1997
Björk

Bachelorette

In dem Song BACHELORETTE der isländischen Künstlerin Björk wird die scheinbar triviale Geschichte einer Frau erzählt, die vom Land in die Stadt geht und dort, losgelöst von ihrer natürlichen Basis, die Orientierung verliert.

 

I. Entstehungsgeschichte

BACHELORETTE ist der vierte Song auf dem 1997 entstandenen Album Homogenic, Björks viertem Soloalbum. Da sie das komplette Material erst nach dem Verlassen ihrer Heimat aufschrieb, kann Homogenic als die erste vollständige Reflektion Björks über ihre isländische Herkunft verstanden werden (vgl. Dibben 2009: 41). Bereits der Albumtitel verweist auf die Auseinandersetzung der Künstlerin mit der fernen Heimat. Björk betont in diesem Zusammenhang selbst, dass die Klänge auf diesem Album nicht sonderlich neuartig seien, sondern vertraute Elemente aus der Musiksprache enthalten, die sie als Kind gehört hat: “The music of Homogenic is very close to the music I heard as a child. it’s a very icelandic record, especially as far as rhythm is concerned. But it’s not a record that wasn’t there yesterday; it’s always been there, but just had to materialize. The sounds, the rhythms, the emotions, they’ve always been inside my head. I put them down on Homogenic. I look at it as a document and the title of the record actually indicates that the music comes more or less from one direction: straight from the heart, because home is where the heart is…” (Björk, 2016).

In der Regel beginnt Björk beim Kompositionsprozess mit ihrer Stimme (vgl. Dibben 2009: 109). Das bedeutet, dass zum einen die Lyrics und die Musik separat voneinander entstehen, zum anderen, dass der musikalische Begleitapparat an die melodische Phrase angepasst wird und nicht andersherum, wie es bei den meisten Musikproduktionen gehandhabt wird. Die britischen Musikproduzenten Guy Sigsworth und Mark Bell kollaborierten für Homogenic mit Björk, doch erklärt diese im Hinblick auf die Arbeit an Homogenic selbst: “This time I didn’t want too much intervention from others” (Anonym o.J.). Dennoch ist auf dem Album durch die vielfältige Instrumentierung (Orgel, Klavier, Glasharmonika, Streichoktett und Akkordeon) eine ganze Reihe von Beteiligten aufgelistet.

Die Lyrics zu BACHELORETTE – der Titel heißt übersetzt so viel wie “Junggesellin” oder “alleinstehende, junge Frau” – schrieb sie in Zusammenarbeit mit ihrem guten Freund, dem isländischen Schriftsteller Sjón (Sigurjón Birgir Sigurðsson) (vgl. Anonym o.J.). BACHELORETTE gilt als quasi epische Fortsetzung der Songs “Human Behaviour” (Debut, 1995) und “Isobel” (Post, 1996), womit eine albumübergreifende Trilogie entstanden ist, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur zum Gegenstand der Betrachtung macht. Die Verantwortung für das Video zum Song unterlag wie schon bei “Human Behaviour” und “Isobel” dem Regisseur Michel Gondry. Ihm selbst übrigens gelang der Durchbruch mit dem Musikvideo zu “Human Behaviour”.

Das Bild auf dem Cover, aufgenommen von dem Londoner Modedesigner Alexander McQueen, zeigt nicht die bis dahin bekannte Björk, die sich mädchenhaft und jugendlich inszenierte, sondern eine kalte, emotionslose Björk als Geisha kostümiert, umgeben von Eisblumen, die die Gefühlskälte um sie herum bildhaft zum Ausdruck bringen. Die skurrile Frisur mit zehn Kilo Haar auf dem Kopf, monströse Fingernagelverlängerungen und spezielle Kontaktlinsen verstärken die Wirkung der förmlichen, distanzierten Seelenlosigkeit dieser Figur. Björk beschreibt die Figur auf dem Bild in folgender Weise: “Someone who was put into an impossible situation, so impossible that she had to become a warrior. A warrior who had to fight not with weapons, but with love… I wanted to put all the emotion of the album into that image” (Björk zit. nach Dibben 2009: 140).

