Der Song GELERNT von Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi konstatiert sowohl in einfachen als auch in einprägsamen Bildern die Machtlosigkeit, in der heutigen konsumorientierten Gesellschaft eine starke, emotional gefestigte Persönlichkeit zu entwickeln.
I. Entstehungsgeschichte
GELERNT erscheint erstmals am 19. Mai 2017 auf dem zweiten Album der Band Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi, Das nullte Kapitel (Label: Kreismusik). Mit der Veröffentlichung des Albums startete die Band ihre Tour durch Deutschland und spielte unter anderem in Hamburg, Berlin, Köln und München. Verantwortlich für die Songtexte ist Robert Gwisdek, der als Musiker unter dem Namen Käptn Peng bekannt geworden ist. Vor seiner Musikkarriere war Gwisdek bereits als Schauspieler tätig. Dabei erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und gewann zunehmend an Bekanntheit. Seine musikalische Laufbahn beginnt er 2010 mit seinem älteren Bruder Johannes Gwisdek alias Shaban in der Formation Shaban & Käptn Peng. 2012 schließen sich die Geschwister dann mit Moritz Bossmann (Gitarre), Boris Nielsen (Bassist) und Peter Bartz (Percussion) zusammen und werden zu Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi. Neben herkömmlichen Instrumenten verwendet die Gruppe auch Alltagsgegenstände und bietet somit einen individuellen Sound. Um die eigene Musik möglichst frei produzieren zu können, gründete die Band ihr eigenes Label namens Kreismusik (vgl. Gier 2013, Zylka 2013).
Der Song ist im Vergleich zu anderen Songs der alternativen Hip-Hop Band musikalisch einfach gehalten, jedoch textlich vielschichtig. Während Songs wie “Pi” oder “Backpfeifenernte auf dem Alphabeet” auf sprachlicher Ebene eher frei-assoziativ sind und einen feinsinnig-lyrischen Stil offenbaren, sind die Worte in GELERNT eindeutig und klar gewählt, sodass Botschaften unzweideutig vermittelt werden können.
Bei Käptn Peng & Die Tentakel lässt sich eine neue Entwicklung des deutschen Hip-Hop beobachten. Während Deutschrapper wie Capital Bra oder Bushido in die Rubrik “Gangster-Rap” (Gerhardt 2019) fallen, tendenziell Rap-Klischees bedienen und über Drogen, Sex und Luxus texten, singen Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi einerseits über gesellschaftlich relevante Themen, andererseits oft in verrätselter Form über alltagsferne, abwegige Dinge. Zu vermuten ist, dass sie ein anderes Publikum ansprechen wollen als klassische Rapper. Viele ihrer Texte regen zum Nachdenken an und verbinden Poesie mit Rap-Musik.
II. Kontext
In dem Song werden einige Themen angesprochen, die aktuell in einem breiten gesellschaftlichen Kontext verhandelt werden. So wird Kritik geübt an den klassischen Rollenerwartungen, die an junge Frauen gerichtet werden. Von ihnen werde erwartet, freundlich zu sein, keine Wiederworte zu geben, eine gute Figur zu haben und sich konform zu verhalten. Dabei wird auf Heidi Klum verwiesen, die stellvertretend für die Sendung “Germany’s Next Topmodel” (GNTM) steht. Die Sendung läuft seit 2006 im deutschen Fernsehen und wird pro Jahr drei bis vier Monate lang gesendet. Es gibt verschiedene Studien, die das Selbstbild von Mädchen und jungen Frauen in Bezug auf den Konsum dieser Sendung behandeln. Festgestellt wird, dass der eigene Körper oft als unzulänglich angesehen wird. Das regelmäßige Schauen der Sendung kann demnach sogar Essstörungen zur Folge haben. Im Vordergrund der Sendung steht das Erscheinungsbild der Frau, das als entscheidender Faktor der Persönlichkeit präsentiert wird (vgl. Götz/Mendel o.J.: 80–93).
