1956
Little Richard

Long Tall Sally

LONG TALL SALLY ist ein Rock-’n’-Roll-Song des afroamerikanischen Sängers, Songwriters und Pianisten Little Richard, der zu einem Rock-’n’-Roll-Standard wurde.

 

I. Entstehungsgeschichte

Neben Little Richard (Richard Penniman, 1932–2020) sind für LONG TALL SALLY der Bandleader, Arrangeur und Produzent Robert „Bumps“ Blackwell (1918–1985) sowie Enortis Johnson als Mitautoren eingetragen, wobei Blackwells Autorenschaft umstritten ist. Es war in den 1950er Jahren im US-Musikgeschäft eine verbreitete Praxis, dass sich Leute mit Gatekeeper-Funktion, wie Radio-DJs, Label-Inhaber oder A&R-Manager, im Gegenzug als Mitautoren einsetzen ließen, um an den Tantiemen zu partizipieren. Blackwell war A&R-Manager der Plattenfirma Specialty Records, die den Song herausbrachte, und entschied in dieser Funktion über das zu veröffentlichende Repertoire. Zudem hatte er Little Richard schon im Vorfeld die Veröffentlichungsrechte an dem Song für eine Pauschale von 50 US-Dollar abgekauft und sie dann unter eigenem Namen an einen Musikverlag weiterverkauft (Brown 2016: 234).

Die Anregung zu LONG TALL SALLY soll Blackwell zufolge, der dies Richards Biograf Charles White zu Protokoll gab (White 2003: 60–63), von einem Mädchen ausgegangen sein, eben jener Enortis Johnson, die als Mitautorin ausgewiesen ist. Über einen populären Discjockey habe sie Little Richard einen Zettel mit Versen zukommen lassen, die er aufnehmen sollte, um Geld für die Behandlung der kranken Tante des Mädchens aufzutreiben. Obwohl Little Richard zunächst zögerte, ließ er sich von Blackwell davon überzeugen, dass es unklug sei, einem einflussreichen Discjockey einen Wunsch zu verweigern. Die Zeilen des Mädchens („Saw Uncle John with Long Tall Sally / They saw Aunt Mary comin’ / So they ducked back in the alley), finden sich in den fünf Strophen des Songs dann auch erkennbar wieder und dürften dem Mädchen Einnahmen beschert haben, die weit über die Behandlungskosten der Tante hinausgingen.

Die Aufnahme des Songs erfolgte am 10. Februar 1956 in dem J&M Recording Studio von Cosimo Matassa (1926–2014) in New Orleans, aus dem die Hits der meisten populären New-Orleans-Musiker hervorgegangen sind. Blackwell agierte als Bandleader und als Produzent des Songs. Da Little Richards erster Hit „Tutti Frutti“ in einer Cover-Version des weißen Pop-Stars Pat Boone (*1934) häufiger im Radio gespielt worden war als das Original, hatte Blackwell den Einfall, den Song in einem Tempo aufzunehmen, das es Musikern wie Pat Boone unmöglichen machen sollte, ihn zu covern. Das Kalkül ging zwar nicht auf, aber LONG TALL SALLY ist einer der schnellsten Rock-’n’-Roll-Songs geblieben, übertroffen nur von Jerry Lee Lewis „Whole Lotta Shakin Goin On“ (1964). Die Veröffentlichung erfolgte am 11. März 1956 mit „Slippin’ and Slidin’“ als B-Seite der Single auf dem in Los Angeles ansässigen Label Specialty Records. Die Aufnahme befindet sich auch auf Little Richards 1957 von Speciality Records herausgebrachtem Debüt-Album Here Is Little Richard.

