2002
Herbert Grönemeyer

Der Weg

DER WEG ist die zweite Singleauskopplung von Herbert Grönemeyers elftem Studioalbum Mensch (2002). Grönemeyer thematisiert in diesem Song die Trauer über den Tod seiner Frau.

I. Entstehungsgeschichte

Wenige Monate nach dem Erscheinen von Grönemeyers zehntem Album Bleibt alles anders starben innerhalb weniger Tage zunächst einer seiner Brüder und dann seine Frau an Krebs. Grönemeyer zog sich nach diesem doppelten Schicksalsschlag aus der Öffentlichkeit zurück und fühlte sich lange nicht in der Lage, Musik zu machen. Dass er sich schließlich nach etwa einem Jahr langsam zur Weiterarbeit aufraffen konnte, erklärte er folgendermaßen: “Ich dachte: Wenn du dieses Zentrum deines Lebens auch noch verlierst, ist Schluss” (Grönemeyer in Michaelsen/Ross 2002). Großen Anteil an der Entstehung von Mensch hatte Ko-Produzent Alex Silva, der Grönemeyer hartnäckig zum Weitermachen drängte und nach einem weiteren Jahr schließlich Erfolg hatte: Die beiden mieteten einen kleinen Raum in London, in dem sie in 14-monatiger, fast therapeutischer Arbeit das neue Album Mensch aufnahmen.

Alle zehn Tracks (und ein Bonustrack) sind Zeugnisse von Grönemeyers Trauerarbeit. Der dritte Track DER WEG jedoch thematisiert den Verlust seiner Frau in besonderer Weise. Grönemeyer selbst bezeichnete den Song als “extrem traurig” und hatte Sorge, seine Kinder würden ihn nicht gut aufnehmen: “Da habe ich die Kinder gefragt, ob das vielleicht zu viel sei. Ihre Antwort war: ‘Du hast das so geschrieben, also musst du es auch gefälligst so singen'” (Grönemeyer in Michaelsen/Ross 2002).

Drei Monate nach Erscheinen des Albums wurde DER WEG im November 2002 als zweite Single von Mensch ausgekoppelt und erschien gemeinsam mit dem dazugehörigen Musikvideo. Ebenfalls ab 2002 führte Grönemeyer den Song im Rahmen seiner Alles-Gute-von-gestern-bis-Mensch-Tournee (2002-2004) live auf. 2003 erschien eine Live-Version des Liedes auf der Tournee Live-DVD, die als erste DVD überhaupt Platz 1 der deutschen Albumcharts erreichte.

II. Kontext

Den Zusammenhang des Liedes mit dem Tod seiner Frau hat Grönemeyer von Anfang an bewusst und öffentlich verhandelt und damit die Rezeption des Songs – und des gesamten Albums – von vornherein in entsprechende Bahnen gelenkt. Der Erfolg des Songs lässt sich sicherlich einerseits damit erklären, dass er eine persönliche Seite Grönemeyers offenbart und den Künstler damit menschlich und greifbar macht. Darüber hinaus bietet DER WEG gerade durch die persönliche Entstehungsgeschichte Anknüpfungspunkte in der Gesellschaft, da der Verlust geliebter Menschen und der Umgang mit der Trauer für uns alle stets relevante Themen sind. Der große Erfolg von Mensch, nach dem Grönemeyer “über alle Zweifel [erhaben ist] wie kein anderer Sänger in Deutschland” (Peitz 2006), wird dementsprechend begründet: “Scheinbar ließ er alle Skrupel fallen, gab alle Distanz auf und machte auf künstlerische Weise öffentlich, was er als öffentliche Person niemals zugelassen hätte, dass man es über ihn verbreite – die innersten Gefühle eines Hinterbliebenen” (ebd.).

III. Analyse

Grönemeyer berichtet mit Blick auf seinen Schaffensprozess, dass das Musikschreiben bei ihm “nebenbei” gehe; meist sei es ein Einfall, der sich nach und nach – wie ein Ohrwurm – vertiefe. Für die Arbeit am Text müsse er sich jedoch “disziplinieren” (vgl. Anonym: “Mensch”). Überträgt man dies auf DER WEG, so lässt sich auf der einen Seite die einfache harmonische Struktur bemerken, die sich in Strophen und Refrain nur äußerst geringfügig verändert. Die Melodie durchwirkt wie ein roter Faden das ganze Lied und entspricht damit dem musikalischen Einfall, von dem Grönemeyer selbst sprach. Die relativ gleichbleibende Melodik schafft Raum für emotionale, atmosphärische Abstufungen im Verlauf des Songs und lässt diese besonders gut hervortreten. DER WEG beginnt mit dem für Grönemeyer so charakteristischen reduzierten Sound (Rhodes) und steigert sich ab der dritten Strophe, wenn Streicher und Background Vocals hinzutreten und insbesondere die Refrains emotional ausgestalten.