BACHELORETTE erschien im September 1997 in Großbritannien und den USA auf CD und Musikkassette. Ursprünglich entstand der Song als ein Auftrag des italienischen Filmregisseurs Bernardo Bertolucci für dessen Film Stealing Beauty von 1996 (vgl. Dierks 2013: 68). Die Gründe dafür, warum es schließlich zu keiner Zusammenarbeit kam, sind nicht bekannt.

 

II. Kontext

“Es gibt genau genommen keine Band und auch keine Solistin Björk, sondern die Performerin Björk, die sich mit ihrer Musik und durch diese immer wieder neu und anders erfindet” (ebd.: 77). Ein Neustart war für die Künstlerin Ende 1996 wohl auch dringend nötig. Sie war unter großem Druck und es gab viele Menschen, die für sie arbeiteten, finanziell an sie und ihre Arbeit gebunden und von ihr abhängig waren. Sie hatte zwei Jahre ohne Pause durchgearbeitet und war vor allem in ihrem Privatleben im Fokus der Öffentlichkeit. Nachdem sich die Situation mit einer Briefbombe, die glücklicherweise von Scotland Yard abgefangen werden konnte, und dem Suizid eines Fans noch weiter zuspitzte, entfloh sie dem Trubel um ihre Person an die spanische Küste. Dort begann sie mit der Arbeit an Homogenic unter dem Arbeitstitel “Homogenous” (Dorner o.J.). Deshalb trägt vor allem der Song BACHELORETTE auch biographische Züge, wenn dort eine Frau mit ihren naturgegebenen Talenten berühmt wird und durch den Trubel der Stadt fern ihrer Heimat die Orientierung verliert und zuletzt daran zerbricht.

Daneben ist die Gegensätzlichkeit zwischen Natur und Technik ein konstantes Thema in Björks künstlerischem Schaffen. Dieser selbst gesetzte Schwerpunkt ist nicht zuletzt beeinflusst durch ihre beiden Elternteile, die diesen Gegensatz gewissermaßen verkörpern: ihr Vater als Techniker, daneben ihre Mutter als hippieske Künstlerin. Gleichzeitig stellt die Auseinandersetzung zwischen Tradition und Innovation, naturbelassener Landschaft und technologisierter Modernität ein prägnantes Diskursfeld dar. In der Verbindung von technisch produzierten Sounds und Beats mit akustischen Klängen von Instrumenten und Stimme gelingt Björk eine Vereinigung der Gegensätze durch künstlerische, ästhetische Möglichkeiten, wenn auch ihr eigener Standpunkt dabei sicherlich die Seite der Natur darstellt. “Wir bauen Städte, die schick aussehen, aber fürchterlich klingen. Wir gestalten Telefone, die toll aussehen, aber fürchterlich klingen. Ich denke, es ist Zeit, dass die anderen Sinne zu ihrem Recht kommen” (ebd.: 75). Björks stilistische Bandbreite ist erstaunlich. Über die Zusammenarbeit mit Lars von Trier und den Soundtrack zum Film Dancer in the Dark (1999), in dem sie selbst die Hauptrolle spielt, werden reale Alltagsklänge aus Fabrikhallen zum Ostinato, aus dem sich eine musikalische Parallelwelt entwickelt. Später produziert sie das Album neu unter dem Titel Selmasongs (2000). In Medúlla (2004) arbeitet sie mit A-cappella-Stimmmaterial und bearbeitet dieses technisch nach, Biophilia (2011) dient mit seinem intermedialen, pädagogisch-bildenden Gesamtkonzept eine Schnittstelle zwischen Technik, Wissenschaft, Natur und Kunst.

