1969
The Rolling Stones

Gimme Shelter

Der Song GIMME SHELTER zählt zweifelsohne zu den zahlreichen ‘Klassikern’ der Rolling Stones. Seine musikalische Sprache hebt ihn jedoch deutlich von radio- und fernsehkompatiblen Hits wie “(I Can’t Get No) Satisfaction” oder “It’s Only Rock ‘n Roll (But I Like It)” ab.

I. Entstehungsgeschichte

Gimme Shelter wurde am 28. November 1969 als Eröffnungstrack des Albums Let It Bleed veröffentlicht. Die Aufnahmen zum Song fanden im Wesentlichen zu Beginn des gleichen Jahres in den Olympic Studios in London statt. Komponiert wurde GIMME SHELTER (inkl. Songtext) vom Autorenduo der Band, Mick Jagger und Keith Richards. Auf dem LP-Cover ursprünglich als “Gimmie Shelter” betitelt, setzte sich im Zuge weiterer Tonträgerproduktionen der Band (z.B. Live-Alben) der heute gültige Titel ohne Dehnungs-I am Ende des umgangssprachlichen Kompositums “Gimme” durch. In musikalisch-stilistischer Hinsicht ist festzustellen, dass der Delta-Blues-Sound der Band angereichert wird durch eine düster-dramatische Grundstimmung. In seiner bis ins Aggressive gesteigerten Dramatik nimmt der Song auch heute noch eine Sonderstellung im Schaffen der Band ein.

II. Kontext

Die Drastik der musikalischen Sprache von GIMME SHELTER ist nicht zuletzt zeitgeschichtlich zu begründen. Die Rolling Stone reagierten nach eigenem Bekunden auf die sich gegen Ende der 1960er Jahre verdichtenden (massenmedialen) Bilder von Krieg und Zerstörung in Vietnam, Rassenunruhen und Studentenprotesten. Die apokalyptischen Aussagen des Textes und der grollende Sound griffen demnach ein grundsätzliches Empfinden zu jener Zeit auf. Hingegen schien der sich an der Schwelle zu den 1970er Jahren in der Musik selbst abzeichnende Wechsel hin zu härteren Ausdrucksformen – verkörpert durch Künstler wie Jimi Hendrix, Led Zeppelin und Deep Purple – die Band nicht übermäßig zu beeindrucken. Die Rolling Stones blieben in den Folgejahren und -jahrzehnten ihrem eher moderaten, durch den Delta Blues geprägten Stil weitgehend treu. Eine Anpassung an den musikalischen Zeitgeist, konkret: an die Disco-Ära, fand allenfalls auf dem im Jahr 1978 erschienenen Album Some Girls statt – beispielhaft hierfür: die Hitsingle “Miss You”.

