1971
Michel Conte / Isabelle Pierre

Évangéline

ÉVANGÉLINE ist ein kanadisches Chanson, welches Akadien, das ehemalige französische Kolonialgebiet in Nordamerika, besingt, das insbesondere im frankophonen Teil Kanadas zu einem mythischen Ort geworden ist, analog zum griechischen Arkadien, von dem es vermutlich seinen Namen hat.

I. Entstehungsgeschichte

1971 schrieb Michel Conte, ein nach Québec ausgewanderter französischer Choreograph und Komponist, das von Isabelle Pierre intonierte Chanson, das den akadischen Mythos schlechthin aufgreift, wie er in der Lyrik 1847 seinen Ausdruck durch Henry Wadsworth Longfellows berühmtes episches Gedicht Evangeline, A Ttale of Acadia, ein wahrer Bestseller seiner Zeit, fand. Dabei baut das Chanson von Michel Conte auf dem an die Übersetzung des Epos durch Léon-Pamphile Le May (1865/1912) anschließenden Évangéline-Kult im frankophonen Nordamerika auf, der als akadischer Nationalmythos gelten kann und sich seit Mitte des 19.Jahrhunderts vielfältig verdichtet hat (siehe Kolboom 2005: 167ff. bzw. 204ff.).

II. Kontext

Das Chanson auf die unglückliche Jungfrau schließt an ähnliche Verarbeitungen des tragischen Stoffes aus dem akadischen Grand Dérangement an, z.B. von André-Thaddée Bourque 1910. Michel Conte allerdings vereinnahmt für sich die Wiederentdeckung der Acadie im Bewusstsein Québecs und setzt dies auch in seinen weiteren Chansons um. Die Beliebtheit des Liedes “Évangéline” als heimliche Nationalhymne der Frankokanadier und -amerikaner bezeugt eine sehr breite Rezeptionsgeschichte und die obligatorische Aufführung bei einschlägigen Feiern und Jubiläen im Gedenken an die Historie des frankophonen Nordamerikas.

III. Analyse

Das sechsstrophige Chanson von Michel Conte ist eine geschichtserzählende Ballade, die ganz im Stile des ,story telling’ diese moderne Form des mittelalterlichen Bänkelsangs fortführt. Entsprechend dem Grundprinzip der Ballade sind die Strophen identisch aufgebaut und kulminieren im wiederholten Refrain “Évangéline”, der der Tragik des Schicksals der jungen Akadierin Ausdruck verleiht. Nach den ersten fünf Strophen, die die Geschichte der Protagonistin wiedergeben, stellt eine Geleitstrophe, einem Epimythium gleich, den Bezug zur Lebenswelt und Allgemeingültigkeit der Aussagen her. Indem sowohl von Michel Conte, der dem Typus des beliebten Chansonniers der 1960er Jahre entspricht und stimmlich Jean-Claude Pascal ähnelt, als auch von Isabelle Pierre, die sehr dramatisch akzentuiert singt, das Hauptaugenmerk auf die Geschichte gelegt wird, dient die Instrumentierung (Gitarre) vor allem der Dramatisierung. Die deutlich theatralischeren und emotional aufgeladenen Versionen im nationalrepräsentativen Kontext, etwa von Marie-Jo Thiero anlässlich der Gedenkfeier in Québec 2005 arbeiten hingegen mit Klavier und Chor.

ÉVANGÉLINE beginnt mit der romantischen Grundstimmung eines klaren, sonntäglichen herbstlichen Nachthimmels (“Les étoiles étaient dans le ciel”) und der Idealität einer erfüllten Liebe. Das Ich spricht zur Protagonistin Évangéline und evoziert mit ihr zusammen deren Glück mit Gabriel (“Toi dans les bras de Gabriel”). Deren gemeinsame Hochzeit steht unmittelbar bevor (“Tu allais te marier”) und nichts scheint das Glück zu trüben. Während die erste Strophe somit Naturvollkommenheit, Gottvertrauen und Idylle aufbaut, erfolgt der Bruch mit dem Auftakt der zweiten Strophe recht abrupt: “Mais les Anglais sont arrivés”.

