GÖTTINGEN ist eines der bekanntesten Lieder der französischen Sängerin Barbara und trug zur Entspannung im Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich zwei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs bei.
I. Entstehungsgeschichte
Das Lied zur deutsch-französischen Freundschaft schlechthin ist zweifelsohne Barbaras GÖTTINGEN. Passend zum Elysée-Vertrag von 1963 besingt es die emotionale Verbindung einer Französin zu Göttingen. Es soll anlässlich eines Aufenthalts in Göttingen von der Sängerin selbst 1964 komponiert worden sein. Dieser gleichsam mythisch aufgeladene Entstehungskontext (vgl. Jacono 2015) leitet damit musikalisch eine neue Etappe des interkulturellen Austausches zwischen den beiden Ländern ein, was Karrieren für Gilbert Becaud, Nana Mouskouri bzw. Mary Roos und Reinhard Mey im jeweils anderen Land erst ermöglichte.
II. Kontext
Das Lied suggeriert, bedenkt man auch die Darbietung der damit zur Chanson-Größe avancierten Barbara, die Liebeserklärung einer französischen Gaststudentin an die Universitätsstadt Göttingen. Dabei arbeitet es sowohl die jüngere deutsch-französische Geschichte vor dem Hintergrund des eben erst zu Ende gegangenen Zweiten Weltkriegs als auch die Kulturgeschichte beider Länder auf. Nicht ohne Grund parallelisiert es Paris und Göttingen, unterstreicht die deutsche Kulturbeflissenheit und plädiert somit auch für “Nie-Wieder-Krieg”. Inhaltlich wie musikalisch trifft es damit das, was im engeren Sinn unter einem französischen Chanson zu verstehen ist: die Ausrichtung auf die Botschaft, den Textgehalt, die klangliche Unterstützung mit spärlichem Instrumentaleinsatz (Gitarre, Klavier) und den Vortrag von einer Persönlichkeit, die ausdrucksstark und charismatisch Bühnenpräsenz und Wiedererkennungseffekt verspricht.
Wenn in diesem Lied Göttingen erscheint, so werden natürlich auch kulturgeschichtliche Assoziationen geweckt. Göttingen ist im kulturellen Gedächtnis präsent über die Göttinger Sieben, die in der Zeit des aufkommenden deutschen Liberalismus und Nationalismus, also im Vormärz, politisch aktiv waren. Auch, weil ihre kulturelle Bedeutung die politische vermutlich noch überstrahlt: Die Gebrüder Grimm, selbst Teil der Göttinger Sieben, sind durch ihre Märchen auch außerhalb Deutschlands bekannt. In diesem Zusammenhang wird die These virulent, dass Frankreich seine Kindermärchen den Gebrüder Grimm verdanken würde. Ein Gedanke, welchen Barbara in ihrer vierten Strophe zu unterstützen scheint und dabei den Affront thematisiert, der durch die These auslöst wurde: “Et que personne ne s’offense, mais les contes de notre enfance ‘Il était une fois’ commence à Göttingen.” Diese Verknüpfungen von Deutschland und Frankreich sind kulturgeschichtlich vertretbar, denn der Siegeszug der Grimm’schen Erzählungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts machte nicht vor den französischen Grenzen halt. Und dennoch handelt es sich dabei um einen kulturellen Re-Import, sind doch eigentlich die Perraultschen Märchen (um 1700), selbst stark beeinflusst von den Italienern Basile und Straparola, vermutlich eine wesentliche Quelle der Gebrüder Grimm gewesen. Dennoch: Göttingen, das in der Tat das Geburtshaus der Gebrüder Grimm beherbergt, wird hier durch diese Assoziationskette zum Märchenursprungsort: die Geschichten der Kindheit, das “Es war einmal”, hätten, so die Erzählerin, ihren Ursprung in Göttingen genommen. Barbara bemüht also einen kulturellen Meilenstein der deutschen Kulturgeschichte, fern vom Verdacht, die Schattenseiten der deutschen Vergangenheit vorbereitet zu haben.
