Der Song CHILD IN TIME gilt als prägendes Stück der Rockmusikgeschichte und steht für den Sound der britischen Rockband Deep Purple. Der Einsatz der Hammondorgel, das unübliche, schnelle Schlagzeugspiel, die harten, repetitiven Gitarrenriffs und der teilweise hysterisch-ausufernde Gesang öffneten neue musikalische Sphären und ebneten neuen Genres, wie dem Heavy Metal, den Weg.
I. Entstehungsgeschichte
Geschrieben und erstmalig aufgenommen wurde CHILD IN TIME 1969, als Deep Purple ihr erstes Livealbum Concerto for Group and Orchestra aufnahm. Bei einer Probe in einem Gemeindezentrum im Westen Londons spielte der Organist Jon Lord das erst kurz zuvor erschienene Lied “Bombay Calling” von der US-amerikanischen Band It’s a Beautiful Day an. Davon inspiriert schrieb die Band unter der Führung des Sängers Ian Gillan den kurzen, prägnanten Text. Jon Lord an der Orgel, Ritchie Blackmore an der E-Gitarre, Roger Glover am E-Bass und Ian Paice am Schlagzeug, kreierten ihrerseits den instrumentalen Teil des Stücks. Die Rezeption, gerade des Intros des Liedes “Bombay Calling” mit der Akkordfolge Dur-Tonika-Subdominanteparallele (Moll), ist unüberhörbar.
Wesentlich mehr Aufmerksamkeit erhielt der Song als Studioaufnahme auf dem 1970 erschienenen Album Deep Purple in Rock unter dem Label Harvest Records. Die einzelnen Lieder des Albums wurden in unterschiedlichen Londoner Tonstudios aufgenommen, CHILD IN TIME in den IBC Studios im Zentrum der Stadt. Das vierte Studioalbum der Band brachte schließlich den internationalen Durchbruch und einen enormen finanziellen Erfolg. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien wurde Goldstatus erlangt, in Deutschland erreichte die Platte zudem Platz 1 der Albumcharts. Obwohl CHILD IN TIME von vielen als Kernelement des Albums angesehen wird, wurde der Eröffnungstrack “Speed King” als Single ausgekoppelt.
Nicht zuletzt durch die anschließende 15-monatige Welttournee ab Juli 1970 und der sphärischen, exorbitanten Performance, erlangte CHILD IN TIME großes Ansehen und teilweise überbordende Verehrung bei den Fans. Oft dehnten die Musiker das Stück bis zur Ekstase aus. Der Gitarrist Ritchie Blackmore und der Organist Jon Lord lieferten sich immer wieder spannungsgeladene musikalische Duelle auf der Bühne.
Die damalige Besetzung der Band, oft als Mark-2-Besetzung bezeichnet, mit Ian Gillan, Jon Lord, Ritchie Blackmore, Roger Glover und Ian Paice, gilt als beste und erfolgreichste Besetzung der Bandgeschichte (vgl. Metal1.info 2013).
II. Kontext
Um CHILD IN TIME differenziert einordnen zu können, ist es erforderlich zu berücksichtigen, dass die Band Deep Purple mit einem kommerziellen Hintergrund gegründet wurde. Die Geschäftsleute Tony Edwards, John Coletta und Ron Hire finanzierten die Gründung der Band, nachdem der Drummer Chris Curtis Edwards mit dem Prinzip einer sogenannten Supergroup (Neugründung einer Band mit arrivierten Musiker*innen) überzeugt hatte. Eine ‘romantische’ Geschichte bezüglich der Gründung von Deep Purple entfällt somit und doch ist es der Band gelungen, Inhalt von Popmusikgeschichtsschreibungen zu werden. “We’re as valid as anything by Beethoven”, sagte Jon Lord selbstbewusst 1973 in einem Interview mit dem Magazin New Musical Express (NME Magazine 1999). Die Aussage unterstreicht den eigentlichen Charakter der Band. Sie wurde gegründet, um reichweitenstarke Musik zu machen. Die Mitglieder verinnerlichten einen hohen qualitativen Anspruch an den eigenen Sound. Die Authentizitätsfrage nach Inhalt oder Bedeutung der Lieder, gerade im Hinblick auf die Textebene, oder nach einer kulturellen, sogar politischen Haltung spielte bei Deep Purple eine untergeordnete Rolle.