Die Ankunft der Engländer verortet die Geschichte an dem neuralgischen Zeitpunkt der akadischen Vergangenheit im Jahr 1755. Im Konflikt mit den Franzosen ließen die Engländer in Nordamerika mehr als zehntausend Akadier zusammentreiben, verschiffen und irgendwo in Kanada verstreuen, wobei wohl fast ein Drittel diese Aktion nicht überlebte (vgl. Kolboom/Mann 2005: XXI). Genau diesen (historisch nicht ganz unumstrittenen) Vorgang beschreibt das Gedicht detailliert: Die Männer werden in die Kirche gesperrt, die Frauen und Kinder werden am Hafen versammelt. Schließlich wird Gabriel – hier kehrt die Perspektive zurück zur Geschichte der Protagonistin Évangéline – auf ein Segelboot verladen – “Sans un adieu, sans un sourire”. Der Schock ist so groß, dass der Geliebten selbst der Trost im Gebet versagt bleibt.

Die Folgestrophe schildert die weitere Lebens- und Leidensgeschichte Évangélines, bestimmt durch die jahrzehntelange ergebnislose Suche nach ihrem Geliebten (“À travers toute l’Amérique”). Ihr ganzes unstetes Leben wird nur noch von den Gedanken an die verlorene Liebe geleitet: “Il était toutes tes pensées”. Den Alltag, so erfahren wir in der vierten Strophe, bestimmt ihre Ablenkung versprechende Aufopferung für ihre Mitmenschen, für “Ceux qui souffraient plus que toi-même”, die Évangéline als altruistisch, treu und herzensgut ausweist. Eines Sonntagmorgens glaubt sie, deren Gedanken immer noch nur von Gabriel gelenkt werden, die Glocken ihres Dorfes wieder zu hören und begreift, dass ihr Leiden nun ein Ende hat. Vor ihr, so die fünfte Strophe, liegt in einem Krankenbett ein Sterbender. Es ist wohl der lang vermisste Gabriel, der schließlich in ihren Armen stirbt.

Im Geleitteil der Ballade wird die epische Wendung des Erzählers hin zum Allgemeinen und zur Bedeutung der Heimat ausgedrückt: “Il existe encore aujourd’hui / Des gens qui vivent dans ton pays”. In der Heimat erinnert man sich auch noch heute an einen: Évangéline kann sich ihres Andenkens sicher sei. Die Erinnerung verharrt in den Weiten des Ozeans, in Wind und Wald. Évangéline ist im kulturellen Gedächtnis verankert, über Akadien hinaus, als Symbol für “tous ceux Qui, malgré qu’ils soient malheureux, Croient en l’amour et qui espèrent”. Das Lied endet mit der mehrfachen Wiederholung des Namens von Évangéline, der als solcher bereits zum Symbol der Tragik und der Hoffnung zugleich geworden ist.

Die doch recht schlichte Schwarz-Weiß-Malerei und die konkrete räumlich-zeitliche Verortung der Eposvorlage wird also gekonnt durch die Verallgemeinerung getilgt, schon ersichtlich in der Streichung der sprechenden Nachnamen Évangéline Bellefontaine und Gabriel Lajeunesse. Die langen Jahre der Suche führen erst im hohen Alter, als sie sich schließlich in Philadelphia niederlässt und in der Armenfürsorge tätig wird, zum Erfolg: Gabriel, todkrank, erliegt in ihren Armen einer Epidemie. Die Tragik allerdings erhält einen nationalen Stolz zur Seite bzw. ein trotziges Pathos: Gefühle, Erinnerung und der stille Triumph des Sentimentalen vor dem Tode stärken das Selbstbewusstsein der Acadie, die sich im Mythos der Évangéline ein wichtiges Versatzstück der Hobsbawmschen “Invention of tradition” gefunden hat. Die Popularität ergibt sich somit als kongeniales Zusammenspiel eines pathosreichen Inhalts mit einer musikalisch ansprechenden Umsetzung.