Als ausschlaggebend für die Auseinandersetzung mit ihrer isländischen Herkunft in Homogenic könnte unter anderem Björks längere geographische Distanz zu ihrem Heimatland gesehen werden. Nachdem sich die isländische Band Sugarcubes aufgelöst hatte, in der Björk als Sängerin einen gewissen Grad an Bekanntheit erlangte, entschied sie sich, eine Solokarriere zu starten und dafür Island zu verlassen und nach London zu ziehen. Zum Zeitpunkt der Produktion und Veröffentlichung von Homogenic war Björk bereits seit fünf Jahren fern ihrer Heimat. “I go to London, and I’ve never been so Icelandic” (Björk zit. nach Dibben 2009: 42). Durch die vertiefende Zuwendung zu ihrer Kindheit und Jugend in Island verweist sie gleichzeitig auf die nordischheidnische Vorstellung von der Beseeltheit der Natur und der Idee der ursprünglichen Harmonie zwischen Mensch und Natur. “Björk’s artistic output can be understood as a response to the sudden shift from rural to urban life that occured in Iceland during the twentieth century” (ebd.: 56). Insofern kann die Trilogie von “Human Behaviour”, “Isobel” und BACHELORETTE als die Geschichte des mystischen Wesens Isobel verstanden werden, das mit natürlicher Intuition ausgestattet ist, sich aber im städtischen Lebensraum durch die Überflutung von Reizen der drohenden Gefahr des Verlustes dieser Gabe gegenübersieht. Als ein weiterer unentbehrlicher Punkt der isländischen Identität gilt außerdem das Geschichtenerfinden und -erzählen. So stellt Björk fest: “Storytelling is us. The Icelandic people, we were the ones who wrote down all the sagas. They memorized stories from generation to generation; they could go on for, like, two hours. That’s why I believe in old-school songwriting” (Björk zit. nach ebd.: 38).

Was genau Björk mit “old-school songwriting” meint, bleibt offen, ist doch ihr Markenzeichen eine innovative Experimentierfreude und eine daraus folgende stilistische Undefinierbarkeit. Stilistisch ist in Homogenic nichts mehr von den Jazzharmonien und nur noch teilweise etwas von den Technobeats der früheren Alben zu finden. “Her inclusion of different styles is more than stylistic eclecticism: it rejects divisions of cultural integration through musical sound and practice” (ebd.: 119). Im Vorwort zum Interview, das Björk mit Karlheinz Stockhausen führte, dem Pionier der elektronischen Musik der Mitte des letzten Jahrhunderts, beschreibt sie ihre Faszination an Stockhausens Arbeitsweise: “He goes one step ahead, discovers something that’s never even been done before musically and by the time other people have even grasped it he’s onto the next thing. Like all scientific geniuses, Stockhausen seems obsessed with the marriage between mystery and science, although they are opposites” (Björk zit. nach Anonym o.J.). Wenn sich Björk ihre innovative Einstellung nicht dank Stockhausen angeeignet hat, dann war sie vielleicht deshalb so von ihm beeindruckt, weil sie selbst genau dieselben Vorstellungen von den Möglichkeiten und Fähigkeiten des künstlerisch-musikalischen Mediums besitzt.

 

III. Analyse

Hohe flirrende Streicherklänge kommen wie aus dem Nichts, um in einem schnellen abwärtsgerichteten Glissando wie von einem hohen Gipfelpunkt in den Abgrund zu stürzen. Vielleicht zeigt sich schon in dieser Gestalt der unausweichliche Ausgang der in diesem Song und vor allem durch das Video visuell unterstützend erzählten Geschichte: der Aufstieg und der unausweichliche Fall der Protagonistin. Im Video ist eine Sequenz vor den Beginn des Streichereinsatzes gestellt. Sie beginnt mit folgenden Worten, die Björk auf geheimnisvolle Weise fast flüstert: “One day I found a big book buried deep in the ground…”. Doch beim Aufschlagen des Buches sind die Seiten zunächst leer und schreiben sich erst im weiteren Verlauf der Geschichte von selbst wie von Geisterhand. Die Protagonistin geht mit diesem Buch in die Stadt und gelangt dort damit zu Berühmtheit, die sie allerdings nicht verkraftet. Das Buch wird immer größer und schwerer und wird zu einer Last. Der Schauplatz wandelt sich zu einer Bühne und wird auch damit immer unwirklicher, fast surreal. Sie hat sich mit ihrer Geschichte gewissermaßen verkauft, zumindest verkalkuliert, und erlebt ihren eigenen Fall. Die Zeilen auf den Seiten verschwinden genauso geisterhaft wie sie erschienen sind und überall sprießen grüne Bäume. Zum Schluss sieht man die in die Natur und zu ihren Wurzeln zurück gekehrte Björk alleine singen.