Um das Selbstbild aufzuwerten, versuchen viele Menschen, anderen zu gefallen. Sie eifern also Schönheitsidealen nach, versuchen die Meinungen anderer zu bestätigen, bleiben freundlich und zuvorkommend. Dies lässt sich mit dem Begriff der “Fremdbestätigung” umschreiben: Der eigene Wert steigt, sobald von außen ein positives Feedback gegeben bzw. Anerkennung suggeriert wird. Dem gegenüber steht die Selbstbestätigung. Dabei schreibt man sich selbst einen bestimmten Wert zu und ist somit nicht auf äußere Anerkennung angewiesen (vgl. Depner o.J.). Besonders Frauen neigen aufgrund eines Zusammenspiels von Erziehung resp. Sozialisation und evolutionsbiologischen Faktoren dazu, beziehungsorientiert zu handeln und somit stark von der Meinung anderer abhängig zu sein (vgl. Urstof o.J.). Im Song wird daran appelliert, sich wieder mehr auf die eigene Meinung und die eigene Persönlichkeit zu beziehen und sich eben nicht für andere zu verstellen und nach Fremdbestätigung zu suchen.
Außerdem wird im Song kritisch auf den Aspekt der Konsumorientierung eingegangen. Viele Menschen versuchen, sich ihr Glück oder ihre Zufriedenheit gleichsam zu kaufen und scheinen immer öfter in neue Produkte zu investieren. Dass dies auf Dauer nicht glücklich macht, ist zwar bekannt, wird jedoch in Kauf genommen bzw. in Anbetracht der Fülle an oft individualisierter Werbung in den sozialen Medien verdrängt. Gwisdek erkennt Ähnlichkeiten zwischen den Menschen mit ebendiesen Produkten: Der Mensch hat in der konsumorientierten Gesellschaft zu funktionieren, Profit zu erbringen und die ihm vorgeschlagenen Artikel zu kaufen. Sich selbst und das eigene Verhalten dabei zu reflektieren, wird – aus wirtschaftlicher Perspektive – weder erwartet noch gewünscht.
III. Analyse
Der Song GELERNT lässt sich in drei Abschnitte unterteilen und ist eher einfach gehalten. Auffallend ist, dass der Song keinen Refrain aufweist, sondern sich vielmehr durch eine stetige Steigerung auszeichnet. Zu Beginn wirkt die Stimme noch ruhig und wird sanft von den Instrumenten begleitet, zunächst durch eine Gitarre mit starkem Tremolo. Im weiteren Verlauf kommt dann das Schlagzeug hinzu und die Tonlage des Sprechgesangs entwickelt sich nach und nach von einer entspannten Teilnahmslosigkeit zu einer vorwurfsvollen Entrüstung. Diese Entwicklung verläuft analog zu den transportierten Sprachinhalten.
Durch die musikalische Einfachheit des Liedes wird die Aufmerksamkeit schnell auf die gesungenen Worte gelenkt, weshalb diese im Folgenden im Fokus stehen sollen: Zunächst wird geschildert, was das angesprochene Du alles im Laufe seiner/ihrer Sozialisierung gelernt hat. Auf diese Lernerfahrungen bauen die dargestellten Situationen und Gedankengänge auf, die fortwährend sowohl negativ konnotiert sind als auch auffordernd wirken.
Dabei bezieht sich das lyrische Ich wie bereits geschildert auf verschiedene gesellschaftliche Themen wie die typischen Rollenerwartungen, die an junge Frauen herangetragen werden oder die Erwartung, dass die im Song angesprochene Person für die Belange anderer Menschen funktionieren müsse. Darin liegt der unausgesprochene Vorwurf, es als selbstverständlich anzusehen, eigene Ansichten und Bedürfnisse nicht zu beachten.
Auffallend ist, dass in den ersten Zeilen vier Mal zum Satzanfang “Du hast gelernt” erklingt. Hier wird der Bezug zum Titel des Songs hergestellt. Der Begriff des Lernens steht unter anderem für den Prozess der Aneignung von Verhaltensweisen und Wissen (vgl. Maier/Bartscher/Nissen 2018). Im alltäglichen Sprachgebrauch ist er zumeist positiv konnotiert, was beispielsweise an der Aussage “Du hast schon viel gelernt im Leben” deutlich wird. Hier geht man nicht davon aus, dass es sich dabei um ein Lernen handeln könnte, dessen angeeignete Verhaltensweisen der angesprochenen Person eher schaden als fördern.
In Bezug auf den Song lässt sich somit eine gewisse Ironie bzw. Irreführung ausmachen. So wird nach einigen Zeilen deutlich, dass im gesamten Verlauf explizit auf ein das Individuum schädigendes Lernen angespielt wird.