 

II. Kontext

Das J&M Recording Studio, in dem LONG TALL SALLY entstand, steht für einen Ort, in dem die Grundlagen für den Rock ’n’ Roll gelegt wurden, lange bevor Elvis Presley zum ersten Mal vor einem Mikrofon stand. Little Richards LONG TALL SALLY erhielt hier eine spezielle Prägung, die erheblich zum Erfolg des Songs beigetragen hat. Eigentümer Cosimo Matassa hatte Anfang der 1940er Jahre nach einem abgebrochenen Chemie-Studium einen Plattenladen in New Orleans eröffnet, in dem er 1945 zusammen mit Joe Mancuso als Geschäftspartner ein winziges Aufnahmestudio einrichtete, das gerade mal 16 Quadratmeter maß. Es war sowohl als kommerzielles Studio als auch als Recording Service für jedermann gedacht, ähnlich den Sun Records von Sam Phillips in Memphis, Tennessee, das u.a. Elvis Presley hervorbringen sollte. Die mangelnde Größe mit den unvermeidbaren akustischen Einschränkungen zwang Matassa, der als Toningenieur die Aufnahmen in seinem Studio betreute, zu einem Aufnahmestil, der das Studio im Süden der USA weit über New Orleans hinaus bekannt machte. LONG TALL SALLY entstand kurz bevor Mattassa 1956 mit seinem Studio in einen anderen Gebäudekomplex in New Orleans umzog, der über bessere räumliche Voraussetzungen verfügte, ohne dass Matassa allerdings seinen Aufnahmestil deshalb wesentlich änderte.

Matassa nahm in seinem winzigen Studio gezwungenermaßen nur mit einem einzigen Mikrofon auf. Er verfügte zunächst auch nicht über ein Mischpult. Ohnehin war die Nutzung mehrerer Mikrofone in einem Raum dieser Größe mit kaum beherrschbaren Übersprecheffekten verbunden. Aufgenommen wurde stets in nur einem Take, selbst dann ohne jede Nachbearbeitung, als dies mit dem Aufkommen des Magnettonbands Ende der 1940er Jahre technisch möglich gewesen wäre. Den Aufnahmen bewahrte dieses Vorgehen einen Live-Charakter, der durch die Beschränkung auf ein einziges Mikrofon noch unterstützt wurde, da das dem Höreindruck unter Live-Bedingungen sehr nahekam. Die Aufnahme von LONG TALL SALLY wirkt ebenso rau und ungehobelt, wie es live geklungen haben muss. Matassas Kunst bestand in der Mikrofonpositionierung. Das Aufnahmemikrofon musste so platziert werden, dass der Direktschall von Sänger und Instrumenten und der mitgenommene Raumklang in einem ausgewogenen Verhältnis zueinanderstanden. So spielte der Saxofonist mit dem Rücken zum Mikrofon dem Schlagzeuger zugewandt, um die Vokalstimme klanglich nicht zu erdrücken. Bei Solopassagen erfolgte dann eine Drehung um 180 Grad, um direkt ins Mikrofon zu spielen. Die Aufnahmen, die dabei entstanden, zeichneten sich durch tiefenbetontes Schlagzeug und Bass als Fundament aus, während die Singstimme drastisch im Vordergrund steht. Piano und Bläser dagegen, da nur indirekt über den Raumklang aufgenommen, erhalten dabei eigentümliche Leichtigkeit.

Matassa blieb bei diesem Klangdesign, auch als er ab 1951 mit einer Mono-Bandmaschine und einem Vier-Kanal-Mischpult zu arbeiten begann. Das erlaubte die Aufnahme mit mehreren Mikrofonen und damit eine bessere Separierung der Klangquellen, ohne dass sein Klangkonzept verändert wurde. So blieb es dabei, dass das Saxofon von Matassa über das Schlagzeug-Mikrofon, also indirekt aufgenommen wurde, bis zur Drehung in Richtung Sänger für die Solopassagen. Einen erheblichen Anteil an Matassas „Cosimo Sound“ hatte eine um das Studio versammelte Crew exzellenter Sessionmusiker, zu denen der Tenorsaxofonist Lee Allen, der Baritonsaxofonist Alvin „Red“ Tyler, der Gitarrist Edgar Blanchard, der Kontrabassist Frank Fields und der Schlagzeuger Earl Palmer gehörten, die auch die Aufnahme von Richards LONG TALL SALLYbestritten.

Zwischen 1945 und 1956 gingen mehr als 250 Chart-Hits und 21 Goldene Schallplatten aus Matassas Studio hervor, darunter 1949 „The Fat Man“ von Fats Domino, der als erster Rock-’n’-Roll-Song gilt. Der Boogie beeinflusste den Stil, der für den frühen Rock ’n’ Roll aus New Orleans mit Fats Domino, Professor Longhair, Roy Brown, Lloyd Price oder Little Richard charakteristisch ist und der in Matassas Studio geprägt wurde. Allein Little Richard hatte, beginnend mit „Tutti Frutti“ (1955), bis 1958 neben LONG TALL SALLY 19 weitere Hits, die aus Matassas Studio kamen.

