1975
Bruce Springsteen

Born to Run

Der Song BORN TO RUN markierte seinerzeit den Durchbruch des US-amerikanischen Musikers Bruce Springsteen als Superstar. Heute wird der Song gemeinhin als Meilenstein der Rockmusik bewertet.

I. Entstehungsgeschichte

BORN TO RUN ist der fünfte Track auf dem gleichnamigen dritten Studioalbum von Bruce Springsteen. Zeitgleich zum Album (25.8.1975) wurde der Song als Single ausgekoppelt (mit der B-Side “Meeting Across the River”). Für Musik und Text zeichnete Bruce Springsteen verantwortlich. Bemerkenswert an BORN TO RUN ist die ungewöhnlich lange Aufnahmedauer von sechs Monaten, ein Tatbestand, der beispielhaft für eine signifikante Veränderung in der künstlerischen Herangehensweise seines Komponisten steht. Während die Songs auf den beiden ersten Alben The Wild, the Innocent & the E Street Shuffle (1973) und Greetings from Asbury Park, N.J. (1973) in musikalischer und sprachlicher Hinsicht aus einer Haltung der Spontaneität und Natürlichkeit heraus entstanden, wurde die Produktion von BORN TO RUN durch Experimentierfreude und Perfektionismus geleitet. Für Springsteen war es nicht länger maßgeblich, spontan “zu sein”, sondern spontan “zu klingen” (Masur 2009). Ausdruck seiner Entschlossenheit, sich dem richtigen Sound Stück für Stück anzunähern, sind die alternativen Tonspuren, die keinen Eingang in den finalen Mix fanden. So existieren beispielsweise weibliche Backing-Vocals und überbordende Streicher-Parts, von denen letztendlich abgesehen wurde, da sie dem Song zu viel von seiner rhythmischen Kraft genommen hätten. Zudem wurde zwischenzeitlich mit elf verschiedenen Gitarrenspuren, gedoppelten Lead-Vocals und Umweltaufnahmen (Straßenverkehr, Autorennen) gearbeitet (vgl. ebd.).

II. Kontext

Zum Zeitpunkt der Albumproduktion war Bruce Springsteen ein in der Region New York/New Jersey beliebter Künstler. Die Qualität seine Live-Performances war bekannt, seine beiden ersten Alben wurden landesweit von kleineren Radiostationen gespielt und von der Musikpresse gelobt. Doch bedeutete dies gleichzeitig, dass er die bis dato von seiner Plattenfirma CBS in ihn gesetzten Erwartungen, in den nationalen und internationalen Mainstream-Markt aufzusteigen, nicht erfüllt hatte. Bereits vor der Produktion war somit klar, dass das kommende Album Springsteens letzte Chance auf einen Durchbruch als gefeierter Rockstar sein würde. Die im Nachhinein zu einem Standard-Zitat der Popkultur geronnene Aussage des Musikkritikers Jon Landau aus dem Jahr 1974, wonach dieser in Bruce Springsteen die Zukunft des Rock ‘n’ Roll gesehen habe, hätte folglich zu einer Randnotiz der Popmusikgeschichte werden können.

Kulturgeschichtlich betrachtet, lassen sich an Bruce Springsteen zentrale Traditionslinien der US-amerikanischen Popkultur nachzeichnen, gerade auch in Gegenüberstellung zur britischen Popkultur. Konstitutiv für sein Schaffen ist demnach die Nähe zur Kultur der Singer-Songwriter, welche verkörpert wird durch Künstler wie Woody Guthrie und Bob Dylan. Charakteristisch für jene Kultur – in einschlägiger Literatur mitunter auch dem Folk-Genre zugeordnet – ist die Einfachheit der musikalischen Ausdrucksformen, d.h., im Vordergrund stehen die (Western-)Gitarre, traditionelle Lied- bzw. Songformen und harmonische Wendungen basierend auf Quintverwandtschaften. Zudem kommt auf der Sprachebene ein Narrativ zum Tragen, welches von den Kehrseiten des “Amerikanischen Traums” erzählt, von den Schwachen und Außenseitern in der Gesellschaft. Dem gegenüber nimmt die Figur des gesellschaftskritischen “Liedermachers” in der britischen Popkultur keine exponierte Stellung ein. Die Auseinandersetzung mit Fragen der sozialen Randständigkeit wurde einst von den Fans selbst auf der Folie von Musikgeschmack und Mode ausgetragen. Beispielhaft hierfür sind die Mod-Kultur und das Genre des Northern Soul, welche in musikalischer Hinsicht der afroamerikanischen Musikkultur des Rhythm & Blues nahestanden.

