DREI KUGELN AUF RUDI DUTSCHKE ist Wolf Biermanns Auseinandersetzung mit dem Attentat, das am 11. April 1968 auf den Studentenführer Rudi Dutschke ausgeübt wurde. Das im Lied thematisierte Ereignis und die Umstände der Erstaufführung zeichnen ein Bild der gesellschaftspolitischen Situation Deutschlands Ende der 1960er-Jahre und geben einen Einblick in die junge deutsche Liedermacherszene der Zeit.
I. Entstehungsgeschichte
Wolf Biermann, der 1936 in Hamburg geboren ist, wurde von seinen jüdischen Eltern in der kommunistischen Familientradition geprägt. 1943 wurde sein Vater im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Zehn Jahre später wanderte Biermann in die DDR aus, die für ihn zunächst das Idealbild eines Staates darstellte. Seit dem Mauerbau 1962 wurde seine Haltung zur DDR jedoch zunehmend kritisch. Das Theaterstück Berliner Brautgang wurde nicht zur Aufführung freigegeben und Biermanns Aufnahmeantrag in die SED abgelehnt. Während er in der BRD bereits den Durchbruch geschafft hatte, wurde er in der DDR zunächst geduldet. 1965 erlegte ihm die DDR jedoch ein totales Auftritts- und Veröffentlichungsverbot auf und ließ ihn als Staatsfeind durch den Stasi-Apparat überwachen (vgl. Reinhard 1977: 9-10). Da ihm 1968 die Ausreise verwehrt wurde, sang Biermann dem befreundeten Walter Mossmann DREI KUGELN AUF RUDI DUTSCHKE am Telefon vor und ermöglichte somit die Uraufführung in Westdeutschland beim Burg-Waldeck-Festival 1968. Auch als Biermann vom Westberliner SDS eingeladen wurde, unter anderem dieses Lied bei der Kundgebung zum 1. Mai aufzuführen, wurde sein Ausreiseantrag nicht genehmigt (Antrag im Bundesarchiv online einsehbar). Schließlich wurde das Lied noch auf einer Kundgebung der Außerparlamentarischen Opposition in Westberlin von Schobert und Black gesungen (vgl. Löding 2010: 277).
Die erste Printversion erschien 1968 in Wolf Biermanns Lyrikband Mit Marx und Engelszungen. Gedichte – Balladen – Lieder sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR. Im selben Jahr wurde seine erste Schallplatte, die EP 4 neue Lieder mit DREI KUGELN AUF RUDI DUTSCHKE als Eröffnungstrack, veröffentlicht. 1974 kam das Lied auf der zweiten Auflage des ein Jahr zuvor herausgekommenen Albums Warte nicht auf beßre Zeiten zu einer Neuveröffentlichung.
II. Kontext
Die in den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik aufkeimende Studentenbewegung erreichte im Jahr 1968 ihren Höhepunkt. Der Protest der Studenten richtete sich unter anderem gegen die Ausbeutung der Entwicklungsländer, gegen den Vietnamkrieg sowie innenpolitische Missstände in Deutschland, etwa die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Angeprangert wurden auch der als übermächtig empfundene Staatsapparat sowie die konservativen, hierarchischen Strukturen an Universitäten, verbunden mit der Forderung nach einer kompromisslosen Demokratisierung.
Bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen, was zu einer Radikalisierung der studentischen und außerparlamentarischen Bewegung führte. Zu einem der Wortführer der Studentenbewegung wurde Rudi Dutschke. Als dieser am 11. April 1968 aus der Zentrale des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes trat, fragte ihn der Hilfsarbeiter Josef Bachmann: “Sind Sie Rudi Dutschke?” und schoss nach Bejahung drei Mal auf ihn. Dutschke überlebte das Attentat nur knapp und musste wegen der Schädigung seines Gehirns viele kognitive Fähigkeiten wieder neu erlernen. 1979 starb er an den Spätfolgen des Attentats.