IV. Rezeption

ÉVANGÉLINE ist eines der meistinterpretiertesten französischen Chansons in Nordamerika. Die erste Fassung wurde von Isabelle Pierre aufgenommen und später vom Komponisten und Texter Michel Conte selbst gesunden. Die bekanntesten Cover-Versionen stammen von Marie-Jo Thério, Rosemarie Landry, Lyne Lapierre, Annie Blanchard, Isabelle Roy, Marie Williams, Carolyne Jomphe oder Les Muses.

Dass ÉVANGÉLINE bis heute als nationaler Mythos fungieren kann, ist durchaus (auch) auf die Popularität des Chansons zurückzuführen. Denkmäler finden sich etwa in Grand-Pré / Nova Scotia sowie in St. Martinville / Louisiana. Musikalisch wird das Thema “Évangéline” auch im anglophonen Raum v.a. durch Emmylou Harris und Robbie Robertson/The Band (Film: The Last Waltz 1977) und in anderen Versuchen der Kreation heimlicher frankokanadischer Nationalhymnen wie in “O Evangeline” (Emmylou Harris 2003) wieder aufgegriffen. 1998 entstand ein Musical. 2006 ist das Lied in der Version von Michel Conte und gesungen von Annie Blanchard erneut als das beste des Jahres in Québec mit dem ADISQ Award ausgezeichnet und damit als Evergreen kanonisiert worden.

 

CHRISTOPH OLIVER MAYER


Credits

Vocals: Isabelle Pierre (Michel Conte)
Arrangement: Marc Fortier, Stéphane Venne
Autor: Michel Conte
Label: Barclay
Aufnahme: 1971
Spieldauer: 5:05

Recordings

  • Isabelle Pierre. “Évangéline”, Heureuse, 1971, Barcley, 80089, Canada (Vinyl, LP, Album).
  • Michel Conte.”Évangéline”, Comme un grand cri d’amour, 1998, Éditions Guzzi, EG998-4, Canada.

Covers

  • Rosemarie Landry: Chansons d’Acadie et de France, 1983,  Fanfare, DFL-6005 Canda (LP).
  • Isabelle Roy: Pays de Barbarie, 1999/2000, Distribution Plages, BSCD 2579.
  • Marie Williams: Tout un monde, 2001, MJ Musique, B000065GZX.
  • Les Muses: Plus grand que les mots, 2003, Blue Sky Media, Canada, Bbc001 (CD).
  • Marie-Jo Thério. “Evangeline”, Les matins habitables, 2005, GSI Musique, GSIC-895, Canada (CD/Album).
  • Annie Blanchard. “Évangéline”, Sur l’autre rive, 2007, Musicor, MQMCD2384, Canada (CD/Album).
  • Caroline Jomphe: De l’Acadie à la Côte-Nord, 2008, Productions Acadie Max, B001T4JW46.

References

  • Conte, Michel: Évangéline, ou, L’amour en exil : chansons et récits. Montréal: Éditions VLB 2007.
  • Kolboom, Ingo/Mann, Robert: Akadien: ein französischer Traum in Amerika. Vier Jahrhunderte Geschichte und Literatur der Akadier. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren/Synchron Publishers 2005.
  • McKay, Ian / Robin Bates: In the Province of History: The Making of the Public Past in Twentieth-Century Nova Scotia. McGill-Queen’s University Press 2010.

About the Author

PD Dr. Christoph Oliver Mayer teaches Romance Studies at the TU Dresden.
All contributions by Christoph Oliver Mayer

Citation

Christoph Oliver Mayer: “Évangéline (Michel Conte / Isabelle Pierre)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/evangeline, 11/2013 [revised 03/2014].

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