Nach dem Streicherglissando folgt der Basseinsatz (in der Albumversion bei 0:07, in der Videoversion bei 0:32), der für die nächsten acht Takte vorerst die Tonalität etabliert, indem der zweitaktige Wechsel zwischen c-Moll und g-Moll auf das sich später durch die Gesangmelodie herausbildende modale c-dorisch hinweist. Der Bass ist synthetisch produziert und klingt anfangs nach einer klanglichen Fusion aus Pauke und Klavierbasstönen. Dazu kommt ein pulsierendes, perkussives, synthetisches Geräusch. Die Streicher unterstützen durch harmonische Klangflächen die emphatische Wirkung.

Dann beginnt, nach einem Cembaloarpeggio, ein rhythmisches, motorisches Tangopattern im Bass, das als Basis für den Strophengesang fungiert, der im zehnten Takt des Tangorhythmus einsetzt. Dies spiegelt die Fragen nach Identität und Zugehörigkeit wider und greift die Ambivalenz zwischen Ursprünglichem und Artifiziellem auf. Der Tango verkörpert eine sinnlich-anziehende Verführung und ein sich dagegen wehrendes Abstoßen.

Die Harmonien wechseln zweitaktig zwischen c-Moll, g-Moll mit Quintbass und c-Moll mit Terzbass, also im Sekundschritt auf- und absteigend, und bilden so ein zehntaktiges harmonisches Bassmuster. Die Melodie der Strophe besteht aus zweimal zwei Takten, die sich im Ganzen noch einmal wiederholen. Daraus ergibt sich eine Verschiebung der Melodie in Bezug auf die grundlegende Harmonieabfolge: //: Gm – Cm – Cm- Gm ://. Der Einsatz der Melodie beginnt auf dem zweiten Achtel nach der Zählzeit Eins (Albumversion 0:44) und kreist melodisch um den Ton Bb1. Der Reim folgt wie bei allen anderen Strophen dem Schema abcb. Die acht Takte einer Strophe dauern genau 20 Sekunden. Darauf folgt sogleich die zweite Strophe, die inhaltlich auf die erste aufbaut. Das lyrische Ich verkörpert die Natur, indem es sich in der ersten Strophe mit einer Quelle aus Blut, in der dritten mit einem Pfad aus Asche, einem geheimnisvollen Flüstern im Wasser, vielleicht als Sinnbild von Intuition als einer inneren Stimme, und zuletzt mit einem Baum, der Herzen trägt, identifiziert. Es ist im Dialog mit einem Gegenüber, das in den ersten beiden Strophen als ein Vogel vorgestellt wird. Beide stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander, das sich im weiteren Verlauf jedoch verändert, passend zur das Bb umkreisenden Melodie. Während das Gegenüber anfänglich gebannt ist von dem Gewirbel, das durch das lyrische Ich (die Quelle) ausgelöst wird, verlangt diese danach, dass der Vogel aus ihr trinkt. Das lyrische Ich bleibt passiver als sein Gegenüber, wagt nur dezente, flüsternde Aufforderungen, die durch wachsende Distanz beantwortet werden. Die glühende Asche und die brennenden Füße sind genauso Analogien auf den Tango im Untergrund wie das kühle, distanzierte Abwenden und zuletzt das aggressive und endgültige Zerbrechen des Asts.