Zweifelsohne werden zeitgenössische kulturell gebildete Hörer*innen des Chansons neben dieser Reminiszenz an die Universitätsstadt – welcher nochmals in der fünften Strophe (gleichsam refrainartig in der Wiederholung des bereits eingangs Gesagten) als Parallele zu Paris ein sentimentales Kompliment gemacht wird: “que les roses sont belles” – noch andere Gedanken gehabt haben: Göttingen liegt im Kalten Krieg relativ grenznah und symbolisiert, kaum drei Jahre nach dem Mauerbau, auch die Trennung der beiden deutschen Staaten, den Ost-West-Konflikt. Vielleicht steht gerade durch die bewusste Ausblendung der deutschen Frage der noch nicht verwundene Kampf zwischen Deutschland und Frankreich im Vordergrund und wird vom Chanson gleichsam übertönt. Im Vergleich wird an die gemeinsame Vorliebe für melancholische Grundstimmung und Sentimentalität erinnert, die das Lied selbst ja auch einlöst. Auf der Seite Frankreichs stehen die “matins blêmes” und die “âme grise de Verlaine”, auf der Seite Göttingens, das hier als Pars pro Toto für die deutsche Seele steht, der Inbegriff von Melancholie. Dass wiederum eine kulturelle, poetische Referenz aufgegriffen wird, erleichtert die Argumentation und findet sich passgenau in die Tendenz des modernen Chansons zur Selbstreferentialität ein.
III. Analyse
Eingangs konzediert das lyrische Ich, durch die sängerische Darbietung zu identifizieren als eine Französin, in klassischer Nefas-Topik die Unvergleichbarkeit von Göttingen, ihrem Aufenthaltsort, mit Paris, ihrem vermeintlichen Herkunftsort. Dass es dort weder die Seine noch den Bois de Vincennes gäbe, es in Göttingen aber dennoch schön sei, wirkt zunächst fast schon ironisch. Ihr “c’est bien joli” lässt von Anfang an vermuten, dass sich die Erzählerin in der deutschen Universitätsstadt bzw. in die Stadt verliebt habe, was dann in der zweiten Strophe tatsächlich auch angedeutet wird: “l’amour y fleurit quand même”. Doch geht es hier nicht um die Liebe zu einem bestimmten, namentlich benannten Deutschen, sondern, wie Strophe 3 expliziert, um die Liebe zu den Deutschen im Allgemeinen, die mit ihren stereotypen Namen “Herman [sic], Peter, Helga et Hans” wie aus der Fibel daherkommen. Zugleich werden sie aber noch mit einem aus heutiger Sicht etwas seltsam klingenden Lob versehen, kennen sie sich doch hervorragend, vielleicht sogar besser als Franzosen*Französinnen selbst, in französischer Geschichte aus: “Ils savent mieux que nous, je pense, l’histoire de nos rois de France”. Statt sich also in ein Individuum zu verlieben und dazu zu stehen, was im Zeichen der Erbfeindschaft vielleicht argwöhnisch beäugt worden wäre, aber keinen wirklich außergewöhnlichen Einzelfall darstellte, bekennt hier gerade 18 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Französin, sich in die Deutschen verliebt zu haben, die zudem noch für ihre kulturelle Bildung geschätzt werden.
Die schiere Provokation der Behauptung von Gleichheit zwischen Deutschen und Franzosen*Französinnen wird durch die metaphorische Nennung Göttingens als Stellvertreter Deutschlands eingefangen und geschickt überspielt, andererseits aber auch inhaltsschwer aufgeladen. Göttingen kann schlichtweg nicht mit Paris konkurrieren und ist daher potentiell ungefährlich, während es aber auf der anderen Seite gerade die spießige Kleinbürgerlichkeit war, für die eine konservative Universitätsstadt wie Göttingen auch einsteht, die dem Nationalsozialismus den Weg geebnet hat. Die vordergründige Harmlosigkeit wäre damit in eine sehr starke Aufladung mit Spannungsmomenten überführt worden. Wenn die Erzählerin die Göttinger als “enfants blonds” schildert, erinnert sie natürlich an die Nazi-Ideologie des Ariers, holt diese aber zurück in die Realität. Es handele sich um nette Menschen, die einem zulächelten, auch wenn sie kein Französisch können. Trotzdem sind sie den Franzosen*Französinnen so nah, dass man sich gleichsam wortlos verstehen könne. Die gewagte Aussage, um deren Brisanz die Sprecherin weiß, weil sie es auch ganz bewusst aus- und anspricht: “tant pis pour ceux qui s’étonnent”, ja sogar um Verzeihung dafür bittet, eine Wahrheit auszusprechen, besteht darin, dass nämlich die Kinder in Paris wie in Göttingen gleich seien. Barbara formuliert insofern mit ihrem “les enfants ce sont les mêmes” einen basalen Gedanken der deutsch-französischen Völkerverständigkeit auf Augenhöhe. Und gleichzeitig klingt, zumindest für den heutigen Zuhörer*innen ein Stück Warnung mit: es waren eben die so harmlos Erscheinenden, die zu Mörder*innen und Kriegsverbrecher*innen wurden.