III. Analyse

Der Song dauert 4:37 Minuten; das Tempo beträgt ca. 116 bpm. Neben Haupt- und Nebengesang kommen folgende Instrumente zum Einsatz: E-Gitarre(n), E-Bass, Piano, Schlagzeug, Percussion. Bemerkenswert ist die formale und harmonische Einfachheit des Songs. Es dominiert der Wechsel zwischen Strophe und Refrain, der durch drei kürzere Zwischenspiele und ein Gitarrensolo durchbrochen wird. Anfang und Ende werden durch Intro bzw. Outro (inkl. Fade-Out) markiert. Die Einfachheit auf harmonischer Ebene lässt sich an der Verwendung eines Akkords in den Strophen, dem tonalen Zentrum Cis, und einer absteigenden Akkordfolge im Refrain (bestehend aus den drei Akkorden Cis, H und A) ableiten. Die Pendelbewegung zwischen A und E am Ende dieser Akkordfolge lässt sich aufgrund der Kürze des letztgenannten Akkords (Anschlag im Achtelnotenwert) nur bedingt als harmonisches Konzept wahrnehmen. Auffallend und im Hinblick auf den Spannungsverlauf des Songs von besonderer Bedeutung, ist die Gestaltung des Intros. Über die Dauer von 50 Sekunden werden verschiedene Tonspuren aufgeschichtet. Zunächst ist lediglich die Rhythmusgitarre zu hören. Ihr Part konstituiert sich in einer Aneinanderreihung von Blues-Licks auf der Akkordfolge Cis | H | A | A – aufgrund der offenen Stimmung der Gitarre in E, H, E, Gis, H, E mutet das synkopische Bluesspiel in Teilen exotisch (v.a. ostasiatisch) an. Nach vier Takten kommen die Gesangsspur (ein ausgedehnter in Falsettstimme vorgetragener Melodiebogen bestehend aus drei Noten), die Leadgitarre (bluestypische Abfolge von Licks und gehaltenen Töne in höherer Lage) und Percussion (Guiro) sowie Schlagzeug (Ride) hinzu. Nach weiteren acht Takten setzt der Bass auf dem Grundton Cis ein, der über die Dauer der viertaktigen Akkordfolge nicht verlassen wird, so dass ein Bordun-Effekt erzielt wird. Wiederum vier Takte später erklingt das Klavier in Form einer Oktavschichtung auf dem Grundton Cis, wodurch der Bordun-Effekt verstärkt wird. Schließlich (erneut vier Takte später) gehen die konsekutiv eingeführten Instrumente (ohne Stimme) in die Spielmuster der Strophe über. Im Ganzen zeigt sich, dass das Gestaltungsmittel der allmählichen Aufschichtung der Klangspuren in besonderem Maße dazu beiträgt, dass der Song tendenziell das Gefühl einer herannahenden Bedrohung hervorruft. Die verhältnismäßig lange Dauer des Intros (50 Sekunden) mag ihrerseits einer der Gründe dafür sein, dass der Song im Vergleich zu anderen Hits der Band (siehe oben) nicht sonderlich radio- oder fernsehaffin erscheint.

Der Songtext in den Strophen schildert aus einer Ich-Perspektive heraus, verschiedene Facetten einer akuten Bedrohungslage. Diesbezüglich verwendete Sprachbilder sind: “storm”, “fire”, “mad bull” und “floods”. In der dritten Strophe fleht der Ich-Erzähler, dass ihm Schutz gewährt werden müsse (“Gimme, gimme shelter”), andernfalls würde er sterben (“fade away”) – hier findet der Songtitel seine einzige Entsprechung im Songtext. Dem eher schildernden Stil in den Strophen, wird eine appellartige Ausdrucksweise im Refrain gegenübergestellt (“War, children! It’s just a shot away, it’s just a shot away”). In den Wiederholungen des Refrains am Ende des Songs wird die angstmotivierte Ansprache schließlich ins Affirmative gewendet. Nun heißt es: “I tell you love, sister, it’s just a kiss away, it’s just a kiss away”. Ein besonderes Merkmal der Aufnahme ist die Rolle, die der afroamerikanischen Gastsängerin Merry Clayton zugedacht wurde. Während sie in den ersten beiden Refrains zusammen mit Mick Jagger zu hören ist, übernimmt sie im Mittelteil des Songs einen Solopart. Sie singt die Hookline des Refrains über die Zeilen “Rape, murder! It’s just shot away, it’s just a shot away”. Auffallend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass sie trotz der hohen Lage (zweigestrichen Oktave) im Brustregister singt. Ungeachtet der physischen Kraftanstrengung, die hiermit verbunden ist, bleibt ihr Gesang klar und intonatorisch rein. Lediglich an einer Stelle überschlägt sich ihre Stimme (3:02), was Mick Jagger zu einem spontanen Beifallsruf veranlasste (auf der Aufnahme im Hintergrund zu hören). Im Instrumental-Outro, in dem vor allem die schrille mit einem Fuzz-Effekt unterlegte Leadgitarre von Keith Richards hervorsticht, wird schließlich eine überbordende, fast schon chaotisch anmutende Klangkulisse aufgebaut.