Der Refrain benötigt fast die doppelte Zeit einer Strophe. Er besteht aus 16 Takten, beginnend mit einem Leertakt, in dem die harmonische Struktur der Strophe durch das noch einmal erklingende g-Moll im Tangorhythmus quasi zu Ende geführt wird. Die melodische Linie des Refrains strebt innerhalb der ersten zwei Takte aufwärts in eine fast komplette Tonleiter von C1 zu C2 (der sechste Ton wird zugunsten eines Terzsprungs von G zu Bb ausgelassen – dadurch wird die dorische Tonalität nicht endgültig fixiert) und verbleibt ganze zwei Takte auf dem C2. Hier wirkt Björks Stimme durch das Benutzen der Kopfstimme sehr hell und gläsern. Das rhythmische Tangopattern wird im Refrain zugunsten eines Motivs, das an einen Herzschlag erinnert, unterbrochen (punktierte Achtel + Sechzehntel und Viertel, beginnend auf Zählzeit Drei), während der pulsierende Synthiesound weiterhin darüber liegt. Gelegentlich hört man schnelle Sechzehntel-Läufe vom Klavier, wie dahinhuschend. Die zweite Textzeile des Refrains steht im Kontrast zur musikalischen Syntax: Im Text wird versprochen, dass die Gezeiten den Weg weisen werden, während in der melodischen Wiederholung der ersten vier Takte des Refrains der Rhythmus durch Synkopierungen leicht versetzt ist, sodass auf rhythmischer Ebene eine Orientierungslosigkeit ausgelöst wird, der nur durch das konzentrierte Hören auf den regelmäßig auf die Zählzeit Drei einsetzenden Bass entgegengewirkt werden kann. Die zwar melodische Wiederholung (Tonleiter aufwärts) wird rhythmisch verändert und um einen Takt verkürzt. Für die folgende Warnung benutzt Björk das eindringlichere Brustregister. Wenn die innere Stimme, die Intuition, verloren geht, dann verliert man die Orientierung, die ja zuvor schon längst ins Schwanken geriet. Hierfür wird ein zweitaktiges melodisches Motiv dreimal wiederholt, bis am Ende des Refrains die Melodie nach oben geführt wird – wieder mit konsequentem Auslassen des sechsten Tones A. Am Ende des Refrains entscheidet sich Björk allerdings gegen die dünne Kopfstimme, die für die geschilderte Gefahrensituation nicht geeignet gewesen wäre: Ein Wal wird verführt und in der Bucht eingekeilt. Sein Schicksal ist es, den Weg nicht mehr zurück in seinen eigentlichen Lebensraum, das offene Meer, zu finden. Von der melodischen Phrase ausgehend kann der Refrain in 1+4+3+(3x)2+2 Takte aufgeteilt werden. Der Takt vor dem Stimmeinsatz steht vereinzelt zwischen Strophe und Refrain. Später wird dieser Einzeltakt durch eine dreitaktige Phrase sozusagen aufgehoben. Trotzdem sind solche Asymmetrien für Popsongs äußerst ungewöhnlich und erschweren für den Zuhörer das spontane Mitsingen. Dass die Melodie der Strophe mit 2x(2×2) Takten viel symmetrischer aufgebaut ist, könnte der Grund dafür sein, dass diese besser im Gedächtnis bleibt.

Nach dem Refrain schließt gleich die dritte Strophe an. Dritte und vierte Strophe werden von einer instrumentalen Streicherstrophe getrennt. Dann folgt der Refrain zum zweiten und letzten Mal, worauf Strophe fünf inhaltlich die Verletzlichkeit der Protagonistin enthüllt, indem sie sich abschließend als einen von einem Eindringling gebrochenen Ast bezeichnet. Daraufhin verweigert ihr die Sprache den Dienst. Während die Streicher noch viermal die Melodie der Strophe spielen, verlässt Björk den vorgegebenen melodischen Rahmen, sie bricht gewissermaßen aus, verlässt auch die Sprache und lässt in Vokalisen, die isländischen Anklang haben, ihren Emotionen freien Lauf. Im Outro sind im Fade-Out leise Akkordeonharmonien wahrzunehmen, die zuletzt noch einmal an den Tango erinnern lassen.

