Der Song EISZEIT stammt von der Berliner Band Ideal, die vielen als eine Hauptvertreterin der Neuen Deutschen Welle gilt.
I. Entstehungsgeschichte
Der Titel EISZEIT erscheint 1981 bei WEA auf der zweiten LP der Band, Der Ernst des Lebens, und wird von WEA als Single ausgekoppelt mit der B-Seite „Schwein“. Den Text schrieb Annette Humpe, die Musik stammt von allen vier Band-Mitgliedern (Annette Humpe, Frank Jürgen Krüger, Ernst Ulrich Deuker und Hans-Joachim Behrendt), die Produktion der Platte lag bei Conny Plank und der Band.
II. Kontext
In der NDW ist, wie schon im Punk und New Wave, der Alltag eine wesentliche Referenzgröße für die Musik. Viele Songs greifen implizit oder explizit das Lebensgefühl der ausgehenden 1970er und der beginnenden 1980er Jahre auf: soziale Kälte wirtschaftlicher Rezession und repressiver Politik, die Isolation des Einzelnen in der Industriegesellschaft und die Entfremdung in einer technisierten Umgebung. Dies findet seinen ästhetischen Niederschlag gleichermaßen in Musik, Mode und Design. Das Diktum von Nüchternheit, Minimalismus und Reduktion gilt nicht nur für Texte und Musik, sondern auch für die Ästhetik des Alltags. Der Natur-, Plüsch- und Indien-Ästhetik der 1970er Jahre setzt man radikale Sachlichkeit entgegen, statt verklärter Innerlichkeit und Sensitivität zeigt man Coolness und statt natürlichem Kerzenschimmer dominiert künstliches, kaltes Neonlicht in den Szene-Lokalitäten. Die Härte der Zeit wiederholt sich in puristischen Materialien: Plastik, Stahl und Glas in kantigen Formen, Kacheln an den Wänden, dazu klare, graphische Farben wie Schwarz, Rot oder Weiß und kaltes Licht. Das coole, künstliche Design ist das Aushängeschild von Punk und NDW. Egal, ob ehemalige Wurstküchen oder Schwimmhallen, als Location eignet sich alles, was interessant und schrill, taghell und eiskalt ist. Die gnadenlos ausgeleuchteten kahlen Räume sind die ästhetische Umsetzung urbaner Einsamkeit. Die in Mode kommenden Spiegelflächen visualisieren wiederum die Kehrseite dieser Einsamkeit: Narzissmus.
Die über-affirmative Ästhetik der Kühle findet sich auch in den Themen der NDW-Songs und in ihrer formensprachlichen Umsetzung. Es sind nicht nur Motive urbaner Tristesse, die mit Sachlichkeit geschildert werden, auch Gefühle wie Einsamkeit, Angst oder Liebe geben keinen Anlass zur Sentimentalität. Wortreiche Betroffenheit und gefühlige Adjektive sind selten – außer in ironischer Brechung. Dadurch findet die NDW, anders als der Punk, neue Möglichkeiten, Gefühle in einer modernen, adäquaten Form zu artikulieren. Mit ihrer sachlichen Sprache und ihren nüchternen und dennoch treffenden Bildern schafft sie Eindrücklichkeit ohne Kitsch, selbst bei Texten über Verliebtsein oder Einsamkeit.
