1989
Simple Minds

Belfast Child

BELFAST CHILD gilt als Beispiel für den Crossover zwischen irischer Volksliedkultur und Pop- und Rockmusik zur Thematisierung des Nordirland-Konflikts. Das Lied fand Ende der 1980er Jahre weite Verbreitung und löste somit in ein breites internationales Echo auf der Folie eines nationalen Konflikts aus.

I. Entstehungsgeschichte

Laut Aussage des Sängers der Simple Minds, Jim Kerr, entstand BELFAST CHILD in Zusammenhang mit dem sogenannten Enniskillen Bombing, das sich am 8. November 1987 in der Stadt Enniskillen, Verwaltungssitz der nordirischen Grafschaft Fermanagh, ereignete und zu einem der schwersten Terror-Anschläge der Irish Republican Army (IRA) zählte. Die Simple Minds befanden sich zu diesem Zeitpunkt zu Studio-Aufnahmen in Schottland. Einige Jahre zuvor hatte der Produzent des aktuellen Albums Trevor Horn bereits zur Aufnahme bzw. Verarbeitung eines Folk Songs angeregt, die Band hatte sich aber nicht dazu entschließen können (vgl. Staunton 1989). Anlässlich der aktuellen Ereignisse schien nun ein passender Zeitpunkt gekommen zu sein. Auf der melodischen Basis des irischen Volksliedes “She Moved Through the Fair” entstand ein Lied über den Nordirlandkonflikt. Der Originaltext wurde von den Simple Minds mit einem komplett neuen Text überschrieben, um den Bezug zur Gegenwart herzustellen. Die ausschlaggebenden Gründe für die Wahl von “She Moved Through the Fair” sind unklar. Hintergrund war vermutlich die große Popularität des Lieds, die sich anhand zahlreicher Coverversionen in der internationalen Musikszene nachzeichnen lässt. So konnte ein gewisser Grad an Vertrautheit vorausgesetzt werden, der dem kritischen Inhalt des Textes ein höheres Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit zu bescheren vermochte.

Eingespielt wurde BELFAST CHILD in Schottland während der von März 1988 bis März 1989 andauernden Aufnahmen zum neunten Studioalbum Streetfighting Years, das am 8. Mai 1989 erschien. Produzenten waren Trevor Horn und Stephen Lipson. BELFAST CHILD war die erste Singleauskopplung aus dem Album und erschien noch vor dessen Veröffentlichung am 25. Februar 1989 mit dem Untertitel Ballad of the Streets zusammen mit Mandela Day auf der B-Seite. Dieser politische Rahmen wurde auf dem zeitgleich erschienenen Extended Player (EP) um ein drittes Lied, ein Cover von Peter Gabriels “Biko”, erweitert. Als Besonderheit von BELFAST CHILD kann das Moment der Sensibilisierung für den Nordirlandkonflikt durch einen speziellen ‚irischen’ Sound angesehen werden.

BELFAST CHILD bedeutete für die Simple Minds den bis dato größten Erfolg der Bandgeschichte, der ihren ersten Nummer-Eins-Hit “Don’t You (Forget About Me)” (1985) weit übertraf. Darüber hinaus präsentierte sich die Band erstmalig ‒ wie auch auf dem gesamten Album Streetfighting Years ‒ als deutlich politisch engagiert. BELFAST CHILD ist bis heute eines der kommerziell erfolgreichsten Lieder aus dem Bereich der Pop- und Rockmusik zum Nordirland-Konflikt.

Ein konzeptionell entsprechend gestalteter Videoclip wurde in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Andy Moraha an Originalschauplätzen in Belfast gedreht.

II. Kontext

Auslöser für die Komposition von BELFAST CHILD war, wie oben erwähnt, das Enniskillen Bombing (auch Remembrance Day Bombing oder Poppyday Massacre) am 8. November 1987. Während einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der britischen Armee in den beiden Weltkriegen detonierten im nordirischen Enniskillen mehrere Bomben der Irish Republican Army (IRA). 11 (protestantische) Zivilisten wurden getötet und 63 verletzt. Der Anschlag ließ nachfolgend in Irland die ‚Sympathien’ für die Untergrundorganisation auf einen Tiefpunkt sinken.

III. Analyse

BELFAST CHILD basiert weitgehend auf der Übernahme der Melodik und Harmonik des Traditionals “She Moved Through the Fair” (auch bekannt unter: “Out of the Window” oder “Our Wedding Day”). Die mittelalterliche Ballade, die aufgrund ihrer Herkunft aus der Grafschaft Donegal an der Grenze zum späteren Nordirland auch als nordirisches Volkslied rezipiert wird, erschien erstmals 1909 in der Sammlung “Irish Country Songs”. Es existieren unzählige Coverversionen des Liedes, die durch sämtliche Genres der Pop- und Rockmusik führen ‒ vom Techno (Scooter in “Ratty’s Revenge”) bis zum Celtic Folk Rock (Loreena McKennitt) (weitere Beispiele sind verzeichnet in: Wasserloos 2012: 362).

Die Sphäre des Traditionellen wird durch die zusätzliche Besetzung mit Instrumenten aus der irischen Volksmusik wie Violine, Akkordeon, Tin Whistle sowie der irischen Rahmentrommel Bodrhán erreicht. Insbesondere durch den mixolydischen Modus der Melodie, den Klang der Volksmusikinstrumente und das transparente Klangbild des A-cappella-Gesangs bzw. des Gesangs mit reduzierter Begleitung in den beiden A-Teilen (Strophe 1 und 2, Refrains), werden folkloristische Stimmungen erzeugt, die leicht mit der irischen Kultur assoziiert werden können. Hingegen zeigt der B-Teil (Strophe 3 und 4) ein sehr viel schrofferes und voluminöseres Klangbild ‒ der Gesang steigert sich hier von einem staccatohaften ‚Skandieren’ bis zum Schreien (auf “That’s flesh and blood man”). Thematisiert werden die Zerstörung und die Verlassenheit Belfasts, kombiniert mit dem auffordernden Ruf an die Bewohner nach einer ‚Rückkehr’.