Umso vielschichtiger ist der Text mit seiner vielschichtigen Metaphorik und seinen zahlreichen Wortspielen, die tiefe Gefühle in der für Grönemeyer typischen, knappen Art ausdrücken. Dies wird zusätzlich unterstützt von seiner eigentümlichen Art zu singen, die manches verschluckt und vernuschelt, anderes plötzlich heraushebt und dem Ganzen dadurch einen ganz eigenen Ausdruck gibt, der dem persönlichen Inhalt des Songs zusätzliche Authentizität verleiht.

Das Musikvideo zu DER WEG zeigt Grönemeyer auf einem Segelboot auf weitem Meer. Dynamik und Atmosphäre der Bilder entsprechen denen des Texts und der Musik, einzelne direkte Wort-Bild-Kongruenzen lassen sich nachweisen. Der Horizont zwischen Wasser und Erde ist ein wichtiges Motiv, ebenso wie die ins Bild gesetzte Metapher des Segelsetzens, des Navigierens durch aufgewühltes Wasser und des Segel Einholens. Mit dem letzten Refrain (“Ich gehe nicht weg”) gleitet Grönemeyer mit seinem Boot langsam auf einen mitten im Meer stehenden und scheinbar ins Nichts führenden Steg zu. Im Nachspiel legt er an und geht den Steg hinauf Richtung Himmel. Dann – in einer Hommage an den Film The Truman Show (1998) – berührt er mit dem letzten Ton des Songs den Himmel, der sich als Wand/Kuppel entpuppt, drückt eine Tür auf und tritt, nach einem letzten Blick zurück, durch die Tür ins Schwarze.

Das Ende des Videos eröffnet eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten und offenbart gleichzeitig die Vielschichtigkeit des ganzen Songs, denn die Tür “versinnbildlicht […] die Grenze zwischen Lebenden und Toten, zugleich aber auch die zwischen dem Trauern und dem Weiterleben” (Tergau-Harms 2005: 35).

IV. Rezeption

Die Rezeptionsgeschichte von DER WEG wird geradezu vollständig von seiner Entstehungsgeschichte dominiert. So wird DER WEG weniger als Kunstwerk, das es zu bewerten gilt, sondern vielmehr als persönliches Statement wahrgenommen, das aufgrund seiner Authentizität gewissermaßen über jede Kritik erhaben ist. Der Song erreichte jedoch nie den kommerziellen Erfolg der Single “Mensch” des gleichnamigen Albums, die als erster Nummer-Eins-Hit Grönemeyers fünf Wochen diese Position innehatte und mit Platin ausgezeichnet wurde. DER WEG erreichte dagegen nur Platz 12 der deutschen Charts. Das gesamte Album Mensch ist jedoch bis heute Grönemeyers größter Erfolg und wurde schon vor der Veröffentlichung aufgrund der Vorbestellungen mit Platin ausgezeichnet.

DER WEG spielt mittlerweile eine bemerkenswerte Rolle in Seelsorge und Trauerarbeit. So findet er sich in Umfragen unter Bestattern zumeist in den Top 10 der gewünschten Trauermusiken bei Beerdigungen und bietet immer wieder auch Pfarrern die Möglichkeit, Tod, Trauer und Trost in Predigten auf eine lebensnahe Art und Weise zu thematisieren. Nicht zuletzt ist DER WEG außerdem einer derjenigen Songs, die für religionspädagogische Zwecke immer wieder empfohlen werden (vgl. Depta 2016: 465, 475). Es ist dabei vor allem der Aspekt des Trostes, der in der Auseinandersetzung mit DER WEG besonders betont wird: Aus dem Text und der Musik des Liedes spräche trotz aller Trauer Liebe, Hoffnung und Zuversicht; der Song zeige, dass es möglich sei, trotz aller Trauer sein Leben weiter zu leben. Die Konzentration dieser Rezeptionslinie liegt damit auf der Situation des Hinterbliebenen; der Trost steht im Vordergrund. DEG WEG – und die Identifikation der ZuhörerInnen mit Grönemeyer “als Seismograph für herrschende Trends menschlicher Selbstinterpretation” (Striet/Werden 2009: 251) – wird als Anhaltspunkt dafür gewertet, dass diese “weltliche” Art der Trauerbewältigung, die Erinnerung an den geliebten Menschen und das Weiterbestehen dieser Erinnerung auf Erden, heutzutage populärer sei als die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, die sich mehr auf das Schicksal der Verstorbenen richte. Diese Fokussierung werde besonders deutlich, wenn man die Lyrics von DER WEG mit den im Duktus vergleichbaren Zeilen auf der Todesanzeige von Anne Henkel-Grönemeyer vergleiche, die stattdessen Bilder eines Lebens im Jenseits malen und auch Gott thematisieren – was in DER WEG völlig fehle (vgl. ebd.).

