1941
Billie Holiday

Gloomy Sunday

Nur selten begegnet man Songs, um die sich solch düstere Mythen ranken, wie es bei GLOOMY SUNDAY, dem “Lied vom traurigen Sonntag”, der Fall ist. Zahlreiche Selbstmorde werden mit dieser melancholischen Liedkomposition aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Verbindung gebracht.

I. Entstehungsgeschichte

1932 komponierte der ungarische Pianist Rezső Seress in Paris das Klavierlied “Vège a villágnak” (zu Deutsch: “Das Ende der Welt”), welches in Verbindung mit einem mehrmals neu geschriebenen Songtext zu “Szomorú Vasárnap” (“Trauriger Sonntag”) umbenannt wurde. Die Lyrics lieferte der Publizist László Jávor, der den Text angeblich aus Liebeskummer an einem Sonntag verfasst haben soll, nachdem ihn seine Verlobte tags zuvor verlassen hatte. Öffentliche Aufmerksamkeit erhielt das Lied sowohl durch die erste Notendruckausgabe 1933 als auch – ein wenig später – durch die erste Tonaufnahme mit dem ungarischen Sänger Pál Kalmár (1935).

II. Kontext

Im Jahre 1936 wurden zum ersten Mal diverse Suizide mit dem Lied in Verbindung gebracht. Der erste bekannt gewordene Fall soll der Freitod eines jungen Mannes gewesen sein, der sich besagtes Lied in einem Budapester Café von der dort spielenden Band gewünscht und dann im Anschluss nach Hause gegangen und sich erschossen haben soll. In einem weiteren Fall sollen Nachbarn eine Frau, die an einer Überdosis Drogen gestorben war, in ihrer Wohnung gefunden haben, während das Grammophon das “Lied vom Traurigen Sonntag” in Dauerschleife spielte. Auch die Ex-Verlobte des Texters László Jávor sei keines natürlichen Todes gestorben. Sie habe, so heißt es, nachdem sie sich das Lied angehört hatte, Selbstmord begangen und als einzigen Abschiedsgruß einen Zettel mit den Worten “Szomorú Vasárnap” hinterlassen. Es häuften sich weitere Berichte über angebliche Suizide, die durch diesen Song ausgelöst wurden. Dabei sollen Hinweise wie ein Notenblatt vom “Traurigen Sonntag” in der Hand oder die Worte “Trauriger Sonntag”, erwähnt in einem Abschiedsbrief, Verbindungen zu der “Selbstmord-Hymne” hergestellt haben. Von da an wurde auch die internationale Öffentlichkeit auf das “Selbstmordlied” aufmerksam, so dass es zu zahlreichen Neuinterpretationen und Übersetzungen kam.

“Szomorú Vasárnap” erlangte als ungarische Selbstmordhymne Berühmtheit, so traurig die Umstände dafür auch waren. Die bekannteste englische Übersetzung lieferte der amerikanische Songtexter Sam M. Lewis, ebenfalls im Jahr 1936, die bekannteste Interpretation davon wurde erst einige Jahre später, 1941, veröffentlicht, gesungen von der US-amerikanischen Jazz-Sängerin Billie Holiday. Diese Version machte den Song in vielen englischsprachigen Ländern – nun unter dem Namen GLOOMY SUNDAY – berühmt. Jedoch gab es auch heftige Kritik an der Version von Holiday, da auch sie in Verbindung mit Selbstmorden gebracht wurde – dies veranlasste den Radiosender BBC dazu, den Song aus seinem Programm zu verbannen (offiziell bis 2002).

Insgesamt ist die Quellen- und Informationslage zu GLOOMY SUNDAY überaus komplex und widersprüchlich. Es hat den Anschein, dass die Geschichten um das Lied vom “Traurigen Sonntag” einem modernen Mythos entsprechen – nicht zuletzt bedingt durch ein weiteres schicksalhaftes Ereignis: 1968 stürzte sich der Komponist Rezső Seress kurz nach seinem 69. Geburtstag aus seinem Budapester Appartement in den Tod, weil er es angeblich psychisch nicht verkraften konnte, einen Hit wie “Szomorú Vasárnap” nicht wiederholen zu können. Dies geschah an einem Sonntag.

III. Analyse

Der ungarische Originaltext und die Übersetzung von Lewis unterscheiden sich in einigen Punkten. So findet sich in der ursprünglichen Textfassung nirgends ein Hinweis oder eine versteckte Anspielung auf etwaige Selbstmordabsichten: Aus der Ich-Perspektive klagt eine Person über ihr Leben, und zu Beginn des Liedes scheint es, als habe das lyrische Ich einen lieben Menschen verloren. In der zweiten Hälfte könnte man annehmen, dass es sich nicht um einen Todesfall handelt, sondern dass das lyrische Ich ‘nur’ verlassen wurde und der Verflossenen nun eine Einladung zum eigenen Tod zu schicken scheint. Diese Interpretation könnte man autobiografisch auf den Texter beziehen, der selbst von seiner Verlobten verlassen wurde und womöglich eigene Todessehnsüchte auszudrücken versucht. Auch wenn das lyrische Ich nicht explizit von einem Freitod spricht, so wird im weiteren Verlauf deutlich, dass sich der Protagonist zumindest bald tot wähnt und dass von seiner eigenen Beerdigung die Rede ist, die sein letzter Weg “unter blühenden Bäumen” sein wird.