Auch auf harmonischer Ebene verweist BELFAST CHILD auf die Einfachheit eines Volksliedes; der Song basiert durchgängig auf dem mixolydischen Modus auf d. Entsprechend ist stets das gleiche Akkordschema aus Doppelsubdominante Subdominante-Tonika (C-G-D) zu vernehmen. Im B-Teil erklingt permanent der Orgelpunkt d, der gemäß der folkloristischen Stilistik als Bordun fungieren soll. Markant ist ebenso der Quintakkord (d-a) der Tonika zu Beginn und Schluss des Liedes. Dieser vermittelt eine gewisse Leere und Unbestimmtheit, so dass BELFAST CHILD als episodenhafter Kommentar zum Nordirland-Konflikt wirkt, dessen Ausgang und Lösung ungewiss und undefiniert bleibt. Zudem suggeriert der offene Schluss den Eindruck von zeitlicher Kontinuität. Die Verwendung von traditionellem Instrumentarium und schlichten musikalischen (Gestaltungs-)Formen übernimmt nostalgische Funktionen und verweist auf die bewegte Geschichte Irlands sowie auf die Tradition und den Fortbestand irischer Kultur. In diesem Sinne ist BELFAST CHILD als ein Konglomerat unterschiedlicher Elemente der irischen Folklore und des internationalen Rock- und Pop-Mainstreams zu verstehen, das im Sinne eines Hybrids aus Tradition und Moderne überaus erfolgreich war (vgl. Wasserloos 2012: 364).

IV. Rezeption

Mit BELFAST CHILD errangen die Simple Minds ihren ersten Nummer-Eins-Erfolg in Irland. In den britischen Single-Charts hielt sich Belfast Child zwölf Wochen, davon zwei Wochen auf Platz 1 und erreichte auch in den Niederlanden den Spitzenplatz. In Deutschland und der Schweiz waren hohe Platzierungen mit jeweils dem dritten Rang zu verzeichnen. In Großbritannien hatten vermeintlich unpolitische Radiosender zunächst versucht, die Verbreitung des  Songs durch Zensur, d. h. Nicht-Senden, zu torpedieren und ersatzweise eine Vorschau auf das Album Streetfighting Years zu präsentieren. Der Plan wurde allerdings fallen gelassen, nachdem bekannt geworden war, dass das gesamte Album politisch relevante Themen aufgriff (vgl. Thomas/Wrenn 1989: 103). Während der zwölf Wochen, in der sich die Single in den britischen Charts hielt, fand der Terror durch die IRA und die Ulster Volunteer Force (UVF) in Nord-Irland seine gewaltsame und brutale Fortsetzung. Vor diesem Hintergrund könnte BELFAST CHILD in dieser Zeit als ein Kompensator für negative Erfahrungen und Gefühle der Trauer fungiert haben (vgl. Wasserloos 2012: 368f.).

 

YVONNE WASSERLOOS


Credits

Vocals: Jim Kerr
Gitarre: Charles Burchill
Bass: John Giblin, Stephen Lipson
Drums: Mel Gaynor, Manu Katche
Keyboards & Akkordeon: Michael MacNeil
Tin Whistle & Bodrhán: Maureen Kerr
Violine: Lisa Germano
Musik: Traditional “She Moved Through the Fair”/Simple Minds
Text: Simple Minds
Produzent: Trevor Horn, Stephen Lipson
Label: A&M Records
Aufnahme (Album): Schottland, März 1988 – März 1989
Veröffentlichung (Belfast Child): Februar 1989
Länge: 6:42

Recordings

  • Simple Minds. “Belfast Child”, Streetfighting Years, 1989, A&M Records.
  • Simple Minds. “Belfast Child”, Ballad of the Streets, 1989, Virgin, SMX 3 (Vinyl/7”-Single).
  • Simple Minds. “Belfast Child”, Ballad of the Streets, 1989, Virgin, SMXT 3 (Vinyl/12”).

References

  • Staunton, Terry: Street Fighting Man. In: New Music Express (UK), 4.2.1989. URL: http://www.simpleminds.org.uk/streetfightingreviews.html [03/2013].
  • Thomas, Dave/Mike Wrenn: Simple Minds. Dt. von Joachim Peters. Rastatt: Moewig 1989.
  • Wasserloos, Yvonne: “Sunday Bloody Sunday” und “Belfast Child”. Politischer Terror und musikalische Reflexion im Nordirland-Konflikt der 1980er Jahre. In: Musik – Macht – Staat. Kulturelle, soziale und politische Wandlungsprozesse in der Moderne. Ed. by Sabine Mecking and Yvonne Wasserloos. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (V&R unipress) 2012, 339-370.

About the Author

PD Dr. Yvonne Wasserloos teaches musicology at the Robert Schumann School of Music and Media and cultural history at the universities of Lüneburg and Copenhagen.
All contributions by Yvonne Wasserloos

Citation

Yvonne Wasserloos: “Belfast Child (Simple Minds)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http.//www.songlexikon.de/songs/belfastchild, 03/2013 [revised 05/2014].

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