IV. Rezeption

Trotz der ursprünglichen Veröffentlichung von GIMME SHELTER als reinem Albumtrack, genießt der Song seit jeher unter Fans und Musikexperten hohe Popularität. Dies lässt sich nicht zuletzt daran belegen, dass er in Listen wie den “500 Greatest Songs of All Time” (Rolling Stone Magazine) oder den “The 200 Greatest Songs of the 1960s” (Pitchfork Media) auf relativ hohen Plätzen (38 und 12) geführt wird. Der Song diente zudem als Titelgeber für die gleichnamige Tour-Dokumentation aus dem Jahr 1970. Ausschlaggebend hierfür war, dass in dem Film Bezug auf die Vorkommnisse während des Altamont Free Concert (Dezember 1969) genommen wird. Als eine Art Westküstenversion von Woodstock geplant (mit den Rolling Stones als Headliner), erlangte besagtes Festival traurige Berühmtheit durch eine kollektive Eruption der Gewalt – reale und musikalisch dargestellte Gewalt wurden hiernach durch den Filmtitel miteinander verknüpft. Einige Vertreter der heutigen Popgeschichtsschreibung erkennen in dem Festival gar das Ende der Hippie-Ära. Die transmediale Allianz mit der Tour-Dokumentation dürfte in nicht zu unterschätzendem Maße dazu beigetragen haben, dass der Song heutzutage in ikonischer Weise aus dem schier unermesslichen Fundus der Popkultur heraustritt. Im Jahr 1998 schließlich wurde GIMME SHELTER als Single des Live-Albums No Security ausgekoppelt. Es existieren diverse Coverversionen, u.a. von Patti Smith (2007), Angélique Kidjo (2007) und Puddle of Mudd (2011).

 

CHRISTOFER JOST


Credits

Hauptgesag: Mick Jagger
Haupt- und Nebengesang: Merry Clayton
Nebengesang, E-Gitarre: Keith Richards
E-Bass: Bill Wyman
Drums: Charlie Watts
Piano: Nicky Hopkins
Percussion, Producer: Jimmy Miller (Produzent)
Veröffentlichung: 28. November 1969
Länge: 4:37

Recordings

  • The Rolling Stones. “Gimme Shelter”. On: Let It Bleed, 1969, London Records, X 70167, USA (Vinyl/Album).
  • The Rolling Stones. “Gimme Shelter”. On: No Security, 1998, Virgin, 724384674021, USA (CD/Album).
  • The Rolling Stones. Gimme Shelter, 1998, Virgin, CDVDJX 2880, Europa (CD/Single).

Covers

  • Patti Smith. “Gimme Shelter”. On: Twelve, 2007, Columbia, 88697 083712, Europa (2xLP).
  • Angélique Kidjo. “Gimme Shelter”. On: Djin Djin, 2007, Razor & Tie, 82967, Europa (CD/Album).
  • Puddle of Mudd. “Gimme Shelter”. On: Re:(disc)overed, 2011, Arms Division, POM01, USA (CD/Album).

References

  • Kampmann, Wolf/Schmidt-Joos, Siegfried: Pop-Lexikon. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002.
  • Russell, Ethan A.: Let it bleed. Die Rolling Stones, Altamont und das Ende der Sixties. Hamburg: Edel 2010.
  • The 500 Greatest Songs of All Time. In: Rolling Stone Magazine 963. 2004.
  • Pitchfork: www.pitchfork.com [13.07.2012].

About the Author

PD Dr. Christofer Jost is research associate at the Zentrum für Populäre Kultur und Musik, University of Freiburg, and teaches media studies at the University of Basel.
All contributions by Christofer Jost

Citation

Christofer Jost: “Gimme Shelter (The Rolling Stones)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/gimmeshelter, 07/2012 [revised 10/2013].

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