Daran anknüpfend und die vorhergehenden Gedanken auch weiterhin legitimierend, gedenkt das lyrische Ich des vergangenen Krieges und spricht insofern auch die gemeinsame Furcht vor neuen kriegerischen Verwicklungen aus. Im Gestus eines Gebets artikuliert sie, dass die Zeit von Blut und Hass nie mehr wiederkehren möge. Diese eigentlich nicht weiter zu explizierende Botschaft wird aber noch verstärkt durch den persönlichen Bezug, der die Eindringlichkeit weiter steigert. Weil sie geliebte Menschen dort hätte, sollen nie wieder Zwistigkeiten zwischen den Völkern zu Kriegen führen. Die dahinter versteckte Überzeugung wird noch deutlicher: Persönliche Beziehungen, das gegenseitige Vertrauen, sich Kennen- und Liebenlernen, sind die ideale Prävention für Auseinandersetzungen. Völkerverständigung und Völkerfreundschaft könnten nicht besser plastisch vor Augen geführt werden. Die Folgestrophe steigert abermals die Dringlichkeit ihres Wunsches, wenn die Sprecherin sich ausmalt, was passieren würde, wenn der Krieg (“lorsque sonnerait l’alarme”) wieder ausbrechen sollte. Ihr Herz würde eine Träne vergießen und sie würde trotzdem eingestehen müssen, wie schön es in Göttingen doch sei. Das französische Chanson gelangt somit mit seiner Botschaft auf eine Ebene, die das populäre Lied – im Gegensatz zum politischen Lied – in den Nachkriegsjahren zunehmend gemieden hatte. Denkt man an den deutschen Nachkriegsschlager und seine inhaltsleeren oder allenfalls lebensbejahenden Botschaften oder auch an das Chanson der 60er Jahre, so ist der Friedensappell zumindest kein lautstark gehörter. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis das politische Lied im Zuge des Vietnamkriegs und der Wiederbewaffnung eine Renaissance erlebte.
IV. Rezeption
Die Wiederholung der mahnenden Schlussstrophe, die mit “pour Göttingen” endet, wurde auch als Bekenntnis verstanden, alles zu tun, um es nie wieder zu einem Krieg kommen zu lassen. In der Tat ist das Lied zum Symbol für die damals noch junge deutsch-französische Freundschaft geworden, auch weil mit Barbara eine mit ihrer Familie vor den Nazis in den Untergrund geflohene Sängerin diese Botschaft verkündete und damit auch ihre eigene Lebensgeschichte zur Popularität des Liedes beitrug. Dass Barbara klassische französische Dichtung insbesondere der Symbolisten aufgreift, Zitate anklingen lässt (Verlaine), mit den diesen eigenen Klangspielereien operiert – etwa die für Franzosen*Französinnen besonders deutsch klingenden “h”-Laute in deutschen Namen präferiert – unterstreicht den künstlerischen Anspruch Barbaras. Schon allein die Rose als lyrische Blume verweist auf die Bedeutung von Literatur und Kunst und knüpft damit an das Dilemma französischer Intellektueller an, die den deutschen Geist verehrten, Poesie und Philosophie schätzten, sich aber im Moment der deutschen Eroberung und selbstverständlich noch 15 Jahre nach dem Kriegsende vor einem Begründungszwang wiederfanden.
Aufmerksamkeit erregte Gerhard Schröder 2003, als er seine Rede zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags mit dem Zitat des Liedes schmückte. Seit 2002 gehört GÖTTINGEN zum Repertoire der französischen Schulmusikbücher. Von Beginn an ist es im deutsch-französischen kulturellen Gedächtnis verankert und insbesondere unter frankophilen Menschen in der Bundesrepublik und germanophilen Menschen in Frankreich ein Kultlied. Die ganz große Breitenrezeption ist aber ausgeblieben, da das Lied kaum im Radio gespielt wurde und auch nicht überaus große Verkaufserfolge erzielte. Dass Barbaras Lied aber zu einem allseits bekannten kulturellen Meilenstein geworden ist, bezeugt etwa Patricia Kaas, die in ihrem “D’Allemagne” an die “roses de Göttingen” erinnert und mehr als 20 Jahre später ihr Verhältnis zu Deutschland intertextuell damit auch zu Barbara in Beziehung setzt.
CHRISTOPH OLIVER MAYER
Recordings
- Barbara. “Göttingen”. On: La mal de vivre, 1964, Philips, 844.741, France (LP/Album).