III. Analyse
In dem Song EISZEIT wird jeder Anflug von Blues-seliger Traurigkeit vermieden. Der Song hält auf textlicher Ebene eine Balance zwischen echtem Gefühlsausdruck und einer Coolness, die die Einsamkeit als eine Art modernes Heldentum erscheinen lässt. Außerdem werden hier individuelle und gesellschaftliche Konflikte miteinander verknüpft. Es ist ein Song über Narzissmus, Einsamkeit und Kontaktabwehr und zugleich über die Isolation und Monotonie in modernen Zivilisations-Kulturen. Passend dazu ist der Songtext von kühler Sachlichkeit geprägt: „Gefühl und Härte” – um den Titel einer Kunstausstellung aus dem Jahr 1982 sowie einen Albumtitel der deutschen Punkband Daily Terror aus dem Jahr 1985 zu zitieren – ergänzen einander. Der Text ist ausgesprochen bildhaft, doch ohne metaphorischen Bombast. Vielmehr zeigt sich in den Lyrics die Kantigkeit, die typisch ist für die Ästhetik der frühen Achtziger. „Eiszeit“, „minus neunzig Grad“, „Panzerschrank aus Diamant“, „tiefgefroren – tiefgekühlt“ beschreiben zwar ausdrucksstark die innere Vereisung des lyrischen Ich, sind jedoch weit entfernt von selbstmitleidiger Larmoyanz oder gar von semi-politischen Anklagen. Jeder Eindruck persönlicher Betroffenheit wird vermieden, im Gegenteil, die Beschreibungen wirken so neutral, als kämen sie von außen. Es sind kühle und distanzierte Feststellungen – die aber auch einen gewissen Anteil an Eitelkeit und Gefallen an der Situation nicht verhehlen können. „In meinem Film bin ich der Star“ oder „kein Mensch mit dem ich reden will“ – hier paart sich die Depression mit narzisstischer Arroganz. Die Titelzeile „Mit mir beginnt die Eiszeit“ steigert dies bis zur Hybris: das eigene Ego als Nabel der Welt. Das schweigende Telefon wird mit einem trotzigen „mich erreichst du nicht“ quittiert – wobei die Unerreichbarkeit sich ebenso auf das Telefon wie auf die seelische Ansprechbarkeit beziehen lässt. Selbst die Einsamkeit wird affirmativ verwandelt: „Ich komm auch nur alleine klar“. Der Panzerschrank ist ein Gefängnis, das gleichzeitig fremdbestimmt und selbstgewählt ist. Mit den Beschreibungen innerer Befindlichkeit wird auch die gesellschaftliche Vereinzelung antizipiert, das Innere auf das Äußere rückbezogen. Gesellschaftliche Monotonie und Langeweile haben sich längst in das Private eingeschlichen. Das Leben erscheint wie eine Endlosschleife. „Alle Worte 1000-mal gesagt / alle Fragen 1000-mal gefragt / alle Gefühle 1000-mal gefühlt“.
Während viele NDW-Songs aus der frühen (Underground-)Phase auf eine Aufteilung in Strophe und Refrain verzichten, besitzt der Titel „Eiszeit“ die für Popsongs charakteristischen Formteile Strophe und Refrain, die allerdings nicht im üblichen Wechsel angeordnet sind. Erst nach drei Strophen kommt der Refrain, darauf folgen eine vierte Strophe und die Wiederholung der dritten Strophe. Das Ende bilden nochmals der Refrain und die musikalische Variation des Refrains.
Der Eindruck von Kühle und Härte wird durch die Musik unterstützt. Alles Balladeske wird vermieden. Das schnelle Metrum macht die Strophen dynamisch, was durch eine dichte Rhythmusgruppe noch unterstützt wird. Bass und Rhythmusgitarre bilden einen durchlaufenden Achtel-Beat, der in dem schnellen Tempo besonders hektisch wirkt. Das Schlagzeug spielt ebenfalls alle acht Achtel, die Zählzeiten 1 und 3 auf der Bass-Drum, 2 und 4 auf der Snare und die Und-Zählzeiten auf der Hi-Hat. In jedem zweiten Takt spielt die Snare außer der Zählzeit 4 auch die 4-und, gemeinsam mit einem Hi-Hat-Akzent, womit der jeweilige Textteil abgeschlossen und außerdem ein Eindruck von Beschleunigung vermittelt wird. Die Melodiegitarre setzt mit einem leicht verzerrten, arpeggierten Dreiklang einen Impuls am Ende jedes zweiten Taktes und gibt der Strophe einen leicht rockigen Charakter. Der Zwischenteil zwischen den Strophen ist geprägt von einem minimalistischen Keyboard-Motiv im Orgel-Sound, das mit den Tönen a, h und c gerade mal eine kleine Terz umfasst. Humpes Gesang ist schnell und sehr präsent. Ihre klare, kaum modulierte Stimme unterstützt den Eindruck von kühler Sachlichkeit, der bereits den Charakter des Textes auszeichnet.