Bei GLOOMY SUNDAY von Lewis werden die Todessehnsüchte viel klarer angesprochen. Der Tod des im Text angesprochenen “Du” wird in den Lyrics präziser zum Ausdruck gebracht als in der ungarischen Ursprungsversion. Das lyrische Ich spricht hier von jemandem, der nie mehr “erweckt” und auch nicht von Engeln zurückgebracht wird; es denkt darüber nach, der Verstorbenen (der Getöteten?) zu folgen (“Would they be angry / If I thought of joining you?”). Im weiteren Verlauf besteht kein Zweifel mehr: “My heart and I, have / Decided to end it all”. Hier geht es nicht mehr um Überlegungen, sondern um eine Entscheidung, die getroffen wurde, nämlich “das alles zu beenden”. Später im Text kommen weitere Personen ins Spiel. Das lyrische Ich bittet jemanden darum, “sie” (3. Person Plural) nicht weinen zu lassen und “ihnen” zu sagen, dass es froh ist zu gehen: “Let them not weep / Let them know that I’m glad to go”. Wer ist mit “them” gemeint? Freunde, Verwandte? Und wer wird hierbei angesprochen, Gott? “Lass sie nicht weinen” ist eine Bitte, die man schwer an eine real existierende Person stellt, da die eigenen Tränen nicht von anderen Menschen unterdrückt werden können. Am Ende der englischen Übersetzung wurde eine Strophe hinzugefügt, die in der Originalversion nicht vorhanden ist. Sie umfasst eine Art Auflösung der Selbstmordstimmung: “Dreaming, I was only dreaming / I wake and I find you asleep / In the deep of my heart, dear / Darling, I hope that / My dream never haunted you / My heart is telling you / How much I wanted you”.

Zur Musik: Ob es sich bei der ungarischen Originalfassung um eine nachträgliche Textierung einer zuvor entstandenen Klavierkomposition handelt oder ob László Jávar den befreundeten Komponisten Seress darum gebeten hatte, eine passende Melodie für seine Worte zu erschaffen, ist umstritten. Die Dominanz des Klavierparts und die Tatsache, dass die Originalmelodie von Seress (c-Moll, 2/4-Takt, Adagio) auffällig instrumental konzipiert ist, lassen jedenfalls eher vermuten, dass der Liedtext später hinzugefügt, sprich: der rhythmisch-melodischen Struktur angepasst wurde. Kennzeichnend für die Klavier- und Gesangsmelodie Seress’ sind die durchgängig triolische Rhythmisierung, die wellenförmige Auf- und Abwärtsbewegung und die beständige (meist dreimalige) Repetition von Tönen oder Tongruppen bzw. Motiven. Insgesamt erhält die Adagio-Melodie dadurch eine ausdrucksintensive Diktion von großer Eindringlichkeit und geradezu hypnotischer Wirkung.

Im Gegensatz dazu ist bei GLOOMY SUNDAY in der Interpretation von Billie Holiday die stereotype Gleichförmigkeit der Vokalmelodie (trotz Beibehaltung einiger Triolengruppierungen) aufgebrochen, was der Sängerin viele Freiräume zur rhythmischen Gestaltung bietet. Das auf den Hauptstufenakkorden I (Gm), IV (Cm), V (D7) und VI (Eb) basierende Instrumentalarrangement ist gleichermaßen elegant fließend und sehr dicht, was dem Umstand geschuldet ist, dass die Akkordfortschreitungen durch zahlreiche Optionstöne (6, 7, 9, b5), Zwischen- bzw. Substitutdominanten sowie verminderte Septakkorde noch geschmeidiger (und harmonisch zwingender) gemacht werden. Die Begleitinstrumente (vierstimmiger Bläsersatz, Klavier, Bass, Drums) stehen ganz im Dienste der Vokalstimme von Billie Holiday, umspielen diese dezent (u. a. Schlagzeug mit Besen) und ordnen sich ihr klanglich unter. Dies hat eine andere Form der Eindringlichkeit zur Folge, die von der stimmlichen Ausdrucksintensität und Variabilität der Stimme Holidays geprägt ist.