Im Folgenden wird nun anhand von Textbeispielen konkretisiert, was genau unter dieser “negativen“ Auslegung von “Lernen“ im Song zu verstehen ist: In den ersten vier Zeilen wird zwar direkt das “Du” angesprochen, allerdings geht es inhaltlich ausschließlich um “die ander’n”, um ihre Wünsche und Gefühlslagen. Dies wird noch unterstrichen durch den Gegensatz von “flüstern” und “fauchen“. Die angesprochene Person habe demnach gelernt, sich zurückzuhalten, um anderen das Wort zu überlassen. Diese Zurückhaltung bzw. das Herabsetzen der eigenen Bedürfnisse im Vergleich zu denen anderer wird im weiteren Songverlauf noch mehrmals thematisiert. In Anlehnung daran kann auch von einer Passivität des Subjekts in einer konsumorientierten Gesellschaft gesprochen werden, die beklagt wird. Zum einen äußert sich dies in Ausdrücken wie “Hineinpumpen” oder “Füttern”; diese stehen metaphorisch für einen Prozess, durch den ein passives Subjekt mit Schönheitsidealen und weiteren irrealen Vorstellungen überfrachtet wird. Zum anderen wird die Passivität der angesprochenen Person in dem Vorwurf unterstrichen, dass sie “zu feige [sei], selber zu fühlen, selber zu denken und [sich] selber zu spüren”. Diese Aussage birgt gleichzeitig die Aufforderung in sich, den Mut zu haben, etwas an der eigenen Situation zu verändern. Gwisdek verweist hier darauf, dass es einige Anstrengungen erfordert, um sich aus der “Gefangenschaft” gegenwärtiger Weltanschauungen zu befreien. Es ist zwar laut Songtext nicht selbstverschuldet, sich den gesellschaftlich vorgeschriebenen Bildern zu unterwerfen, allerdings wird im Outro darauf hingewiesen, dass man an der eigenen Einstellung nur selbst etwas ändern könne.
Ein weiterer Punkt, der im Song angesprochen wird, ist das Sich-Sehnen nach Bestätigung von außen. Durch das ständige “Nett[-Sein]” und dem zwanghaften Wunsch, von allen Leuten gemocht zu werden, bestehe die Gefahr, nur für andere zu leben und sich dem Willen der Gesellschaft zu unterwerfen. Hier kann auf das in Abschnitt II beschriebene psychologische Phänomen verwiesen werden, das sich im Konflikt zwischen Selbst- und Fremdbestätigung manifestiert. Ein Mensch wird fremdbestimmt, wenn er bevormundet wird oder sein Selbstbild durch erlernte Anschauungen verzerrt wird und somit nicht der eigenen Persönlichkeit entspricht (vgl. Depner o.J.). Durch die beständige Orientierung an einem äußeren Idealbild, etwa einem Schönheitsideal, wird der Selbstwert heruntergesetzt.
In diesem Sinne bezieht sich das “Gelernte” auf ein labiles Persönlichkeitskonstrukt, das sich bereits im jugendlichen Alter durch problematische Aneignungen entwickelt hat. Sich ständig rollenkonform zu verhalten, weckt zwar zunächst den Eindruck, eine sympathische Person zu sein, wodurch Bestätigung erfahren wird. Allerdings ist dies laut Aussage des Songs wie ein “Haus, welches dir lächelnd verspricht, dass es dich beschützt, während es über dir zusammenbricht”.
Der Songtext bzw. der Gesangspart richten sich, wie oben erwähnt, an ein (fiktives) Gegenüber, wodurch ein gewisser Vortrags- und Aufforderungscharakter entsteht. Es lässt sich aus verschiedenen Textpassagen schließen, dass insbesondere eine Frau angesprochen wird. In einem Abschnitt ist jedoch von einem Kollektiv, einem “Wir” die Rede. Hier artikuliert sich eine der Kernaussagen des Songs, wonach der Mensch ein “Wunder” sei, jedoch durch die vielen Ablenkungen der modernen Konsumgesellschaft verlernt habe, sich selbst als solches zu schätzen.