1964 wurde das Burg Waldeck Festival, die erste internationale Chanson- und Folklore-Open-Air-Veranstaltung, gegründet (vgl. ebd.: 152). Schon seit der gescheiterten Revolution von 1848, vor allem aber seit 1945, galten die Deutschen als “Volk ohne Lieder” (Böning 2011: 4), da viele Volkslieder durch das Militär oder für propagandistische Zwecke der Nationalsozialisten missbraucht worden waren. Die Schlager der Nachkriegszeit setzten sich nahezu überhaupt nicht mit den Themen Nationalsozialismus und Krieg auseinander. Die Liedermacher stellten dieser vorherrschenden Musiklandschaft bei den Burg Waldeck-Festivals eine “politisierte Songkunst” entgegen (ebd.: 174). Sie knüpften damit zwar an das US-amerikanische Folkrevival an, mussten sich jedoch völlig neu orientieren, da nicht wie in den USA auf eine historische Folk-Basis gebaut werden konnte. Neben internationaler Musik und historischen deutschen Liedern wurden nun als absolutes Novum auch sozialkritische Songs in deutscher Sprache aufgeführt. Ab 1968 wurde die Forderung nach einer durchwegs politischen Ausrichtung des Festivals laut. Auf einem Flugblatt drängte die ‚Basisgruppe Waldeck-Festival’: “Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert!”. Künstler, deren Inhalte zu wenig politisch schienen, wurden teilweise boykottiert (vgl. Siegfried 2008: 589). Im selben Jahr wurde DREI KUGELN AUF RUDI DUTSCHKE auf der Burg Waldeck von dem mit Wolf Biermann befreundeten Walter Mossmann uraufgeführt, der bereits seit 1965 mit seinen Chansons bei den Festivals aufgetreten war.
III. Analyse
Formal gesehen lehnt sich DREI KUGELN AUF RUDI DUTSCHKE weitgehend an den konventionellen Grundaufbau eines Songs an (vgl. Löding 2010: 48), enthält allerdings keine Bridge. Eingefasst von einem jeweils kurzen Intro und Outro werden alle sechs Strophen mit anschließendem Refrain aneinandergereiht.
Das harmonische Gerüst der auftaktigen Strophe besteht aus einer erweiterten C-Dur-Kadenz, welche nach vier Takten auf der Dominante G-Dur endet. Der Ambitus der Melodie im gesamten Stück erstreckt sich vom kleinen e bis zum f ‘, die Strophe bewegt sich allerdings nur im Rahmen einer Quarte von g bis c’. Die rhythmisch und tonal eher ruhig gehaltene Melodiestimme und die in gleichmäßigen Achteln schlagenden Begleitakkorde der Gitarre unterstreichen den “erzählenden” Charakter der Strophe. Alle Strophen sind im Reimschema
a – b – c – b verfasst. In der Regel wechseln sich siebensilbige Verszeilen mit sechssilbigen ab, aber gleich die ersten zwei Verszeilen eröffnet Biermann mit jeweils einer Silbe mehr, welche durch eine Achteltriole in den Fluss des Versmaß’ eingefügt werden.
Im neuntaktigen Refrain vollzieht sich eine Wendung auf mehreren Ebenen. Die nun variierende, ausdifferenziertere Gitarrenbegleitung mutet an einigen Stellen nahezu marschartig an. Den vier Septakkorden innerhalb der Grundtonart folgt eine Modulation über die unvermittelt einsetzende Zwischendominante E-Dur nach a-Moll, der Paralleltonart von
C-Dur. Unter den bis zum Schluss wiederholten a-Moll-Akkorden führt eine deutlich hervortretende Basslinie über die Töne A – H – c und wieder zurück. Der fünfversige Refrain ist im Reimschema a – b – c – c’ – b’ verfasst, die nicht ganz runden Reime “Lied – blüht” und “Tränen – denen” machen deutlich, dass der Text nicht zwangsläufig einem starren Reimschema untergeordnet wird.