Die von Sam M. Lewis hinzugedichtete letzte Strophe versucht die Melancholie und Trauer des Songs aufzuhellen, indem das lyrische Ich überraschend kundtut, dass alles nur ein Tagtraum gewesen sei, was harmonisch dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass das Stück acht Takte lang in die Dur-Tonika G (statt g-Moll) wechselt. Ein letztes Mal setzt Billie Holiday an – nun wieder in g-Moll – und tanzt mit den Tönen der Gesangsmelodie förmlich einen sinuskurvenartigen Schlangentanz, der jedoch bei den Worten “Gloomy Sunday” nicht wie bei den vorherigen Strophen in die Tiefe gleitet, sondern in der Höhe verharrt und somit passend zum Text am Songende ein musikalisches Fragezeichen setzt.

Der viel kritisierte Song von Seress und Jávar traf auch trotz Abwandlung in der englischen Version von Lewis noch auf Gegner. Es scheint, als sei es nicht genug, den Text mit einem neuen lyrischen Ende (Traumerlebnis) zu entkräften, da die Melodie allein bereits eine tiefe Melancholie verbreitet.

IV. Rezeption

Trotz der vielen Vorbehalte gegenüber der “ungarischen Selbstmordhymne” traf das Lied auf große Resonanz. Bis heute gibt es zahlreiche Coverversionen, etwa von Sinead O’Connor, Portishead oder Björk. In der bekanntesten deutschen Übersetzung aus dem deutsch-ungarischen Film Ein Lied von Liebe und Tod (Regie: Rolf Schübel, 1999) wurde der Text erneut abgewandelt. Hier bezieht er sich nicht mehr auf eine verstorbene Person, sondern auf die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs. Die Selbstmordgedanken entstehen nicht mehr nur in einem persönlichen Rahmen, sondern in einem gesellschaftlichen, so heißt es in der deutschen Variante: “Trauriger Sonntag, dein Abend ist nicht mehr weit / Mit schwarzen Schatten teil ich meine Einsamkeit / Schließ ich die Augen, dann seh ich sie hundertfach / Ich kann nicht schlafen, und sie werden nie mehr wach / Ich seh Gestalten zieh’n im Zigarettenrauch / Lasst mich nicht hier, sagt den Engeln ich komme auch / Trauriger Sonntag”. Dafür greift der Film selbst die Thematik der tragischen Liebesgeschichte wieder auf.

 

JULIA FREISLEDER


Credits

Music: Rezső Seress
Lyrics: László Jávor, Sam M. Lewis
Label: Columbia
Recorded: 1947 (Version Billie Holiday)
Alto saxophone: Hymie Schertzer
Bass: Johnny Williams
Clarinet: Jimmy Hamilton
Drums: J. C. Heard
Guitar: Al Casey
Piano: Teddy Wilson
Tenor saxophone: Babe Russin
Trumpet: Emmett Berry
Vocals: Billie Holiday

Recordings

  • Billie Holiday. “I’m in a Low Down Groove / Gloomy Sunday”. 1941, Okeh, 6451, USA (Shellac, 10”).
  • Billie Holiday. “Gloomy Sunday / Night and Day”. 1947, Columbia, 38044, USA (Shellac, 10″).
  • Various/Arr. Detlef Friedrich Petersen. “Gloomy Sunday”. On: Ein Lied von Liebe und Tod, 1999, WEA Records, 8573 80172-2, BRD (CD, Album, Soundtrack).
  • Heather Nova. “Gloomy Sunday”. On: Ein Lied von Liebe und Tod, 1999, WEA Records, 8573 80172-2, BRD (CD, Album, Soundtrack).
  • Marianne Faithfull. “Gloomy Sunday”. On: Ein Lied von Liebe und Tod, 1999, WEA Records, 8573 80172-2, BRD (CD, Album, Soundtrack).
  • Erika Marozsán. “Gloomy Sunday”. On: Ein Lied von Liebe und Tod, 1999, WEA Records, 8573 80172-2, BRD (CD, Album, Soundtrack).
  • Elvis Costello. “Gloomy Sunday”. On: Ein Lied von Liebe und Tod, 1999, WEA Records, 8573 80172-2, BRD (CD, Album, Soundtrack).
  • Ben Becker. “Das Lied vom traurigen Sonntag”. On: Ein Lied von Liebe und Tod, 1999, WEA Records, 8573 80172-2, BRD (CD, Album, Soundtrack).

References

  • Stack, Steven/Krysinska, Karolina/Lester, David (2008): Gloomy Sunday. Did the “Hungarian Suicide Song” Really Create a Suicide Epidemic? In: OMEGA – Journal of Death and Dying 56/4 (2007/2008), 349–358.
  • Szwed, John (2015): Billy Holliday: The Musician and the Myth. New York: Penguin Publishing Group.

About the Author

Analysis written in a course of Prof. Dr. Thomas Krettenauer at the University of Paderborn.
All contributions by Julia Freisleder

Citation

Julia Freisleder: “Gloomy Sunday (Billie Holiday)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/gloomysunday, 05/2018.

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