CHILD IN TIME wird immer wieder als Protestsong oder Anti-Kriegssong deklariert. Die Entstehungsgeschichte des Liedes und einige Aussagen der Bandmitglieder relativieren diesen Status teilweise. In einem Interview mit der Deep Purple Appreciation Society spricht Ian Gillan eher von einer Stimmung des Moments bei der Erschaffung des Songs. Das Vermitteln einer klaren Botschaft sozialer, kultureller oder politischer Natur beanspruchte die Band nicht für sich. Nichtsdestotrotz lassen einzelne musikalische Elemente sowie der Songtext, welcher auf subtile Art und Weise die damals allgegenwärtige nukleare Gefahr des Kalten Krieges verarbeitet, Platz für interpretatorischen Spielraum (vgl. Narendra 2002).
III. Analyse
Der Song dauert in der Studioversion 10:18 Minuten und hat eine extreme Variation im Tempo und in der Dynamik. Im 4/4 Takt angelegt, beginnt er mit allen vier Instrumenten; das Schlagzeug begleitet mit den Becken die Hammondorgel und der E-Bass unterstützt die E-Gitarre bei 60 BPM (im Verlauf des Gitarrensolos in der Mitte des Songs steigt das Tempo bis auf 180 BPM). Das Stück hat lediglich drei Akkorde, G, Am und F, die in der Reihenfolge G Am, G Am, F G und wieder G Am gespielt werden. Ritchie Blackmore spielt die Akkorde als sogenannte Powerchords, also ohne Terz.
Das Intro dauert 48 Sekunden. Das dominante Instrument ist die Orgel; der Gesang setzt bei Sekunde 50 ein und wird durch einen doppelten Bass-Drum-Schlag angekündigt. Das lyrische Ich spricht zu einem Kind. Es prophezeit ihm, dass es eine Linie sehen wird, die zwischen Gut und Böse gezeichnet ist. Das lyrische Ich nimmt also Bezug auf etwas, was anscheinend zwei Seiten hat und eine moralische Entscheidung inkludiert. Es beschreibt im weiteren Verlauf einen blinden Mann, der auf die Welt schießt (“See the blind man, shooting at the world”). Es wird ein Bild gezeichnet, welches sich durchaus auf den Kalten Krieg beziehen lässt. Ein Blinder oder jemand, der nichts sehen kann, hat nicht die Kontrolle darüber, was er zerstört, wenn er eine Waffe abfeuert. Der blinde Mann kann in einem metaphorischen Sinne für eine*n Politiker*in stehen, der/die mit dem Gebrauch von Atomwaffen unzählige Kollateralschäden verursacht. Weiterführend könnte man den Text dahingehend auslegen, dass die Macht des Einzelnen, insbesondere die Macht einzelner Politiker*innen kritisiert und in Frage gestellt wird. Der Text kreist des Weiteren um Themen wie Ohnmacht und Tatenlosigkeit, welche in den schreiartigen Vokalisen von Sänger Ian Gillan ihren klanglichen Ausdruck finden. Das lyrische Ich fordert dazu auf, die Augen zu schließen (“You’d better close your eyes”), den Kopf zu senken (“bow your head”) und auf den Querschläger zu warten (“wait for the ricochet”). Wenn man also noch nicht von umherfliegenden Kugeln getroffen wurde, hat man nur noch die Möglichkeit, ebenfalls zu erblinden und gesenkten Kopfes auf sein Schicksal zu warten.