Der gesamte Tonumfang des Stückes wird zu Beginn des Refrains durch eine in Terzabständen absteigende Tonreihe vom Spitzenton bis zum tiefsten Ton, eingeleitet durch einen Sekundvorhalt, abgeschritten. Unterlegt mit dem Text “Ach Deutschland, deine Mörder” wirkt die Passage wie ein leidvoller Klageseufzer, den Biermann gelegentlich fast weinerlich ausstößt. Das personifizierte Deutschland wird an die Kriegszeit mit seinen Mördern, an Blut und Tränen erinnert, verbunden mit einer Warnung. Mit der Frage “Was gehst Du denn mit denen?” wird der Bezug zum Nationalsozialismus deutlich; dessen Täter werden hier undifferenziert als Kollektiv dargestellt. Biermanns Intention ist es, durch Erkennen eines gemeinsamen Feindbildes Solidarisierung zu erzielen (vgl. Löding 2010: 279). Ein sich wiederholendes, punktiertes Motiv im Abstand eines Tritonus’ (e’ – ais’) verleiht dem viertaktigen Zwischenspiel eine nahezu bedrohliche Spannung. Das Outro ist an das Zwischenspiel angelehnt, allerdings werden die beiden Töne des Tritonus’ im letzten Takt im direkten Wechsel wiederholt, was die Assoziation zu Polizeisirenen weckt. Die Abwandlung des im Martinshorn üblicherweise erklingenden Intervalls einer reinen Quarte in einen Tritonus soll möglicherweise eine umso bedrohlichere Wirkung erzielen.
Der Titel “Drei Kugeln auf Rudi Dutschke” ist bewusst doppeldeutig gewählt: Tatsächlich wurden bei dem Attentat drei Kugeln abgeschossen. Indes wird der eigentliche Schütze überhaupt nicht erwähnt, um die Schuld denen zuzuschreiben, die laut Biermann die wahren Täter sind: nämlich Politik und Presse.
So stamme die “Kugel Nummer 1” vom Springer-Verlag, dem in der Folge der Vorfälle vorgeworfen wurde, durch eine gezielte Anti-Studenten-Berichterstattung erheblich zum Attentat beigetragen zu haben. In dem Prozess sagte Josef Bachmann aus: “Vornweg habe ich die BILD-Zeitung gelesen!” (Chaussy 1983: 288). Für die zweite Kugel wird das Schöneberger Haus, also das Berliner Rathaus, verantwortlich gemacht. Mit der Alliteration “Schusses Schütze” spielt Biermann auf den von 1967 bis 1977 amtierenden Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) an. Die dritte Kugel habe der “Edel-Nazi-Kanzler” geschossen. Gemeint ist Kurt Georg Kiesinger (CDU), der wegen seiner Karriere im Staatsapparat der Nationalsozialisten harscher Kritik ausgesetzt war. Der “Beileidsbrief” nimmt höchstwahrscheinlich Bezug auf ein Telegramm, in dem Kiesinger Gretchen Dutschke unmittelbar nach Bekanntwerden des Attentats seine Genesungswünsche übermittelt hatte (vgl. Chaussy 1983: 254). Mit der Bezeichnung Dutschkes Frau als “Witwe” unterstellt Biermann Kiesinger, insgeheim schon mit dem Tod Dutschkes gerechnet zu haben. Die Strophen fünf und sechs sind klare Handlungsanweisungen, sich gegen Staat und Presse zu verteidigen, um nicht selbst deren Opfer zu werden.
In seiner Version beim Burg-Waldeck-Festival beschränkte sich Walter Mossmann auf eine einfachere Akkordbegleitung mit weniger Dissonanzen. Er vertauschte die Strophen drei und vier und damit auch die Schussreihenfolge, sodass aus der ursprünglichen “Kugel Nummer 3” die “Kugel Nummer 2” und aus “des zweiten Schusses Schütze” nun “des dritten Schusses Schütze” wurde. Gelegentlich bestätigten die Zuhörer den Text der Strophen durch Klatschen und zustimmende Rufe, vor allem bei der Textstelle “Zerbrecht jetzt ihre Macht!”, welche Mossmann, betont durch ein Ritardando, herausrief. Ab dem zweiten, sehr deutlich ab dem dritten Refrain, hört man das Publikum mitsingen, das Lied erfüllte hier also seinen Zweck, das Gemeinschaftsgefühl der Rezipienten zu stärken.