 

III. Analyse

LONG TALL SALLY ist ein typischer Rock-’n’-Roll-Song, der mit dem Aufbau AABA der Standard-Chorusform des Pop-Songs folgt. Der Schwerpunkt liegt auf dem Chorus mit dem Textrefrain, der mit acht Takten doppelt so lang ist wie die kurzen Strophen. Wie die meisten Rock-’n’-Roll-Songs kombiniert auch dieser die Chorusform mit der Bluesform. Der zwölftaktige Teil A ist eine Bluesvariante und besteht aus dem viertaktigen Verse mit der Strophe und dem achttaktigen Refrain mit dem Chorus (8+4). Die Bridge (B) ist als ein 24-taktiges Saxofonsolo angelegt. Die einfache Stufenmelodik mit ihren gehäuften Tonwiederholungen und einer Harmonik, die sich im Wesentlichen zwischen den Grundakkorden der authentischen Kadenz Tonika – Subdominante – Dominante – Tonika bewegt, hier F-Dur, B-Dur und C-Dur mit hinzugefügter Septime als Septakkord, wobei der Wechsel zwischen Tonika und Dominante vorherrscht, ist ebenfalls ein Charakteristikum des Rock ’n’ Roll. In den instrumentalen Begleitstimmen dominiert Little Richard mit seinem Boogie-Piano und der hierfür typischen Spielweise von im Achtelrhythmus gehämmerten offenen Quinten und Sexten in der linken Hand, gespielt in dem ungewöhnlich schnellen Tempo von 185 bpm.

Seine Besonderheit bezieht der Song aus dem exaltierten und rasanten Gesangsstil von Little Richard und aus dem Klangdesign von Toningenieur Cosimo Matassa. Mit seinem schrillen Vokalsound und den tiefenbetonten Begleitstimmen ist er ein Musterbeispiel des „Cosimo Sound“. Hinzu kommt Little Richard androgynes Image, das auch einem Songtext wie LONG TALL SALLY eine Lesart nahelegt, die von den Gender-Stereotypen der 1950er Jahre deutlich abweicht. Der Song spielt auf mehreren Ebenen mit Gender und Sex, deren ambivalente Bedeutungen sich aus dem Kontext der afroamerikanischen Kultur speisen. „Uncle John“, von dem im Text die Rede ist, repräsentiert seit Generationen den gutmütigen, aber gewitzten Schwarzen, der die Autoritäten austrickst und sich als Stereotyp in unzähligen Erzählungen und Songs der Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner seit der Sklaverei findet. Im Song unterläuft er die herrschende Moral, denn er will Spaß haben („… havin’ me some fun tonight“). Tante Mary, die gestrenge Ehefrau, der er begegnet und vor der er sich in Sicherheit bringt („He saw aunt Mary coming and he ducked back in the alley …“) ist ebenfalls ein weit verbreitetes Stereotyp, im afroamerikanischen Gay-Slang zugleich aber auch ein Ausdruck für eine besitzergreifende Drag Queen. Damit wird das scheinbar eindeutige Bild, Onkel John will zu „long tall Sally“, einer Prostituierten, die alles hat, was er braucht („… she’s built for speed / She’s got everything that uncle John need“), in einen völlig anderen, nämlich den Gay-Kontext gerückt. Und auch Sally ist in dem kurzen Text nicht so eindeutig gezeichnet, wie die erste Strophe vermuten lässt, heißt es doch in der zweiten Strophe, „Well, I saw uncle John with bald headed Sally“. Der Glatzkopf aber macht aus der flotten Prostituierten einen Transvestiten, denn er besitzt in der afroamerikanischen Gay-Kultur eine phallische Bedeutung. Entscheidend aber ist die Ambivalenz der Bilder, denn sie repräsentieren für jeden das, was er repräsentiert sehen möchte, und so stehen im Umfeld des prüden 50er-Jahre-Amerikas einem eigentlich skandalösen Song dann eben doch alle Medienkanäle und damit der Weg zum Erfolg offen.

