Yorker Showbusiness findet er kalt und seelenlos. Schließlich bricht er kurz vor einem großen Fernsehauftritt seinen Vertrag und heuert – einem spontanen Impuls nachgebend – auf einem Schiff an, das ihn wieder zurück nach Hamburg bringt. Daheim söhnt er sich mit seinen Eltern aus (einfachen Leuten mit einem kleinen Blumenladen auf dem Fischmarkt), und auch Rosie, seine Freundin, hat die ganze Zeit auf ihn gewartet.

Die leicht antiamerikanische Ausrichtung, die Kampendonk der Geschichte verlieh, entsprach den seinerzeit weit verbreiteten Ressentiments in der deutschen Bevölkerung gegenüber den Amerikanern: sie seien effizient aber kalt, technisch versiert aber kulturell oberflächlich. Deutsches “Gemüt” und amerikanisches “Business” – so legt die Geschichte nahe – vertragen sich nicht (oder kaum).

III. Analyse

Der Text von HEIMWEH NACH ST. PAULI ist nicht spezifisch auf die einmalige Situation der Bühnenfigur bezogen. Die Zeilen – im schlichten, singbaren Deutsch geschrieben – schildern vielmehr ganz pauschal das Gefühl eines Seemanns, der auf den Weltmeeren unterwegs ist (“Ich fahre jedes Jahr [ein]mal um die Erde ‘rum”), doch den immer wieder das Heimweh ergreift. Drei Grundsituationen werden dabei beschrieben:

  1. der Seemann bleibt überall nur kurze Zeit an Land und fühlt sich daher überall fremd (“Ich bin in einem fremden Land ein Fremder immer bloß”),
  2. trotzdem kommt es hin-und-wieder zu amourösen Begegnungen, die aber keine große Bedeutung haben (“find ich mal in fremden Ländern ein kurzes unverhofftes Glück”),
  3. der Seemann hat, wie jeder ordentliche Seemann, eine feste Braut daheim, weit weg, deren Namen (Lilli) er sich aus Liebe auf den Arm tätowieren ließ.

Jede Beschreibung mündet in den Refrain: “Ich habe Heimweh nach St. Pauli, nach St. Pauli auf der Reeperbahn. Denn es gibt nur ein St. Pauli, und es gibt nur eine Reeperbahn.” In der redundanten Wiederholung der Namensnennung hebt sich die tendenzielle Beliebigkeit des Ortes für den Singenden auf, unterstreicht das Besondere, das Einmalige des Sehnsuchtsziels. Es wird geradezu zur Projektionsfläche aller Wünsche, deren Erfüllung sich offenbar nirgends anders realisieren lässt. Trotz aller textlichen Klischees (die schon damals Klischees waren) gelingt es der Musik, im Zusammenspiel mit den Versen eine große emotionale Intensität zu erzeugen. Das getragene Tempo der Komposition, das nur kurzzeitig durch beschwingtere Foxtrott-Rhythmen abgelöst wird, drückt zusammen mit dem vollen, dunklen Bariton von Freddy Quinn stimmig das Gefühl aus, das im Lied beschrieben wird.

Gesangstechnisch lehnt sich der Vortrag an Stilistiken von Elvis Presley an, so wenn Freddy Quinn in den Sprechgesang oder gar in reine Sprechpassagen übergeht (zum Vergleich sei auf den Elvis-Hit “That’s when your heartaches begin” hingewiesen). Hinzu kommt ein männlicher Background-Chor im Hintergrund, wie er für die 1950er Jahren typisch war.

Instrumental legte der Arrangeur Franz Josef Breuer den Song nicht ausschließlich auf das Seefahrtmotiv fest. Zwar erklingen zu Beginn die typischen Töne eines Akkordeons (eines “Schiffer-Klaviers”), doch dann nimmt er bei “Ich hab Heimweh…” den klaren, satten Streicherklang, um den Gefühlen breiten Ausdruck zu geben. Die Rhythmusgruppe ist bescheiden, eher nebensächlich, und beschränkt sich auf den Einsatz des dezenten Besens. Offenkundig steht die Instrumentation vor dem Epocheneinbruch durch die Beatles (1963).
Zur Beglaubigung seiner Seemannslieder legte sich Freddy Quinn, der ebenfalls in Hamburg seinen Wohnsitz nahm, einen norddeutschen Akzent zu. Gleichwohl verlässt er sich bei der Interpretation vorwiegend auf die warme Farbe seiner Stimme, ohne den vollen emotionalen Gehalt des Songs auszuschöpfen. Er geht nicht darstellerisch an die geschilderte Situation heran, vertieft sich in sie und singt gleichsam aus einer Position der Identifikation. Sondern er bleibt immer als Sänger erkennbar. Diese Haltung drückt sich in einer unüberhörbaren Distanz aus, die er zum Gesungenen behält. Er nimmt gleichsam eine Konzerthaltung gegenüber dem musikalischen Material ein.

Dem Erfolg des Liedes tat das keinen Abbruch. Denn jenseits der Klischees vom Seemannsleben, mit denen hier operiert wird, verbirgt sich im Kern ein gleichsam allgemein-menschliches Empfinden: die Sehnsucht nach einem “Zuhause” (im emphatischen Sinne). So mag es kein Zufall gewesen sein, dass ausgerechnet Schwabach den Text verfasste: ein Mann, den die Nationalsozialisten verjagt hatten, der sich zwar nach Palästina retten konnte, doch selbst dort, im entstehenden Staat Israel, nicht heimisch wurde und lieber wieder zurückkehrte, in das Land der Täter. Er wird gewusst haben, wovon er schrieb.