III. Analyse

Der Song dauert sowohl in der Album- als auch in der Single-Version 4:30 Minuten; das Tempo beträgt ca. 150 bpm. Neben dem Gesang kommen E-Gitarre(n), Westerngitarre, E-Bass, Klavier, Hammond Orgel, Glockenspiel, Schlagzeug und Streichorchester zum Einsatz. Der formale Aufbau lässt sich als erweiterte A A B A-Form kennzeichnen (mit 22-taktigen A-Abschnitten und einem 32-taktigen B-Abschnitt). Hinzu kommen das Intro, welches die instrumentale Hookline des Songs vorstellt, Zwischenspiele (mit dieser Hookline als Hauptmotiv), ein Saxophonsolo und das Outro (ebenso aufbauend auf der Hookline). Bemerkenswert an BORN TO RUN ist die Verbindung von energetischer Rock-Performance – vor allem in sängerischer Hinsicht –, prägnanten harmonischen und melodischen Wendungen und einem vielschichtigen Instrumental-Arrangement. Der Song beginnt nach kurzem Schlagzeug-Auftakt (sechzehntel Rolls auf Snare und Toms) mit einer viertaktigen I IV V-Kadenz in E-Dur, dem tonalen Zentrum des Songs. Dazu erklingt die oben erwähnte instrumentale Hookline, gespielt auf einer E-Gitarre mit hochfrequentem Tremolo-Effekt und dem Glockenspiel. Zudem spielen Bass, Klavier (jeweils im Achtelanschlag), Schlagzeug (mit der Bassdrum im Achtelanschlag) und Saxophon (harmonisch auffüllende Töne in großen Notenwerten), so dass insgesamt eine pulsierende “Wall of Sound” entsteht. Nach zweimaligem Durchlauf der Kadenz setzt der Gesang ein; die Instrumentierung ist nunmehr reduziert auf E-Gitarre, Westerngitarre, Bass und Schlagzeug. Nach der erneut zweifachen Ausführung der Kadenz wird in die vierzehntaktige Akkordfolge A | E/Gis | Fism7 | E/Gis | E | E9 | A | E/Gis | Fism7 | E/Gis | E | Cism | A | H gewechselt. Nun setzen Hammond Orgel, Klavier, Glockenspiel und Saxophon ein. Hinzu kommt, dass das Schlagzeug von der “klassischen” Back-Beat-Struktur zwischen Bass- und Snaredrum in einen synkopierten Rhythmus wechselt, wodurch ein Half-Time-Effekt erzielt wird. Zusammengenommen bedeutet dies, dass die Passage auch als ein Binnenabschnitt, eine Art Bridge, innerhalb des A-Teils angesehen werden kann. Unterstützt wird diese Sichtweise dadurch, dass im Anschluss daran die Eröffnungskadenz mit der Gitarren-Hookline folgt, eingeleitet mit den letzten Worten der Bridge: “Baby, we were born to run”. Eröffnungskadenz und Hookline ließen sich hiernach alternativ als Refrain interpretieren. So spricht der hohe Wiedererkennungsfaktor dieses musikalischen Materials für solch eine Interpretation, die jedoch im gleichen Moment durch die Abwesenheit eines einprägsamen Gesangsparts (Springsteen murmelt lediglich die Worte: “Yes, girl we were”) widerlegt zu werden scheint. Unabhängig von den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten zeigt sich an dieser Stelle die Fülle der musikalischen Gestaltungsmittel, die in BORN TO RUN zur Anwendung gelangt. Nach dem zweiten A-Teil folgt ein zwölftaktiges Saxophonsolo, an dessen Ende die Modulation in D-Dur steht. Hiervon ausgehend entfaltet sich der B-Teil. Dessen harmonische Grundlage ist eine Sequenz von sus-4-Akkorden und ihren Auflösungen auf den Grundtönen D, G, A, C. Das Klangbild nähert sich der Wall of Sound des Intros an, so erklingt zusätzlich zur Gesamtheit der bis dahin eingesetzten Instrumente ein Streichorchester. Der B-Teil lässt sich in zwei Unterabschnitte gliedern: einem mit und einem ohne Gesang. Ersterer basiert auf dem zweifachen Durchlauf der oben erwähnten Sequenz. Zu Beginn des rein instrumentalen Abschnitts wird von der Sequenz die sus4-Pendelbewegung übernommen. Zunächst diatonisch auf der Pendelharmonik zwischen F-Dur und C-Dur organisiert, wird schließlich in ein chromatisches Fortschreiten gewechselt. Auf den Halbtonschritt zu Fis-Dur folgt am Ende eine von H aus abwärtsverlaufende chromatische Tonleiter (unisono gespielt). Die Instrumente verharren auf dem Zielakkord H-Dur, die Orgel kreiert über Cluster-Klänge eine sich auftürmende Klangkulisse, ehe Bruce Springsteen die Band einzählt und der dritte A-Teil beginnt. Der Song schließt in der mehrmaligen Wiederholung der Eröffnungskadenz respektive der Hookline.