DREI KUGELN AUF RUDI DUTSCHKE nimmt konkreten Bezug auf ein reales Ereignis, eingebettet in den gesellschaftspolitischen Kontext von 1968. Die Anklage der eigentlichen Täter des Attentates, die Solidarisierung mit der Zielgruppe und der damit verbundene Appell machen Biermanns politische Intention deutlich, was ihn als sich Wehrenden ebenfalls Teil der Studentenbewegung werden lässt.
IV. Rezeption
Von DREI KUGELN AUF RUDI DUTSCHKE sind keine Coverversionen bekannt, außer den oben genannten, welche eher gezwungenermaßen einen anderen Interpreten forderten. Auf einem Notenblatt von 1968 notierte Biermann handschriftlich, er finde es “wünschenswert”, wenn das Lied von mehreren Leuten gleichzeitig gesungen werde. Zu diesem Zweck schlug er die Transposition um eine kleine Terz tiefer vor und ergänzte die Akkordsymbole mit der jeweiligen Alternative (vgl. Biermann 1968: Schreiben an Bruno Haid, Bundesarchiv). Man kann also davon ausgehen, dass das Lied tatsächlich bei studentischen Großveranstaltungen und dergleichen gespielt und gesungen wurde.
GERDA MAIWALD
Credits
Erste öffentlich gespielte Version:
Gesang/Gitarre: Walter Mossman
Text/Musik: Wolf Biermann
Aufnahme: 1968 live beim Burg Waldeck Festival
Veröffentlichung: 2008 (“Die Burg Waldeck Festivals 1964-1969”, CD 9)
Länge: 3:07 Min.
Ursprüngliche Version:
Gesang/Gitarre: Wolf Biermann
Text/Musik: Wolf Biermann
Aufnahme: 1968
Veröffentlichung: 1968 (EP “Vier neue Lieder”)
Länge: 3:56 Min.
Recordings
- Wolf Biermann. “Drei Kugeln auf Rudi Dutschke”, Vier neue Lieder, 1968, Wagenbachs Quartplatte, T 76 038/3, Germany (Vinyl/7”-EP).
- Wolf Biermann. “Drei Kugeln auf Rudi Dutschke”, Warte nicht auf beßre Zeiten, Re-Release der LP von 1973 mit zusätzlicher Neueinspielung von “Drei Kugeln auf Rudi Dutschke” und drei weiteren Liedern, 1996, Zweitausendeins, Germany (CD/Album).
- Walter Mossmann. “Drei Kugeln auf Rudi Dutschke”, Die Burg Waldeck Festivals 1964-1969. CD 9: 1968, 2008, Bear-Family-Records, BCD 16017 JC, Germany (10 CD-Box).
References
- Böning, Holger: Peter Roland, die Waldeck-Festivals und das politische Lied der Revolution von 1848. Vortrag im Willy-Brandt-Haus am 15. September 2011 in Berlin. URL: http://www.peter-rohland-stiftung.de/images/stories/PDF/vortrag-berlin-mit-briefkopf.pdf. [02.06.2012].
- Chaussy, Ulrich: Die drei Leben des Rudi Dutschke. Eine Biographie. Darmstadt: Luchterhand 1983.
- Löding, Ole: “Deutschland Kathastrophenstaat”: Der Nationalsozialismus im politischen Song der Bundesrepublik. Studien zur Popularmusik. Bielefeld: Transcript 2010.
- Reinhard, Andreas M.: Wolf Biermann: Loblieder und Haßgesänge. Hollfeld/Obfr.: C. Bange Verlag 1977.
- Rosellini, Jay: Wolf Biermann. München: C. H. Beck 1992.
- Siegfried, Detlef: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen: Wallstein Verlag 2008.
Links
- Schreiben Wolf Biermanns an Bruno Haid am 22. April 1968. URL: http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/02783/index-22.html.de, [27.10.2014].
- Database: Musiksammler.de. Suchanfrage: Biermann – Warte nicht.
URL: http://www.musik-sammler.de/media/46284, [27.10.2014].
About the Author
All contributions by Gerda Maiwald
Citation
Gerda Maiwald: “Drei Kugeln auf Rudi Dutschke (Wolf Biermann/Walter Mossmann)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/dreikugelnaufdutschke, 10/2014 [revised 10/2014].
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