IV. Rezeption

Das Musical, das am 18. Oktober 1962 herauskam, wurde der größte Musicalerfolg eines originär deutschsprachigen Autorenteams in den 1960er Jahren. Nur wenige Wochen nach der Premiere erschien auf Polydor die LP, die vorwiegend auf den Interpreten Freddy abgestimmt war. Nie zuvor hatte es ein deutsches Bühnenwerk des unterhaltenden Musiktheaters gegeben, dessen Songs so kurz nach der Premiere als Schallplatte veröffentlicht wurden. Der Verkaufserfolg von My Fair Lady in Berlin im Jahr davor (ebenfalls bei Polydor) dürfte dazu angeregt haben. Bereits im August 1963 (die Aufführungsserie an der Reeperbahn war abgelaufen) kam die Verfilmung unter demselben Titel in die Kinos, erneut mit Freddy in der Hauptrolle, an seiner Seite u.a. Bill Ramsey und das “Busenwunder” Jayne Mansfield. 1966 folgte das erste Revival (erneut im Operettenhaus). Produzent war Karl Vibach, der Regisseur von 1962. Nach einer erfolgreichen Spielserie in Hamburg ging die Inszenierung auf Tournee nach Wien, Berlin und München. Für das Revival veranlasste Vibach eine allgemeine textliche Überarbeitung des Stücks. Davon betroffen war auch HEIMWEH NACH ST. PAULI. Schwabach selbst konnte die Änderungen nicht mehr vornehmen; er war kurz zuvor gestorben. So geht die Neufassung, die namentlich nicht gekennzeichnet wurde, sehr wahrscheinlich auf Max Colpet zurück, den Vibach hinzugezogen hatte. Bei ihm heißt es: “Ja meine große Chance war Amerika, als ich hierher kam, war ich arm und klein. Was ich heut’ bin, verdanke ich Amerika, und werde immer dankbar dafür sein. Doch wenn ich mal am Broadway steh’, im hellen Lichterschein, möchte’ ich so gern in Altona am alten Fischmarkt sein” (Kampendonk 1967: 25). Dramaturgisch war die Textänderung zweifellos richtig, da der Song jetzt erst mit der Szene ausreichend verknüpft war. Doch als Schlager, abgekoppelt vom Bühnenwerk, blieb die ursprüngliche Fassung lebendig.

Colpet war ebenfalls Remigrant. Er kam – anders als Schwabach – aus den USA zurück, wo man ihm, der zuvor als Staatenloser herumgeirrt war, zum ersten Mal in seinem Leben einen regulären Pass gegeben hatte. Es ist insofern nachvollziehbar, dass Colpet ein anderes Verhältnis zu den USA besaß als etwa Kampendonk oder Olias.

Für Freddy blieb der Song ein Teil seines Repertoires, das vorzüglich zu dem Image passte, das sein Management in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre für ihn entwickelt hatte und das er im Grunde bis in die Gegenwart beibehielt: das eines Fremden, “umflort von der Legende des Einsamen, Weitgereisten, Heimatlosen” (Kraushaar 2011: 12).

 

WOLFGANG JANSEN


Credits

Text: Kurt Schwabach
Komposition: Lotar Olias
Arrangements: Franz Josef Breuer
Gesang: Freddy Quinn (mit Seemanns-Chor)
Produktionsleitung: Lotar Olias
Label: Polydor
Length: 4:47

Recordings

  • Freddy Quinn. “Heimweh nach St. Pauli”, Heimweh nach St. Pauli, 1962, Polydor, P 46765, Deutschland (LP/ MusicalFassung).
  • Freddy Quinn. “Heimweh nach St. Pauli”, Freddy auf großer Fahrt, 1963, Polydor, P 71512, Deutschland (LP/ Album).
  • Freddy Quinn. “Heimweh nach St. Pauli”, Heimweh nach St. Pauli, 1992, Polydor, 513066-2, Deutschland (CD/ Album/ RM).

References

  • Jansen, Wolfgang: Cats & Co., Geschichte des Musicals im deutschsprachigen Theater. Berlin: Henschel 2008.
  • Kraushaar, Elmar: “Hafen-Barde”. In: Der Tagesspiegel, 24. September 2006.
  • Kraushaar, Elmar: Freddy Quinn: Ein unwahrscheinliches Leben. Zürich: Atrium 2011.
  • Quinn, Freddy: Lieder, die das Leben schrieb. Frankfurt a.M.: Limpert 1960.
  • Kampendonk, Gustav: Heimeh nach St. Pauli. Ein Hamburger Musical von Gustav Kampendonk. Musik von Lotar Olias. Neufassung Herbst 1967, Regiebuch eingerichtet von Karl Vibach. Hamburg: Verlagsmanuskript, Bühnen- und Musikverlage Dr. Sikorski, 25.
  • Heimweh nach St. Pauli. Regie: Werner Jacobs. Drehbuch: Gustav Kampendonk. Rapid-Film, 1963.

Links

  • Artist homepage: http://www.freddyquinn-biographie.de [19.12.2011], http://www.freddy-quinn.de/ [19.12.2011].

About the Author

Dr. Wolfgang Jansen teaches musical history at the Folkwang University of the Arts in Essen.
All contributions by Wolfgang Jansen

Citation

Wolfgang Jansen: “Heimweh nach St.Pauli (Freddy Quinn)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/heimwehnach, 12/2011 [revised 10/2013].

Print