Auf textlicher Ebene herrscht ein erzählender Stil vor. Der Ich-Erzähler schildert seine leidenschaftliche Beziehung zu einer weiblichen Person namens Wendy. Das Hauptmotiv besteht in dem jugendlichen Bestreben, gemeinsam aus den als problematisch empfundenen Lebensverhältnissen auszubrechen (“We gotta get out while we’re young”). Betont wird dabei der Wunsch nach einer gleichermaßen erotischen und seelischen Vereinigung (“I wanna die, Wendy, with you on the streets tonight in an everlasting kiss”, “Together, Wendy, we’ll live with the sadness”). Der Ich-Erzähler agiert als gebrochener Held, der um seine emotionalen Abgründe weiß, aber moralische Stärke daraus bezieht, sich voll und ganz der Idee der bedingungslosen und leidenschaftlichen Liebe hinzugeben (“I’m just a scared and lonely rider, but I gotta find out how it feels. I wanna know if love is wild, girl, I wanna know if love is real”). Es bleibt jedoch offen, ob die Fähigkeit zur vollkommenen Hingabe in konkrete Taten umgesetzt wird bzw. beim Gegenüber auf Widerhall trifft. Der Song schließt entsprechend in einem eher resignativ-fatalistischem Grundton (“Someday, girl, I don’t know when we’re gonna get to that place where we really wanna go and we’ll walk in the sun. But till then tramps like us, baby, we we’re born to run”).

IV. Rezeption

BORN TO RUN ist die erste kommerziell erfolgreiche Single von Bruce Springsteen. Während sie außerhalb der USA wenig Beachtung fand, stieg sie in den Billboard Top100 bis auf Platz 23. Seinerzeit von der Musikpresse wohlwollend bis euphorisch besprochen, wird der Song heutzutage als Meilenstein der Rockmusik gehandelt. Song und Album bilden gewissermaßen den Ursprung jenes Authentizitäts-Motivs, das fortan die Rezeption von Bruce Springsteen prägen sollte. Im Kern bezieht sich das Moment des Authentischen auf die vom Publikum als aufrichtig empfundene Hingabe des Künstlers an die – nicht zuletzt gesellschaftsverändernde – Urkraft des Rock ‘n’ Roll. Die anhaltende Popularität des Songs drückt sich u.a. in Form von hohen Platzierungen in listenförmigen Pop-Kanonisierungen wie den “500 Greatest Songs of All Time” (Rolling Stone, Platz 21) aus. Nicht minder groß ist die Anerkennung für das gleichnamige Album (Platz 18 unter den “500 Greatest Albums of All Time”, herausgegeben durch den Rolling Stone). Offizielle Konzertmitschnitte des Songs sind auf den Live-Alben Live/1975–85 (1986), Chimes of Freedom (1988), Live in New York City (2001) und Hammersmith Odeon London ’75 (2006) enthalten. Es existieren Coverversionen u.a. von Frankie Goes to Hollywood (1984), Suzi Quatro (1996) und Roger Daltrey (2006).