 

IV. Rezeption

LONG TALL SALLY erreichte unmittelbar nach dem Erscheinen Platz eins der Billboard Rhythm & Blues-Charts, in denen er sich 19 Wochen hielt. In den US-Pop-Charts, den Billboard Hot 100, schaffte er es auf Platz sechs; in den britischen Single-Charts, in denen sich der Song 16 Wochen hielt, auf Platz drei. Das war für einen Schwarzen Musiker ein außergewöhnlicher Erfolg, der dazu beitrug, dass der Song zum Inbegriff des Rock ’n’ Roll werden konnte und unzählige Mal gecovert wurde. Zwar ist es damals gängige Praxis gewesen, dass die Musikverlage, in diesem Fall Venice Music Inc., die Songs zur wirtschaftlichen Verwertung möglichst vielen Plattenfirmen, häufig auch parallel, auf Leasing-Basis überließen. Eine große Zahl von Cover-Versionen war deshalb in den 1950er Jahren an sich nichts Ungewöhnliches. In diesem Fall überstiegen sie aber das branchenübliche Maß, zumal sich noch im Erscheinungsjahr Elvis Presley des Songs annahm, was erheblich zu seiner Verbreitung beitrug. Die neben dem Original bekannteste Version stammt jedoch von den Beatles, die am 19. Juni 1964 auf ihrer neunten EP erschien und sich bis zum Ende ihrer Karriere in ihrem Live-Repertoire befand. Paul McCartney hat den Song 1987 sogar noch einmal in einer Live-Version veröffentlicht. Eigene Versionen des Songs haben u.a. die britische Beatgruppe The Kinks, der amerikanische Rockabilly-Star Eddy Cochran und die deutsche Hardrock-Band Scorpions veröffentlicht. 1974 erschien in Österreich unter dem Titel „Baby, Spaß muß sein“ eine eingedeutschte Version mit der deutschen Schlagersängerin Maggie Mae.

 

PETER WICKE


Credits

Vocals, Piano: Little Richard
Tenor saxophone: Lee Allen
Bariton saxophone: Alvin „Red“ Tyler
Guitar: Edgar Blanchard
Bass: Frank Fields
Drums: Earl Palmer

Producer: Robert „Bumps“ Blackwell
Recording: Cosimo Matassa
Label: Specialty Records
Published: 1956
Length: 2:07

Recordings

  • Little Richard. „Long Tall Sally/Slippin’ and Slidin’“, 1956, Specialty, SP-572-45, USA (7’’/Single).

Covers

  • Elvis Presley. „Long Tall Sally“. On: Strictly Elvis, 1956, RCA Victor, EPA-994, USA (7’’/EP).
  • The Beatles. „Long Tall Sally“. On: Long Tall Sally, 1964, Parlophone, GEP 8913, GB (7’’/EP).
  • Eddy Cochran. „Long Tall Sally“. On: Never to Be Forgotten, 1962, Liberty, LRP 3220, USA (LP/Album).
  • The Kinks. „Long Tall Sally/I Took My Baby Home“, 1964, Pye Records, 7N.15611, GB (7’’/Single).
  • Maggie Mae. „Baby, Spaß muß sein (Long Tall Sally)/Mister Charleston“, 1974, M Music, ‎13 696, Austria (7’’/Single).
  • „Long Tall Sally“. On: Tokyo Tapes, 1978, RCA, CL 28331, Germany (2xLP/Album).
  • Paul McCartney. „Long Tall Sally/I Saw Her Standing There“, 1987, A&M Records, FREE 21, GB (7’’/Single).

References

  • White, Charles: The Life and Times of Little Richard. The Authorised Biography. London: Omnibus Press 2003.
  • Brown, John: Rhythm and Blues in New Orleans. Third edition. Gretna, Louisiana: Pelican 2016.

Links

  • Little Richard – Long Tall Sally. URL: https://www.youtube.com/watch?v=eFFgbc5Vcbw [03.01.2018].

About the Author

Peter Wicke is a musicologist and professor emeritus at the Humboldt University of Berlin.
All contributions by Peter Wicke

Citation

Peter Wicke: „Long Tall Sally (Little Richard)“. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, https://www.songlexikon.de/songs/long-tall-sally, 04/2025.

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