Mit dem Refrain erfolgt ein musikalischer Bruch: Das Tempo erscheint halbiert, weil der Bass und das Schlagzeug keine durchlaufenden Achtel mehr spielen. Der Text („Eiszeit, mit mir beginnt die Eiszeit“) wird langsam, demonstrativ monoton und sehr nuanciert gesprochen. Ein kristallartig hoher, leicht flirrender Synthesizersound, eine erneut verzerrt arpeggierte Gitarre und Hall auf der Stimme vermitteln den Eindruck von Kälte und Einsamkeit. Auf die Zeile „Eiszeit“ spielt der Bass synkopiert, der Gesang verläuft parallel dazu auf den Zählzeiten 1 („Eis-“) und 2-und („-zeit“). Durch diese Verschiebung erscheint der Gesang leicht a-rhythmisch, was zusammen mit dem Hall den Eindruck von Kälte und Fremdartigkeit weiter unterstreicht. Die Eiszeit ist eine andere, eine feindliche Welt. Die musikalische Kontrastierung von Strophe und Refrain bewirkt aber nicht nur eine größere Dynamik und Abwechslung in der musikalischen Dramaturgie des Songs, sondern hat auch eine inhaltliche Funktion. Während die schnellen Strophen als ein musikalisches Äquivalent zur hektischen Gleichförmigkeit der Außenwelt gedacht werden können, repräsentiert die sparsame, illustrative Instrumentierung die Monotonie und die Langsamkeit des Refrains die innere Erstarrung und Vereisung. Auf diese Weise wird die Verbindung zwischen Innen und Außen, zwischen gesellschaftlichen Faktoren und individueller Wirkung nicht nur auf der sprachlichen, sondern auch auf der musikalischen Ebene umgesetzt.
Der Song EISZEIT ist ein prägnantes Beispiel für die Fähigkeit der NDW, Wirklichkeitserzählungen und Gefühle, das Äußere und das Innere miteinander zu verknüpfen. Die Musik wiederholt den Kontrast zwischen diesen Bereichen, der Text dagegen ist gleichermaßen Metapher für beide. Gefühle haben hier allerdings nichts mit Sentimentalität zu tun. Die NDW reagiert auf ihre Umwelt, anders als noch Punk, nicht mit Aggression, sondern macht sich mit Coolness und Sachlichkeit unangreifbar. „Da bleib ich kühl – kein Gefühl“ (Ideal: „Blaue Augen“, 1980). Ideal verweigert sich jedem Gestus von Authentizität. Die Erzählungen in ihren Songs sind zwar gebrochen, bleiben aber immer stilbewusst. Weltschmerz paart sich mit Stolz, Melancholie ist chic, nicht sentimental. Der Panzerschrank ist aus Diamant – edel und hart. Mit einer eklektizistischen Mischung aus Zeitgeist und Nostalgie erschaffen sie eine eigene Ästhetik. Ihr Ernst des Lebens (Ideal 1981) ist ein ironisches Spiel: „Doch ich bleib kühl in dem Spiel” („Spannung“ auf Der Ernst des Lebens) Dennoch entsteht durch die Subjektivität und Direktheit der Erzählung der Eindruck des Unmittelbaren. Gerade durch Mittel wie Ironie, Nüchternheit und Alltagssprache kann Gefühl wieder glaubwürdig, jenseits des Schlagerkitschs formuliert werden.
IV. Rezeption
Die Single schaffte es bis auf Platz 16 der deutschen Single-Charts; das Album Der Ernst des Lebens stieg bis auf Platz 13. Auf der von radioeins herausgegebenen Liste „Die 100 besten NDW-Lieder“ (2022) ist der Song auf Platz 23 verzeichnet. Es existiert eine Coverversion von Schlagersänger Jim Mertens aus dem Jahr 2021.
BARBARA HORNBERGER
Credits
Lyrics: Annette Humpe
Musik: Hans-Joachim Behrendt, Ernst Ulrich Deuker, Annette Humpe, Frank Jürgen Krüger Krüger
Produktion: Conny Plank, Ideal
Gesang und Keyboard: Annette Humpe
Gitarre: Frank Jürgen Krüger
Bass: Ernst Ulrich Deuker
Schlagzeug: Hans-Joachim Behrendt
Links
- Radioeins, „Die 100 besten NDW-Lieder“, 24.07.2022, https://www.radioeins.de/musik/top_100/die-100-besten-2022/die_100_besten_ndw_lieder/ich_geb_gas_die_top_100.html [16.05.2025].
About the Author
All contributions by Barbara Hornberger
Citation
Barbara Hornberger: „Eiszeit (Ideal)“. Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://www.songlexikon.de/songs/eiszeit, 05/2025.
Print