- Barbara. “Göttingen”. On: Barbara a Nº 2, 1965, Philips, B 77.859L, France (LP/Album).
- Barbara. “Göttingen”. On: Barbara singt Barbara, 1967, Philips, 842 151 PY, Germany (LP/Album).
- Barbara. “Göttingen”. On: Une Soirée avec Barbara, 1969, Philips, 844.956, France (2x LP).
- Barbara. “Göttingen”. On: Pleins Feux sur Barbara, 1971, Philips, 6641.031, Canada (2x LP).
- Barbara. “Göttingen”. On: Le Disque d’Or de Barbara, 1972, Philips, 6311.108, France (LP/Compliation).
- Barbara. “Göttingen”. On: Réimpression, 1977, Philips, 6830755, France (2x LP/Compliation).
- Barbara. “Göttingen”. On: Edition La Chanson Vol. III, 1981, Philips, 9198 362, Germany (LP/Compliation).
- Barbara. “Göttingen”. On: Récital “Pantin 81”, 1981, Philips, 6622 028, France (2x LP/Album).
- Barbara. “Göttingen”. On: Pantin 81. En Concert, 1981, PolyGram, 830 605-2, France (CD/Album).
- Barbara. “Göttingen”. On: Châtelet 87, 1987, Philips, 834040-1, France (2x LP/Album).
- Barbara. “Göttingen”. On: Gauguin, 1990, Philips 846 263-2, France (2x CD/Album).
- Barbara. “Göttingen”. On: Master Serie Vol. 1, 1991, PolyGram, 826-715-2, France (CD/Compliation).
- Barbara. “Göttingen”. On: Ma Plus Belle Histoire d’Amour…c’est Vous, 1992, Philips, 510 898-2, France (CD/Compliation).
- Barbara. “Göttingen”. On: Châtelet 93, 1993, Philips, 518 795-2, France (2x CD/Album).
- Barbara. “Göttingen”. On: femme piano, 1997, Philips, 536532-2, France (2xCD/Compliation).
- Barbara. “Göttingen”. On: Barbara singt Barbara, 1998, Mercury Records, 558519-2, Germany (CD/Album).
Covers
- Bärbel Röhl. “Göttingen”. On: Lilly Passion Barbara, 1999, Ailleurs, Germany (CD/Album).
- Lara Fabian. “Göttingen”. On: Greatest Hits, 2009, Digital Records, Russia (2x CD/Album).
References
- Anonym: “Tag der Barbara”. In: Der Spiegel 53 (1965), 91.
- Anonym. “Göttingen. L’histoire d’une chanson”. In: Écoute Audio, Mai 2012.
- Anonym. “Göttingen avec Zaz, au Bal des Enfoirés 2012”. In: Écoute Audio, Mai 2012.
- Arnold, Helmut: L’Allemagne dans la Chanson et dans la Caricature. In: Französisch heute 1, März 1993, 23–31.
- Blottiere, Raoul: “Barbara: Göttingen”. In: L’histgeobox, 25.10.2008. URL: http://lhistgeobox.blogspot.de/2008/10/109-barbaragttingen.html [21.04.2021].
- Böckmann, Ralf/Mutz, Christine: Das Deutschlandbild in französischen Chansons. In: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch, Heft 5, 1993, 36–42.
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- Jacono, Jean-Marie: La Mise en Scène de la Chanson: L’exemple de Barbara. Ed. by Fernand Hörner and Ursula Mathis-Moser: Das französische Chanson im Licht seiner medialen (R)evolutionen. Würzburg: Königshausen und Neumann 2015, 69–100.
- Thibaut, Pascal: “22 Janvier: Journée Franco-Allemande – L’Histoire d’un Hymne ‘Göttingen'”. In: L’Allemagne hors les murs, 22.01.2012. URL: http://allemagnehorslesmurs.blogs.rfi.fr/article/2012/01/22/22-janvier-journee-franco-allemande-lhistoire-dun-hymne-goe.html [21.04.2021].
- Sasportas, Valérie: “Göttingen de Barbara”. In: Le Figrao, 04.08.2011. URL: http://www.lefigaro.fr/musique/2011/08/05/03006-20110805ARTFIG00354–gottingen-de-barbara.php [21.04.2021].
About the Author
All contributions by Christoph Oliver Mayer
Citation
Christoph Oliver Mayer: “Göttingen (Barbara)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://songlexikon.de/songs/gottingen/, 07/2021.
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