 

CHRISTOFER JOST


Credits

Hauptgesang, (E-)Gitarre: Bruce Springsteen
Klavier: David Sancious
Saxophon: Clarence Clemons
Orgel, Glockenspiel: Danny Federici
E-Bass: Garry Tallent
Schlagzeug: Ernest Carter
Autor: Bruce Springsteen
Produzent: Bruce Springsteen und Mike Appel
Veröffentlichung: 25. August 1975
Spieldauer: 4:30

Recordings

  • Bruce Springsteen. “Born to Run”, Born to Run, 1975, CBS, 3-10209, USA (Vinyl/Single).
  • Bruce Springsteen. “Born to Run”, Born to Run, 1975, CBS, CBS 3661, Deutschland (Vinyl/Single).
  • Bruce Springsteen. “Born to Run”, Born to Run, 1975, CBS, PC 33795, USA (Vinyl/Album).
  • Bruce Springsteen. “Born to Run”, Chimes of Freedom, 1988, CBS, 4C 44445, USA (Vinyl/Maxi).
  • Bruce Springsteen & The E Street Band. “Born to Run”, Live/1975–85, 1986, CBS, 450227 2, Europa (CD/Album).
  • Bruce Springsteen & The E Street Band. “Born to Run”, Hammersmith Odeon London ’75, 2006, CBS, 82876 77995 2, USA (CD/Album).
  • Bruce Springsteen & The E Street Band. “Born to Run”, Live in New York City, 2001, CBS, SAMPCM 9988, Europa (CD/Sampler).

Covers

  • Frankie Goes To Hollywood. “Born to Run”, Welcome to the Pleasure Dome, 1984, ZTT, A1-90232, USA (Vinyl/Album).
  • Roger Daltrey. “Born to Run”, Gold, 2006, Hip-O (CD/Album).
  • Suzie Quatro. “Born to Run”, What Goes Around, 2006, Elap. (CD/Album).

References

  • Marsh, Dave: Born to run. Die Bruce Springsteen Story. Balve: Star Cluster 1983.
  • Marsh, Dave: Bruce Springsteen. Two Hearts. New York: Routledge 2003.
  • Skinner Sawyers, June (Ed.): Racing in the Street. The Bruce Springsteen Reader. New York: Penguin Books 2004.
  • Rolling Stone (Ed.): Rolling Stone’s 500 Greatest Albums of All Time. London: Turnaround 32006.
  • The 500 Greatest Songs of All Time. In: Rolling Stone 963 (2004).

Links

  • Masur, Louis: Tramps Like Us: The Birth of Born to Run, 2009. URL: http://www.slate.com/articles/arts/music_box/2009/09/tramps_like_us.html [27.06.2012].
  • Artist homepage: http://brucespringsteen.net/ [9.08.2012].
  • Lyrics: http://brucespringsteen.net/songs/born-to-run [9.08.2012].

About the Author

PD Dr. Christofer Jost is research associate at the Zentrum für Populäre Kultur und Musik, University of Freiburg, and teaches media studies at the University of Basel.
All contributions by Christofer Jost

Citation

Christofer Jost: “Born to Run (Bruce Springsteen)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/borntorun, 09/2012 [revised 03/2017].

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