Zusammenfassend lässt sich der formale Aufbau wie folgt festhalten: Intro, erste und zweite Strophe, Refrain, dritte Strophe, instrumentale Strophe, vierte Strophe, Refrain, fünfte Strophe und Outro, das aus instrumentalen Strophen besteht, über die Björk Vokalisen singt.

Im modernen Leben der Stadt verliert der Mensch den Kontakt zu seinen inneren Urinstinkten. Wir richten uns nicht mehr mit dem  natürlichen Tagesrhythmus ein, sondern takten unsere Zeit in ein Schema aus Minuten und Stunden ein, unabhängig von dem naturgegebenen Rhythmus der Gestirne, der sich mit den Jahreszeiten verändert. Dank unserer smarten Mobiltelefone benutzen wir Apps, die uns den Weg finden lassen, anstatt auf unsere instinktive Orientierung zu vertrauen. Björk hat mit BACHELORETTE schon Ende der 90er Jahre die Gefahr der Zerstreuung und Ablenkung durch den technisch modernisierten, verführerischen Charakter der Städte thematisiert. Die ursprünglich natürliche Verbindung von Mensch und Natur stellt für Björk ein zentrales Element ihrer (isländischen) Überzeugung dar.

 

IV. Rezeption

“Avantgardistischer Pop oder poppige Avantgarde?” (Lücke 2012), fragt der Musikwissenschaftler Martin Lücke. Eine Vorgehensweise, bei der mit jedem Mal ein neuer Weg eingeschlagen wird, birgt nicht nur das Risiko des Scheiterns, sondern ist auch im Hinblick auf eine relativ konstante Fangemeinde und die Vermarktung äußerst riskant. Experiment und Innovation stehen in der Regel im Widerspruch zu positiven Verkaufszahlen, da sich Unvorhersehbares eben nicht gut verkauft. Lücke kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass genau diese Unbestimmtheit und Experimentierfreudigkeit Björk “einen festen Platz in der avantgardistischen Popmusik” (ebd.: 486) eingebracht haben. Denn den hohen Grad an künstlerischer Freiheit und Selbstkontrolle, die der Künstlerin erlauben, ihre Visionen umzusetzen, kann sie sich dadurch leisten, dass sie ihre eigene Managerin und Produzentin ist und deshalb mit dem unabhängigen Plattenlabel One Little Indian zusammenarbeitet. So kann sie Kollaborationen mit Künstler*innen eingehen, die sie anregend und interessant findet. Damit geht sie das Wagnis ein, dass einige Fans neue Alben enttäuscht zurückweisen. Aber dagegen steht eben ihr stetes und überzeugtes Streben nach Neuem, was selbstverständlich nicht in erster Linie massentauglich ist. “Zwar betont Björk stets, dass sie nicht der Avantgarde im Sinne der high-culture angehöre, doch bricht sie ständig mit tradierten Hör- und Produktionsgewohnheiten der populären Musik…” (ebd.: 477).

Im September 1997 startete Björk die Promotiontour für ihr neues Album Homogenic, das am 23. September veröffentlicht wurde. Im Dezember wurde BACHELORETTE zusammen mit “Jogá” als Singleauskopplung publiziert und war daraufhin im Dezember 1997 (vgl. Anonym o.J.) sowie im Januar und Februar 1998 in Frankreich, Großbritannien, Italien, Australien und in den Niederlanden unter den Top 100 der Single Charts. BACHELORETTE existiert, neben der Albumversion und dem Musikvideo, in einer instrumentalen Streicherversion und in diversen Remixversionen unter anderem von und mit Mark Bell und dem amerikanischen Musiker Robert Fitzgerald Diggs (RZA).

Offensichtlich rückt das Thema der Intuition vor allem von Island aus immer mehr ins Zentrum der aktuellen gesellschaftlichen Betrachtung: Im Juni 2016 erschien der isländische Film Innseai – Die Kraft der Intuition, der das Thema, mit dem sich Björk spätestens seit “Human Behaviour” auseinandersetzt – nämlich der Verlust des natürlichen Gefühls für die Welt durch zunehmende Zerstreuung und Reizüberflutung sowie die Veränderung des zeitlichen Empfindens und des Denkens über die Welt – behandelt.