Die spätere Ikonisierung und Umdeutung von CHILD IN TIME als Rock-Hymne war zum Zeitpunkt der Entstehung nicht beabsichtigt. In dem 2005 erschienenem Buch Deep Purple, die Geschichte einer Band sagt Gillan, dass er schockiert war, als er “erfuhr, dass ein Song, der ohne erzählerischen Gehalt geschrieben worden war [und] von Widerstandsgruppen im Untergrund in einigen osteuropäischen Ländern als Hymne übernommen wurde. Es ist für einen Sänger und Songwriter beängstigend, wie viel Einfluss man manchmal hat, ohne es zu wissen” (Sailer 2005: 195).
IV.Rezeption
Deep Purple hat mit CHILD IN TIME einen ‘Klassiker’ der Rockmusik geschaffen, wobei der Bekanntheitsgrad des Liedes über den der Band hinausgeht. Vordere Platzierungen auf unzähligen Bestenlisten unterstreichen die Wichtigkeit des Songs. In den über 50 Jahren seit seiner Entstehung kam der Song in unterschiedlichsten Kontexten zum Einsatz. Unter anderem wurde er in dem Film Der Baader Meinhof Komplex (2008) als musikalische Untermalung von Szenen genutzt, die Demonstrationen, Ausschreitungen und kriegerische Handlungen zeigen. Das bekannteste Cover stammt von Ian Gillan selbst und ist auf seinem Soloalbum “Child in Time” (1976) erschienen. Mit weit über 100 Millionen verkauften Platten gehört Deep Purple zu den erfolgreichsten Rockbands aller Zeiten.
MARIUS DICK
Credits
Guitar: Ritchie Blackmore
Vocals: Ian Gillian
Bass: Roger Glover
Drums: Ian Paice
Organ: Jon Lord
Music/Writer/Songwriting: Ian Gillian, Ritchie Blackmore, Jon Lord, Roger Glover, Ian Paice
Producer: Deep Purple
Label: Harvest Records
Recorded: 1969–1970, IBC Studios London
Published: 1970
Length: 10:18
Recordings
- Deep Purple. “Child In Time”. On: Deep Purple In Rock, 1970, Harvest Records, SHVL 777, 1E 062 91442, UK (LP, Album).
- It’s A Beautiful Day. “Bombay Calling”. On: It’s A Beautiful Day, 1969, Columbia, CS 9768, US (LP, Album).
Covers
- Ian Gillan Band. “Child In Time”, Child In Time, 1976, Polydor, Oyster, 2490 136, UK (LP, Album).
- Yngwie Malmsteen. “Child In Time”, Inspiration, 1996, Music For Nations, CDMFNX 200, UK (2xCD, Album).
References
- Dörting, Thorsten: Der Herrscher der Hammond. In: Spiegel Online, 17.07.2012. URL: https://www.spiegel.de/kultur/musik/deep-purple-legende-jon-lord-ist-tot-a-844753.html [30.10.2021].
- Narendra, Kusnur. Ian Gillan, Mumbai, India. 3rd May 2002. In: Mid-Day Newspaper, 03.05.2002. URL: http://deep-purple.net/Review-files/asia2002/mumbai-gillan-interview.htm [30.10.2021].
- NME Magazine. 1970. The Beatles split at last, with McCartney replacing Lennon with Linda…, 21.12.1999. URL: https://www.nme.com/news/music/nme-2437-1389516 [30.10.2021].
- Metal1.info. Deep Purple – die Unverwüstlichen, 06.04.2013. URL: https://www.metal1.info/metal-reviews/deep-purple-history-hits-highlights-68-76-dvd/ [30.10.2021].
- Roth, Jürgen/Sailer, Michael. Deep Purple, die Geschichte einer Band. Hannibal 2005.
About the Author
All contributions by Marius Dick
Citation
Marius Dick: “Child in Time (Deep Purple)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://www.songlexikon.de/songs/child-in-time, 11/2024.
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