Die Erzähldimension des Liedes folgt im Kern einer chronologischen Darstellungslogik. Zunächst wird beschrieben, wie das “Du” Dinge gelernt hat, danach wird geschildert, wie es nun gegenwärtig als funktionierendes Wesen für andere agiert. Im Outro wird eine Aussicht geliefert, wie das Leben für die angesprochene Person weiter verlaufen wird, wenn diese nichts an der eigenen Situation ändert.
IV. Rezeption
Bekannt wurde der Song durch die Veröffentlichung des Albums Das Nullte Kapitel und die darauffolgenden zahlreichen Konzerte innerhalb Deutschlands. In verschiedenen Zeitungsartikeln wird im Vergleich zu anderen Songs des Albums dieser als ernsthaft und kritisch beschrieben. Er wird außerdem als “feministisches Statement” (Lorenz 2017) verstanden, der sich deutlich von anderen Liedern des Albums absetzt. Dabei nehme Käptn Peng die Rolle des “Sozialkritikers” (Mann 2016) ein, was ihm gut gelinge, weshalb der Song zu einem der besten des Albums gehöre. Ein Musikvideo des Songs existiert nicht, allerdings erfreut er sich auf YouTube aktuell mit etwa 1,65 Millionen Aufrufen (Stand: November 2024) einer gewissen Bekanntheit.
MIRIAM WEWELER
Credits
Guitar: Moritz Bossmann
Vocals: Robert Gwisdek
Composer: Johannes Gwisdek
Percussion: Peter Bartz
Bass: Boris Nielsen
Songwriting: Robert Gwisdek
Producer: Jens Güttes/Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi
Label: Kreismusik
Recorded: Kreislabor Studio
Published: 2017
Length: 03:21
Recordings
- Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi. Das nullte Kapitel, 2013, Kreismusik, Kreis 016, Germany (CD/Album).
References
- Depner, Michael: Fremdbestimmt. In: Seele und Gesundheit. URL: https://www.seele-und-gesundheit.de/psycho/fremdbestimmung.html [11.02.2020].
- Gerhardt, Daniel: “Gangster-Rap. Vom Bordstein zur Skyline”. In: Zeit online, 28.12.2029. URL: https://www.zeit.de/kultur/musik/2019-12/gangsterrap-jugendkultur-capital-bra-bushido-haftbefehl-charts-jahrzehnt [11.02.2020].
- Gier, Frauke: “Käptn Peng und die Tentakel von Delphi. Eine Sprachexpedition des Absurden”. In: Goethe-Institut, 2013. URL: https://www.goethe.de/ins/jp/de/kul/sup/mag/20718363.html [20.11.2024].
- Götz, Maya/Mendel, Caroline: Germany’s Next Topmodel. In: Warum seh’ ich nicht so aus? Fernsehen im Kontext von Essstörungen. IZI und ANAD e.V., 80–142. URL: https://izi.br.de/deutsch/publikation/Fernsehen_Essstoerungen/Warum_seh_ich_nicht_so_aus.pdf
- Kreismusik: Käptn Peng, Shaban, die Tentakel von Delphi… . In: Kreismusik. URL: https://kreismusik.de/de/kaeptn-peng-shaban-die-tentakel-von-delphi/ [14.01.2020].
- Lorenz, Julia: Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi. Das nullte Kapitel. In: Musikexpress, 19.05.2017. URL: https://www.musikexpress.de/impressum/ [13.02.2020].
- Maier, Günter/Bartscher, Thomas/Nissen, Regina: Lernen. In: Gabler Wirtschaftslexikon, 14.02.2018. URL: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/lernen-41169/version-264539 [11.02.2020].
- Mann, Alexander: Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi – Das nullte Kapitel. In: Ahoimag, 2017. URL: https://www.ahoimag.de/2017/05/22/kaeptn-peng-die-tentakel-von-delphi-das-nullte-kapitel/ [13.02.2020].
- Urstof, Anne-Ev: Frauen im Beruf: Typisch Frau? Befreie dich von Stereotypen. In: evidero. URL: https://www.evidero.de/geschlechterstereotypen-hinterfragen [10.02.2020].
- Zylka, Jenni: Käptn Peng hat’s mit der Sprache. In: Zeit online, 11.04.2013. URL: https://www.zeit.de/kultur/musik/2013-04/kaeptn-peng-tentakel-delphi [10.02.2020].
About the Author
All contributions by Miriam Weweler
Citation
Miriam Weweler: “Gelernt (Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://www.songlexikon.de/songs/gelernt, 11/2024.
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