 

NINA REINHARDT


Credits

Keyboards, Arrangement, Gesang: Björk
Programmierung Keyboards, Programmierung Schlagzeug: Mark Bell, Markus Dravs, Richard Brown, Marius de Vries, Marcus Davies
Keyboards, Klavier, Orgel: Guy Sigsworth
Elektronisches Schlagzeug: Trevor Morais
Akkordeon: Yasuhino ‘Cobra’ Konybayashi
Glasharmonika: Alasdair Malloy
Transkription, Orchestrierung: Eumir Deodata
Streicher: The Icelandic String Octet
Produzentin: Björk
Veröffentlichung: Albumversion 23. September 1997, Singleauskopplung 8. Dezember 1997
Label: One Little Indian
Spieldauer: 05:18

Recordings

  • Björk. “Bachelorette”. On: Bachelorette, 1997, One Little Indian, 212TP7CD, UK (CD/Single).
  • Björk. “Bachelorette”. On: Bachelorette, 1997, One Little Indian, 212TP12P1, UK (Vinyl/Single).
  • Björk. “Bachelorette”. On: Bachelorette, 1997, One Little Indian, CDP 790, UK (CD/Promo).
  • Björk. “Bachelorette”. On: Bachelorette, 1997, One Little Indian, UK 212TP7C, UK (VHS/Single).
  • Björk. “Bachelorette (string version)”. On: Family Tree, 2002, Polydor, TPLP365CD, UK (CD).
  • Björk. “Bachelorette”. On: Greatest Hits, 2002, One Little Indian, TPLP359, UK (Vinyl).
  • Björk. “Bachelorette”. On: Surrounded, 2006, One Little Indian, TPLP730CDBOX, UK (CD).

References

  • Anonym: “Björk interviews Stockhausen”. In: Sonoloco.com, o.J. URL: http://www.sonoloco.com/rev/stockhausen/Bjork/bjorkfr.html [30.9.2016].
  • Anonym: “Entretien Björk & Karlheinz Stockhausen”. In: Bjork.fr, o.J. URL: https://www.bjork.fr/Dazed-Confused-no23 [30.09.2016].
  • Anonym: “Homogenic”. In: Björk.com, o.J. URL: https://bjork.com/home#/past/discography/homogenic [30.09.2016].
  • Anonym: “Interview Exclusive”. In: Bjork.fr, o.J. URL: https://www.bjork.fr/Record-Collector-276 [30.09.2016].
  • Anonym: “Björk – Bachelorette”. In: Dutchcharts.nl, o.J. URL: https://dutchcharts.nl/showitem.asp?interpret=Bj%F6rk&titel=Bachelorette&cat=s [30.09.2016].
  • Anonym: “Björk – Homogenic (Album)”. In: Australian-charts.com, o.J. URL: australian-charts.com – Björk – Homogenic (australian-charts.com) [30.09.2016].
  • Dibben, Nicola: Björk. Bloomington: Indiana University Press 2009.
  • Dierks, Sonja: Björk. Die Exzentrikerin im Hintergrund. In: Musik & Ästhetik 17 (2013), 66–78.
  • Dorner, Christoph: “Als die Geisha from outer space zur Kriegerin mutierte”. In: Laut.de, o.J. URL: https://www.laut.de/Bjoerk/Alben/Homogenic-86789 [30.09.2016].
  • Lücke, Martin: Björk. Avantgardistischer Pop oder poppige Avantgarde? In: Musik-Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen (= Bericht über den internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung 14). Ed. by Katrin Stöck und Gilbert Stöck. Leipzig: Schröder 2012, 477–486.

Links

Offizielle Künstler*innenhomepage: https://bjork.com/ [30.09.2016].

About the Author

Analysis written in a course of Prof. Dr. Martin Pfleiderer at the University of Music FRANZ LISZT Weimar.
All contributions by Nina Reinhardt

Citation

Nina Reinhardt: “Bachelorette (Björk)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://songlexikon.de/songs/bachelorette/, 06/2021.

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