Es ist bemerkenswert, dass Grönemeyer trotz aller selbst betonter autobiographischer Bezüge 2002/03 im Gespräch mit Moritz von Uslar betont, in seinen Songs – und speziell auf der Platte Mensch – fänden sich nicht mehr als sechs Prozent Persönliches (vgl. Grönemeyer/von Uslar 2003). Auch machte er in diesem Gespräch deutlich, dass DER WEG ein Kunstwerk und eben kein persönliches Statement sei, so dass es zwar menschliche Gefühle so intensiv wie möglich darstellen möchte, sie aber dennoch “stilisiert” (Grönemeyer/von Uslar 2003). Die Rezeptionsgeschichte von DER WEG zeigt jedoch, wie weit die Biographie eines Künstlers in sein Werk hineinreichen und die öffentliche Wahrnehmung sowohl des Kunstwerks als auch des Künstlers selbst beeinflussen und prägen kann.

 

MARIE LOUISE HERZFELD-SCHILD


Credits

Lyrics and Music: Herbert Grönemeyer
Rhodes: Herbert Grönemeyer
String ideas: Alfred Kritzer
Producers: Alex Silva, Herbert Grönemeyer
Engineers: Alex Silva, John Smith, Danton Supple, Peter Cobbin (strings and wind player)
Mixing: John Hudson
Assistants: Richard Woodcraft, The Ferg, Raj, Laurence Brazil
Programming: Alex Silva
Additional Programming: Mark Haley, Andy Duncan
Strings and wind player arranged by: Nick Ingman, Herbert Grönemeyer
Conductor (strings and wind player): Nick Ingman
Leader (strings and wind player): Gavin Wright
Mastering: Chris Blair (at Abbey Road)
Label: Grönland Records (EMI)
Recorded: Grönland, Mayfair St 1-2, RAK, Abbey Road
Published: 2002
Length: 4:20

Recordings

  • Herbert Grönemeyer. “Der Weg”. On: Mensch, 2002, Grönland Records/EMI Electrola, 7243 541621 2, Germany (CD/Album).
  • Herbert Grönemeyer. “Der Weg”. On: Mensch Live, 2003, Grönland Records/EMI Electrola, 7243 4 90977 9 7, Europe (2xDVD).
  • Herbert Grönemeyer. “Der Weg”. On: 12 Live, 2007, EMI/Grönland Records, 00946 387876 9 3, 00946 387876 9 3, Germany (2xDVD).
  • Herbert Grönemeyer. “Der Weg”. On: Schiffsverkehr Live in Leipzig Tour 2011, 2011, Grönland Records, 50999 678876 9 9, Germany (Blue-ray).

Covers

  • Guus Meeuwis. “Dee Weg”. On: Wijzer, 2005, Capitol Records/EMI, 0946 3400062 8, Netherlands (CD/Album).

References

  • Anonym: “Mensch”, Grönemeyer ist wieder da! In: WDR Kultur. URL: https://web.archive.org/web/20050126072943/http://www.wdr.de/themen/kultur/musik/groenemeyer_2002/interview.jhtml [26.04.2016].
  • Depta, Klaus: Rock- und Popmusik als Chance. Impulse für die praktische Theologie. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2016.
  • Grönemeyer, Herbert/von Uslar, Moritz: Gespräch auf Mensch Live, 2003, Grönland Records/EMI Electrola, 7243 4 90977 9 7, Europe.
  • Michaelsen, Sven/Ross, Hannes: “Herbert Grönemeyer. ‘Man ist Mensch und macht vieles falsch'” (29. August 2002). In: stern. URL: http://www.stern.de/kultur/musik/herbert-groenemeyer–man-ist-mensch-und-macht-vieles-falsch–3637938.html [19.04.2016].
  • Peitz, Dirk: “Der Unberührbare Berührer”. In: k.west. Magazin für Kunst, Kultur, Gesellschaft 04 (2006). URL: http://www.kulturwest.de/musik/detailseite/artikel/der-unberuehrbare-beruehrer/ [19.04.2016].
  • Striet, Magnus/Werden, Rita: “Tanz den Tanz auf dünnem Eis”: Das Phänomen Herbert Grönemeyer. In: Herder Korrespondenz. Monatshefte für Gesellschaft und Religion 63 (2009), 251-255.
  • Tergau-Harms, Christine: “Jeder Tod treibt mich hierher”. Popsongs und Videoclips als Anstoß für den Gottesdienst. In: Für den Gottesdienst 61 (2005), 32-37.
  • The Truman Show. Regie: Peter Weir. Drehbuch: Andrew Niccol. Paramount Pictures, 1998.

About the Author

Dr. Marie Louise Herzfeld-Schild is a musicologist and currently a research associate (PostDoc) of the junior research group "Transformations of Knowledge" of a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities at the University of Cologne.
All contributions by Marie Louise Herzfeld-Schild

Citation

Marie Louise Herzfeld-Schild: “Der Weg (Herbert Grönemeyer)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http.//www.songlexikon.de/songs/derweg, 03/2017.

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